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87. Du bist ein Granitbeißer
Ich bin nicht der einzige, der sich wegen der Granitbeißerin Sorgen macht. Jeffrey Garner hat die Hundswache, und deshalb ist er der erste, der beim Alten vorstellig wird. Er will nicht alleine auf Chranchrar aufpassen, wenn weitere Leute wach bleiben sollen, um sie zu bewachen, gibt's einen Aufstand, und Fesseln und Knebeln erscheint auch irgendwie nicht angebracht. Außerdem ist es irgendwie kindisch. Wie in schlechten Abenteuerromanen.
Ich werde in die Zentrale gerufen, um mich genau zu diesem Problem zu äußern. Auf dem Wege dahin fällt mir auf, daß wir mit Garner jetzt wieder in den richtigen Wachalgorithmus hineinkommen werden - diesmal sind wir auf der Seite der Wissenschaftlichen ja entgegen der Kabinenzählung vorgegangen.
"Was meinen Sie? Kann man eine Granitbeißerin erfolgreich fesseln?" fragt Wellington mich.
"Man kann jeden erfolgreich fesseln. Aber das erspart wenig Arbeit. Wer füttert sie? Wo scheißt und pisst sie hin? Was, wenn sie durch zu feste Fesselung Schaden nimmt?"
"Wir haben keinen Raum ..." fängt Wellington an, aber ich fahre fort: "Doch, wir haben. Draußen, außerhalb des Bootes. Wir tauchen kurz auf und lassen sie frei. Sie kann an Land schwimmen, ohne Schwierigkeiten."
"Und jedem von diesem Boot erzählen!"
"Na und? Ist das so schlimm? Wenn wir uns weiterhin bedeckt halten, wird man ihr nicht unbedingt glauben. Oder nicht lange glauben. Wir werden eine Legende werden. Sie hat doch keinerlei Beweise!"
"Eigentlich hat er recht," sagt Amerlingen, "es kann uns nicht schaden. Und sie nützt uns nichts, überhaupt nichts."
"Wo ist denn Serpinski?" fragt der Alte.
"Draußen, im Niedergang. Er hält sie fest."
"Gut." nickt Wellington, "Suchen Sie eine möglichst freie Wasserfläche. Weit weg von anderen Schiffen. Damit es nicht noch mehr Augenzeugen gibt."
Die CHARMION fängt wieder an, sich zu bewegen. In einer Tiefe von einigen hundert Metern können wir uns ungesehen beliebig im Meer um Grom herum bewegen. Das hat auch den Vorteil, daß wir dabei automatisch die gesamte Küstentopographie erfassen. Es dauert nicht lange, und wir wissen von jedem Schiff um Grom herum, wo es ist und in welcher Richtung es sich bewegt. Damit sind auch bereits die 'Benutzungsprofile' der verschiedenen Wasserstraßen, die von hier abgehen, angelegt. Bald werden wir ganz genau wissen, welche Schlucht wie oft befahren wird.
Dabei stellen wir auch fest, daß sich in der Tat zwei Schiffe am Eingang der westlichsten Schlucht aufhalten - jenem Ort also, wo wir fast von dem fallenden Felsen getroffen wurden.
"Na, denn sucht mal schön." knurrt Fahlenbeek, der die Manöver steuert.
Im Süden von Grom sind kaum Schiffe. Das wissen wir nach einer Umrundung der Insel. Außerdem wissen wir auch, daß das Meer stellenweise wieder unortbar tief ist, wie wir es in der Welthöhle schon öfter gesehen haben.
"Sir, da ist eine Bucht. Ufer unbegehbar. Schirmt ein bißchen ab. Sollen wir?" Wellington nickt, und Fahlenbeek bringt das Boot herum. Die Tiefe veringert sich.
Ich gehe in den zentralen Niedergang, wo ich der Granitbeißerin erklären soll, was wir von ihr erwarten. Sie hockt auf dem Boden, und Eugen hockt ihr gegenüber, an der anderen Wand. "Macht sie Schwierigkeiten?" frage ich ihn.
"Nein. Meistens starrt sie auf den SISC."
"Dann weiß sie wohl, daß wir irgendwie in der Nähe von Grom sind?"
"Natürlich. Sie muß auch gewußt haben, daß wir in Gefahr waren, bevor der Felsen auf uns heruntergefallen ist."
"Schon möglich." sage ich, "Hast du sie dazu näher befragt?"
"Nein. Sollte ich das?"
"Nein. Ist wohl auch nicht nötig. Wellington will sie jetzt rauslassen."
"Jetzt gleich?"
"Ja."
"Gottseidank!"
Ich wende mich in Xonchen an die Granitbeißerin: "Fühlst du dich gut?"
Sie blickt auf und nickt.
"Kannst du schwimmen?"
"Ja."
"Du wirst jetzt nach Grom schwimmen. Kannst du das?"
"Ja." Sie scheint sich nicht einmal zu wundern. Und wenn sie das so rasch bejaht, dann ist das da draußen wirklich Grom. Damit wären unsere Zweifel gegenstandslos.
Aldingborg und Dauphin kommen zu uns. Die Beleuchtung nimmt ab: Wenn wir die Luke bei voller Innenbeleuchtung aufmachten, dann würden wir ein kilometerweit sichtbares Lichtsignal setzen.
"Hat dir das Licht wehgetan?" frage ich. Erst jetzt kümmern wir uns darum, fällt mir auf.
"Ich kann die Augen schließen." sagt sie.
"Steh auf."
Als sie ein paar Sekunden später vor mir steht, erinnert sie mich aus der Nähe etwas an Chreich. Die Chreich, die ihr Ende in unserer Welt gefunden hat, in einem unserer Gletscher.
"Du schwimmst zu deinen Leuten und erzählst ihnen nichts von uns!" sage ich. Ich weiß, daß sie dieses Versprechen nicht halten kann. Aber ich will mal sehen, wie sie lügt.
"Ich muß Ihnen erzählen!" sagt sie.
"Dann müßten wir dich hierbehalten!"
"Das könnt ihr tun."
"Wird man dir glauben, was du erzählst?"
"Ich weiß es nicht."
Mich durchschwappt eine rudimentäre Sympathiewelle. Soviel Ehrlichkeit hier, soviel Grausamkeit da. Was ist das bloß für ein Volk? Und müßte ich es nicht wissen? Ich habe doch eine von Ihnen geliebt!
"Kennst du den Namen 'Charmion'?" frage ich sie aus einer plötzlichen Eingebung heraus.
"Natürlich."
"Wieso natürlich?"
"Die Geschichte von Casabones kennt doch jeder."
"Die 'Geschichte von Casabones'? - Aber es hat doch damals niemand überlebt!" Ich denke fieberhaft nach. Meint sie eine andere Geschichte? Eine andere Charmion?
Plötzlich, als ob sie beginnt, etwas zu verstehen, sieht Chranchrar mich genauer an: "Du warst es?"
"Wer war ich?"
"Charmion's Gefährte!"
"Das weißt du? - Dann weißt du auch ..."
"Was?"
"Das Kreuz. Sie haben sie ans ... Ich habe nichts dagegen getan."
"Das konntest du nicht."
"Doch. Ich konnte es. Aber ich war feig."
"Nein." sagt Chranchrar.
"Woher weißt du das überhaupt alles?"
"Es wird erzählt. - Ein alter Mann. Ich weiß nicht. Er wurde gesehen, er erzählte. Dann verschwand er."
"Ein alter Mann?"
"Ja. 'Oom' hieß er. Niemand weiß etwas über ihn. Er ist überall und nirgends."
"Und der hat euch erzählt?"
"Der auch. Es gab andere, die dabei waren."
Irgendwie fasse ich es nicht. Ist nach uns noch weiteren Gefangenen die Flucht von Casabones gelungen? Und wie? Auch mit den Gleitschirmen? Ich muß Chranchrar noch weiter befragen.
"Fertigmachen zum Lukenöffnen!" höre ich die Rundsprechanlage.
"Du bist also 'Chrerwig'." stellt Chranchrar schließlich fest.
"Ich glaube, ja. So hat sie mich genannt." antworte ich.
"Dann bist du einer von uns."
"Einer von euch? Wie kann ein Mann einer von euch sein? Für Euch sind Männer doch Tiere!"
"Vielleicht denken wir nicht alle gleich!" sagt Chranchrar, "Du bist ein Granitbeißer!"
"Luke öffnet sich." sagt Fahlenbeek's Stimme über die Rundsprechanlage.
"Du mußt nun gehen," sage ich, "ich würde noch gerne noch einige Fragen stellen, aber - es geht nicht."
Chranchrar greift in die Sprossen des Aufganges. Dann wendet sie mit ihren Kopf wieder zu: "Wir werden uns wiedersehen. Du bist ein Granitbeißer." Dann entert sie gewandt auf.
Nur eine halbe Minute später stehen wir an Deck, Eugen, David, Mark und ich. Wir sehen Chranchrar nach, die mit kräftigen und gleichmäßigen Stößen ins Meer hinausschwimmt, genau auf Grom zu.
"Ich habe nicht alles verstanden. Was hat sie damit gemeint: 'Du bist ein Granitbeißer'?" fragt Eugen.
"Sie hat mich erkannt." sage ich.
"Erkannt?"
"Unsere Geschichte damals, was wir erlebt haben - es hat sich doch irgendwie rumgesprochen. Merkwürdig. Ich habe gedacht, alle Beteiligten sind tot."
"Und jetzt?"
Ich sehe ihn an: "Du hast doch gehört: Ich bin ein Granitbeißer."
David Aldingborg grinst schief: "Eine ganze Menge Leute auf dem Schiff haben noch nie daran gezweifelt!"
"Gehen wir nach unten!" antworte ich.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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