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86. Die Stadtträgerinnen

Die CHARMION ist so schnell von der Wasseroberfläche weg wie es ihr technisch möglich ist. Niemand braucht 'Festhalten' zu rufen - jeder weiß, daß das jetzt angebracht ist. Deshalb stürzt auch niemand, als das Deck sich immer steiler nach vorne neigt. Gleichzeitig weicht das Boot nach rechts aus, wie ein Weltkriegs-U-Boot, das im Tauchen ein Wendemanöver einleitet, um einem Wasserbombenangriff eines Flugzeuges zu entgehen. So weit hergeholt ist der Vergleich nicht.

Verschiedene graphische Darstellungen lösen einander auf dem SISC ab. Sie machen rasch deutlich, was passiert und was gerade passiert ist: Irgendwo, schon recht tief unter uns, stürzt immer noch ein großer Felsbrocken in die Tiefe. Sechs bis acht Meter Durchmesser, sich ständig überschlagend und auch unter Wasser immer noch sehr schnell fallend. Masse wahrscheinlich bei tausend Tonnen.

"Wenn der uns getroffen hätte - hätte das Boot das überstanden?" fragt Gabi mit einem ängstlichen Vibrato in der Stimme.

"Das Boot ja. Aber wir nicht." sage ich.

"Woher willst du das denn so schnell wissen?" fragt Edwin.

"Simple Physik. Der Felsen ist annähernd so schwer wie das Boot. Seht euch die Werte an - 160 Meter pro Sekunde, was einer Fallhöhe von 1280 Metern entspricht. Halbe Schallgeschwindigkeit! Das Boot hätte bei einer Kollision in einem Bruchteil einer Sekunde wenigstens die Hälfte dieser Geschwindigkeit angenommen. - Wir hätten uns alle das Genick gebrochen!"

"Ob noch einer kommt?" fragt Gabi.

"Kaum." sage ich.

"Wieso 'Kaum'? Woher willst du das wieder wissen?" fragt Edwin. Ich stelle fest, daß er blaß ist - sehr blaß. Der Schreck ist ihm in die Glieder gefahren, und wenn er sich nicht wie wir alle festhalten müßte, würde er vielleicht ohnmächtig werden. Verdenken kann ich es ihm nicht.

"Denk doch mal nach! Einen Felsen von tausend Tonnen schiebt man nicht so eben mal über eine Kante. Da muß wieder so eine Art von Wächterfestung gewesen sein. Und die haben uns kommen sehen - lange vorher. Und sie haben erkannt, daß es sich bei unserem Boot um etwas Ungewöhnliches handelt. Kein Tier und kein Schiff. Und dieses Ungewöhnliche nähert sich ihrer Hauptstadt! Da haben sie etwas unternommen, was sie wahrscheinlich extrem selten unternehmen. - Man kann ja nicht jeden Tag wegen irgendwelcher Kleinigkeiten solche Felsen zum Einsturz bringen."

"Das heißt - wir sind entdeckt!" sagt Solzbach.

"Da kannst du Gift drauf nehmen. - Es sei denn, der Felsen hat sich gerade zufällig irgendwo gelöst."

"Nein." sagt Gerald bestimmt, erläutert das aber nicht näher.

"Woher willst du die Fallhöhe wissen?" fragt Edwin.

"Auch simple Physik! Da - die 160 Meter pro Sekunde konnte man hier ablesen. Das heißt, das Ding hat 16 Sekunden lang beschleunigt. Dann rechnest du einfach halbe Beschleunigung mal Quadrat der Beschleunigungszeit - das ist eigentlich Schulstoff!"

"Jaja." sagt Edwin, aber ich führe die Rechnung natürlich zu Ende: "5 Meter pro Quadratsekunde mal 16 mal 16 Meter mal Meter. Macht 1280 Meter. - Oder habe ich mich verrechnet?"

Niemand protestiert. Im Prinzip müßte man den Luftwiderstand mit berechnen, was die ganze Rechnung sehr viel komplizierter machen würde. Allerdings dürfte das bei einem Felsen dieser Masse das Ergebnis kaum beeinflussen, selbst bei der hohen Luftdichte in der Welthöhle. Das scheinen die anderen auch so zu sehen - falls einer auf diesen Einwand gekommen ist.

Nachdem wir aber inzwischen eine sichere Tiefe erreicht haben, hält sich die Aufregung in Grenzen. Selbst wenn die Granitbeißerinnen die Möglichkeit haben, an verschiedenen, ausgewählten Stellen große Felsen zu lösen und herunterfallen zu lassen - wer sich wie wir unter Wasser bewegen kann, den können sie nicht sehen. Wir dürften jetzt wieder ziemlich sicher sein - so sicher, wie es vorhin leichtsinnig war, diese Schlucht entlang zu fahren, ohne sich darüber informiert zu halten, was über unseren Köpfen geschieht. Daß wahrscheinlich die Abwurfstelle aus irgendeinem Grunde von unten sehr schwer erkennbar war, ist keine Entschuldigung - Chranchrar hatte uns im Prinzip ja gewarnt. Wir hätten in unmittelbarer Nähe von Grom nicht einfach längere Zeit an der Wasseroberfläche fahren dürfen.

"Sie müssen uns doch wahrscheinlich für eine Art Tier gehalten haben!" sagt Edwin, "Hätte da nicht ein kleinerer Felsen ausgereicht?"

"Vielleicht hatten sie keinen kleineren zur Hand? - Außerdem haben sie vielleicht damit gerechnet, daß sie nicht direkt treffen. Dann aber würde die Druckwelle eines Felsens, der mit dieser Geschwindigkeit in das Wasser eintaucht, jedem Tier in der Schlucht rundherum die Lunge zerreißen. Und ein fremdes Schiff wie zum Beispiel ein Saurierfänger würde ebenfalls zerstört werden, ohne daß ein direkter Treffer notwendig wäre. - Glaube ich."

"Herwig hat auf alles eine Antwort!" sagt Cohäuszchen.

"Erzähl uns eine andere, plausible Hypothese!" sage ich, "Ich lerne gerne dazu!"

"Wenn es so ist, wie du sagtst, dann müßten sie jetzt am Einschlagsort nachsehen!"

"Ich bin ja schon dabei!" sagt Gerald, "aber die werden eine Weile brauchen, bis sie mit ihren Schiffen an der Stelle angekommen sind. Außerdem hat der Alte dieses Boot schon recht weit weggeführt, ich komme mit der Ortung vielleicht nicht ganz hin."

"Sicherheit zuerst." sage ich. Inzwischen liegt das Boot fast schon wieder auf ebenem Kiel.

Edwin bringt die Aufnahmen auf einen Bildschirm, die wir kurz vor dem Einschlag gesehen haben. "Schaut euch das an!" sagt er, "Das sind die größten Statuen, die es auf der ganzen Welt gibt!"

Er hat recht. Wir kommen jetzt dazu, sie uns in Ruhe anzusehen.

Zwei unbekleidete Frauen. Etwa dreitausendmal größer als in Wirklichkeit. Sie hocken mit dem Rücken aneinander. Füße in Meereshöhe, Knie weit auseinander, Möse zwischen den Fersen. Arsch raus, Rücken durchgebogen, Kopf in den Nacken gelegt, Brust raus. Brüste füllig - nicht wie bei einer Granitbeißerin - und bei der Größe dieser Figuren bilden allein die Brüste ein rundes, hängendes Gebirge aus Stein, jede mit einem Durchmesser von etwa einem halben Kilometer. All das unbeschädigt und naturgetreu.

Arme hoch und zur Seite, Hände neben oder leicht hinter dem Nacken. Auf diesen vier Händen scheint Grom zu ruhen - natürlich nicht in Wirklichkeit, denn das, was diese beiden Statuen tragen, ist mit derem Rücken verwachsen und reicht zwischen den Pobacken der beiden Frauen bis auf Meereshöhe hinunter. Was es ist, was sie tragen, können wir schon schlechter erkennen - am ehesten scheint es sich um ein Riesentier zu handeln - wahrscheinlich ebenfalls 3000 mal größer als in Wirklichkeit - das gebogen über den Rücken der beiden Statuen liegt. Ein großer Fisch, oder ein Fischsaurier, aber da können wir uns noch nicht festlegen.

Auf der Oberfläche dieses Tieres sind zahllose Gebäude - das ist Grom. Die Stadt, die von zwei Frauen getragen wird. Jetzt verstehen wir es.

"Das haben die Granitbeißerinnen nie und nimmer gebaut!" sage ich.

"Wer denn?" fragt Cohäuszchen.

"Ich weiß es nicht."

"Die Erbauer der Toten Städte?"

"Ich weiß es nicht." wiederhole ich, "Ich glaube nicht, aber ich weiß es nicht. Bis jetzt bin ich davon ausgegangen, daß die Erbauer der Toten Städte nicht humanoid waren. Aber das kann natürlich auch ein Irrtum sein! - Jedenfalls - diese Statuen stellen keine Granitbeißerinnen dar!"

"Wen denn?"

"Woher soll ich das denn wissen? Wissen wir überhaupt, wie weit die Geschichte der Welthöhle zurückgeht? Gar nichts wissen wir!"

Die beiden Statuen stehen so, daß die eine in Richtung Nordwest, die andere in Richtung Südost schaut. Da wir diesen Teil der Welthöhle von Westen her erreicht haben, ist die nordöstliche Statue uns mehr zugewandt, und wir können ihre Gesichtszüge erkennen. Sie scheinen unbeschädigt, und obwohl die Köpfe einen Durchmesser von etwa 600 Metern haben, sind sie nicht bebaut worden, obwohl in der Stadt selbst jeder Quadratmeter ausgenutzt wurde, selbst dort, wo das Tier bereits in steilste Felswände übergeht.

Die Gesichtszüge erscheinen mir negroid, aber da kann ich mich irren. Auch die wulstigen Lippen müssen kein Hinweis in dieser Richtung sein. Schließlich wissen wir ja auch gar nicht, ob die unbekannten Bildhauer auf maximale Wirklichkeitstreue aus waren, oder ob sie versucht haben, mehr ihr Schönheitsideal in Stein zu formen. Auf jeden Fall sind sie, wie auch die Körper, wohlproportioniert und anatomisch korrekt. Welch ein gewaltiger, koordinierter Aufwand muß das gewesen sein, diese Statuen zu erstellen! Die Pyramiden zu bauen war dagegen ein Klacks.

Cohäuszchen denkt im Moment dasselbe: "Da müssen Generationen dran gebaut haben!"

"Vielleicht aus religiösen Gründen?" fragt Edwin.

"Kann natürlich auch sein," sage ich, "daß einfach schon ein geeignet geformter Felsen da war - so ähnlich wie Casabones. Dieser hier ist ja fast genauso groß. - Wir werden es nie erfahren."

"Vielleicht doch," sagt Gerald, "sie müssen ja ihren Abraum irgendwo gelassen haben. Und das können viele Milliarden Tonnen sein! - Die müßten sich finden lassen. Irgendwo."

Ich denke nach. Nur mal eine größenordnungsmäßige Abschätzung. Angenommen, es wurde tausend Jahre lang gebaut - dreißig Generationen. Wenn eine Milliarde Tonnen Fels abgeschlagen werden mußten, dann ist das jedes Jahr eine Million Tonnen. In jeder Minute zwei Tonnen. Alle zehn Minuten ein großer LKW voll. Eine solche Materialbewegung ohne technische Hilfsmittel erfordert einen Einsatz von einigen hundert Arbeitern - wenigstens. Und das rund um die Uhr, eintausend Jahre lang! Und wenn man sich überlegt, daß die ursprüngliche Form dieses Berges diesen Statuen vielleicht nicht sehr entgegengekommen ist, dann sind es nicht eine Milliarde Tonnen, sondern vielleicht zehnmal soviel.

Es ist eigentlich leicht zu sehen, daß ein solches Unternehmen die Wirtschaftskraft und Arbeitsfähigkeit einer Kommune von bloß einigen tausend Einwohnern weit überfordert - es sei denn, diese lassen sich nicht nur tausend Jahre lang Zeit, sondern sehr viel länger.

Wo gibt es denn in unserer eigenen Geschichte Beispiele, wo ein Projekt über Jahrtausende hinweg konsistent und ohne Änderungen verfolgt wurde? Mir fällt dazu nichts ein.

"Seht euch mal die Stadt selber an!" sagt Cohäuszchen, "Hast du nicht mal gesagt, daß Grom nur einige tausend Einwohner haben soll?"

"Ich kann mich geirrt haben - bei deren komischen Fünfersystem. Aber ich glaube, das wurde mir erzählt."

"Da könnten aber mehr Menschen leben!"

"Könnten - tun sie es? Erstens siehst du die Stadt auf diesem Bild nur in perspektivischer Verzerrung, und zweitens sehen wir nur Gebäude."

"Da müßte man genauer hinsehen. Aber die Schiffe rundherum sind dir ja wohl nicht entgangen, oder?"

Wir zählen sie rasch durch. Es sind 22 Schiffe, davon acht Großsegelflöße. Dabei stellen wir weitere Einzelheiten fest.

"Herwig," fällt Edwin etwas ein, "du hast in deinem Buch aber etwas anderes erwähnt. 'Stadt der Funken', oder so ähnlich hieß es da. Das paßt hier aber nicht."

"Das weiß ich." sage ich, "Ich habe ja nur weitergegeben, was mir berichtet wurde."

Gerald's Finger huschen über seine Tastatur: "Das haben wir gleich!" sagt er. Kurz darauf zitiert er aus meinem Buch:


        "Grom?" frage ich.

        "Die Stadt Grom."

        "Ich denke, wir fahren nach ... ich weiß nicht,
        aber ich glaube, mir wurde ein anderer Name
        genannt." überlege ich, während ich das Fleisch
        drehe. Der Koch ist über die Gelegenheit zu
        einem Schwätzchen sichtlich erfreut, im Moment
        steht er mit verschränkten Unterarmen da,
        während nur ich arbeite. Daß ihm jemand
        freiwillig hilft, und sei es auch nur für einen
        kurzen Moment, das hat er noch nie erlebt,
        glaube ich.

        "Grom hat viele Namen. Ich kennen nicht alle.
        Sie heißt auch 'Stadt der Funken', und sie hat
        fast fünf mal fünf mal fünf mal fünf mal fünf
        Einwohner. Die größte Stadt der Welt."

        So, denke ich, fünf hoch fünf. Das sind 3125.
        Da ist Aying bei München größer.

        "Wieso 'Stadt der Funken'?" frage ich.

        "Grom liegt teilweise auf einem Berg, der aus
        Kristallen aufgebaut ist. Wenn man von See her
        ein starkes Licht erzeugt, etwa mit einem
        großen Feuer, dann sieht der Felsen, auf dem
        Grom liegt, wie eine Kaskade von Funken aus,
        besonders, wenn es wegen schlechten Wetters
        dunkel ist."

        Ich hoffe, ich habe das richtig verstanden.
        Worte für 'Kristall' und 'Kaskade' haben wir
        im Sprachunterricht noch nicht gehabt.

"Paßt überhaupt nicht." sagt er.

"Ich weiß. Ich kann nichts dafür. Entweder, dieser Koch hat mir damals etwas Falsches erzählt, oder dies ist nicht Grom. Wir werden die Granitbeißerin noch einmal darüber befragen."

"Vielleicht gibt's auch zwei Grom!" schlägt Cohäuszchen vor.

"Eine Spekulation ist so gut wie die andere. Darüber können wir jetzt ewig schwatzen." erwidert Gerald, "Ich sehe mal rasch nach, ob noch irgendeine andere, konkrete Aussage in Herwig's Buch ist."

"Du wirst mein ganzes Alibi zerstören!" sage ich, "Zum Schluß kommt raus, daß ich nie in der Welthöhle gewesen bin!"

"Dann bist du einer der besten Hellseher, die es je gegeben hat. Die Welthöhle gibt es ja schließlich wirklich!"

"Trotzdem schlimm," sage ich, "Wenn man dauernd mit dem konfrontiert wird, was man selbst einmal gesagt hat. Das ist 'Der Segen der Technik'." Gerald grinst, und ich richte meine Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm.

Die Füße der Statuen reichen nicht genau bis auf Meereshöhe herunter. Der ganze Komplex Grom steht auf einer kleinen, felsigen Insel. Diese ist mit wenig Vegetation und einigen niedrigen Gebäuden bestanden, und rund um die Insel herum sind Hafenanlagen. Dort liegen weitere Schiffe - in der Tat so viele, daß von der eigentlichen Insel kaum etwas zu sehen ist. Aber diese Insel, die Gebäude und die Schiffe fallen unter der wuchtigen Masse der Stadtträgerinnen darüber auf den ersten Blick nicht auf.

"Also ich würde sagen," nimmt Cohäuszchen das Bevölkerungsanzahl-Thema wieder auf, "daß es mindestens einige zehntausend Menschen sein müssen, die hier leben!"

"Oder mehr," sagt Gerald, "wir gehen immer noch davon aus, daß dieses alles massiver Fels ist. Es kann weitgehend ausgehöhlt worden sein."

"Und wofür braucht man Kubikkilometer von lichtlosen Höhlenraum?" frage ich. Unfaire Frage. Gerald kann es genauso wenig wissen wie ich selbst.

Wie sehr stehen wir noch am Anfang der Erforschung der Welthöhle!

"Nehmen wir mal an, daß du recht hast, Günther!" sagt Gerald.

"Sicher habe ich recht! - Womit?"

"Daß wir es hier mit einer sehr viel zahlreicheren Bevölkerung zu tun haben, als wir es zuerst dachten. Dann denk doch mal an unsere Städte! Städte von einigen zehntausend oder gar hunderttausend Einwohnern - mehr passen da nicht hin - haben Vororte. Umland. Umland, das dichter besiedelt ist."

"Das muß hier nicht der Fall sein!" sage ich, "Das Umland bringt keine Siedlungsvorteile!"

"Die Nähe zu Grom allemal! Sehen wir uns doch mal die Aufnahmen daraufhin an!"

Wir haben in den wenigen Sekunden, in denen wir in Sichtweite von Grom noch an der Wasseroberfläche waren, nicht sehr viel sehen können. Wenn wir die verfügbaren Aufnahmen und die Aufzeichnungen der Radarortungen durchgehen, dann kommen wir zu folgendem Bild:

Grom liegt in einem weiten Raum, der sehr unregelmäßig ist. Durchmesser zwischen zehn und sechszehn Kilometern. Wände meistens senkrecht oder überhängend, überall unregelmäßig, und in diesen Raum münden viele Schluchten ein, wie die, aus der wir gekommen sind. Einen ausgedehnten Uferstreifen, den man ohne Kletterkunststücke begehen kann, gibt es nirgends. Aber die vielen Winkel, Spalten, Simse, Brüche und Verwerfungen machen diese Region unübersichtlich - tatsächlich wäre durchaus noch Platz für weitere Ansiedlungen, die wir bloß nicht sehen können.

Die Höhlendecke der Welthöhle ist, der Radarortung nach, hier überall dicht über der Leuchtenden Wolkendecke. Sie ist sehr unregelmäßig, was meiner Meinung nach der Stabilität eines solchen Riesenraumes nicht sehr förderlich ist. Trotz vereinzelten Bewuchses sieht die ganze Region - und auch Grom selbst - abweisend aus. Allerdings ist auch die Beobachtung richtig, die Cohäuszchen jetzt äußert:

"Schwer zu belagern - in diesen Schluchten kann man überall Festungen bauen und Felsen auf Schiffe fallen lassen. - So, wie es uns ja wohl auch passiert ist."

"Mmh." meldet Edwin sich zu Wort, "Wenn das richtig ist, können wir uns hier dann ja wieder ungefährdet bewegen - jedenfalls mit dem Boot. - Was machen wir jetzt eigentlich? Das Boot liegt schon eine ganze Zeitlang ruhig."

Ich sehe auf die Uhr: "Abendessen. Es ist schon bald acht Uhr! - Meine Magensäure schlägt Wellen."

"Laß sie Wellen schlagen, Herwig! Sieh dir das mal an!" Edwin zeigt auf einen der Bildschirme: "Ist dir dieser Turm schon aufgefallen? Mitten in Grom!"

"Was ist damit?"

"Es ist offenbar der größte Turm in der Stadt! Und er reicht bis in die Leuchtenden Wolken!"

Ich sehe genauer hin. Dieses Tier, das die Stadtträgerinnen tragen, hat unter anderem deshalb eine Ähnlichkeit mit einem Fisch, weil es auch Rücken- und Seitenflossen hat. Eine dieser Flossen ist in der Stadtmitte und bildet dort eine viele hundert Meter hohe, steile Felszacke. Und die ist auch bebaut. Während die Stadtoberfläche selbst in einer Höhe zwischen 2000 Metern - nämlich an den Rändern der Stadt, wo sich das getragene Tier weit herunterbiegt - und 3400 Metern in der Mitte der Stadt ist, ragt diese Flosse bis in eine Höhe von mehr als 4000 Metern. Und dort verschwindet sie in den Leuchtenden Wolken, deren Untergrenze im Moment bei bloß 4200 Metern liegt. Es ist, trotz der perspektivischen Verzerrung, gut zu sehen, daß diese Flosse überall bebaut ist. Bei ihr würde ich sogar noch am ehesten annehmen, daß sie hohl ist.

"Gut." sage ich, "Reicht bis in die Leuchtenden Wolken. Warum nicht?"

"Ist doch irgendwie zu massiv gebaut! Gerald, was sagst du dazu? Könnte das bis zur Höhlendecke reichen? Was würdest du vermuten?

"Ich würde nicht vermuten, sondern mir die Radaraufzeichnungen ansehen!" sagt Gerald und tut dieses umgehend.

"Ist das wichtig?" frage ich, "Edwin, spielst du etwa mit dem Gedanken, auf diesem Wege in die Stadt hineinzukommen? Abgesehen davon, daß noch niemand beschlossen hat, daß wir überhaupt in die Stadt hinein sollten!"

"Nur eine theoretische Überlegung!" verteidigt sich Edwin.

"Dann überlege ich auch einmal theoretisch! Auf dem Weg in die Stadt zu gelangen hieße, diese Wände hier außen zu besteigen! 4200 Meter bis zu den Leuchtenden Wolken, und dann noch einmal einige tausend Meter. Dann 5 bis 8 Kilometer an der Decke entlang - falls es dort Weganlagen geben sollte, denn sonst wäre es eh technisch unmöglich. Ein gerader Weg ist unwahrscheinlich, also ist es streckenmäßig eher mehr. Das ganze mußt du dir über den Leuchtenden Wolken vorstellen - dauernd die Möglichkeit, mehr als ein halbes Dutzend Kilometer weit abzustürzen!

Und dann über Grom den richtigen Abstieg finden! Und das gegen den Widerstand der Granitbeißerinnen - ich glaube nicht, daß es möglich ist, unbemerkt in die Stadt einzudringen, auch dort nicht. - Das ganze wäre ein Unternehmen, das wesentlich schwerer wäre als die Welthöhle wieder zu verlassen - was ja auch, wie du weißt, erfordert, daß man kletternd 12 Kilometer Höhenunterschied überwindet!"

"Ich denke ja nur nach!" sagt Edwin.

"Jedenfalls interessanter Gedanke!" kommt Gerald ihm zur Hilfe, "Seht euch das an! Genau an der Stelle, genau über der Stadt, ist ein sehr steiler, hängender Berg!"

"Treffen die sich, der Flossenturm und dieser Berg?" frage ich.

"Gerade eben. - Oder gerade eben nicht. Wir haben nicht lange genug geortet - wir könnten es sicher feststellen, wenn wir noch einmal auftauchen."

"Jedenfalls, wenn man unbemerkt in die Stadt eindringen wollte - da unten, an den Häfen vorbei, geht das nicht."

"Du hast zu viele Abenteuerbücher gelesen!" sage ich, "Unser Forschungsprogramm erfordert nicht, daß wir in die Stadt eindringen."

"Was erfordert unser Forschungsprogramm denn überhaupt?" fragt Edwin, "Warum sind wir hier, vor Grom?"

"Kartographie! - Und sonst ..."

In dieser Sekunde meldet sich Wellington über das Interkom. Er verkündet für morgen früh eine Schiffsversammlung. Mehr nicht.

"Also können wir jetzt doch Abendessen!" sagt Edwin. Ich sage nichts.

Mir ist der Gedanke unangenehm, daß wir jetzt Chranchrar die ganze Nacht an Bord haben werden.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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