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85. Wie man sich anschleicht
Am anderen Morgen, dem 23. Februar 1999, einem Dienstag, fahren wir in die Schlucht ein. Es ist der 41. Projekttag. Wer nicht muß, geht nicht an Deck, denn es ist dort viel dunkler - unangenehm dunkler. Nur ein schmaler Streifen grauer Wolken erleuchtet die dunklen Felsen aus der Höhe, und bei sowenig Licht spielt einem manchmal die Einbildung einen Streich. Auch wenn die Felsen meistenteils nackt und unbewachsen sind, glaubt man doch immer wieder, aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrzunehmen.
Im Boot selber passiert einem das nicht. Die helle Beleuchtung verscheucht alle Depressionen und Ängste, und die Bilder auf den Bildschirmen sind elektronisch nachbearbeitet und lassen nicht erkennen, wie dunkel es draußen wirklich ist.
Die Hauptrichtung der Schlucht pendelt sich auf Nordost ein, aber Nordkurs kommt genauso oft vor wie Ostkurs. Stellenweise ist die Fahrrinne weniger als 200 Meter breit, aber wie die Lotung zeigt, immer bodenlos tief. Chranchrar müßte wissen, daß wir in Pfeilreichweite vom Ufer aus sind, aber es scheint sie nicht zu berühren. Natürlich wissen wir nicht, ob das anders wäre, wenn das Ufer von dichtem Dschungel bewachsen wäre.
Wellington fragt mich einmal, ob ich etwas davon weiß, ob Grom bewacht ist. Aber ich kann mich an nichts dergleichen erinnern.
Ich unterhalte mich mit Gerald über diese Schlucht und ihre mögliche, geologische Entstehung. Wieder habe ich die Genugtuung, daß auch ein ausgebildeter Geologe die offensichtlichen Widersprüche nicht so leicht beiseite räumen kann. Normalerweise wird eine Schlucht durch ein steil und schnell fließendes Gewässer eingeschnitten - Höllentalklamm, Partnachklamm und ähnliche - aber der Unterwasserquerschnitt dieser Schlucht schließt diese Entstehungsgeschichte aus. Es gibt kein Gefälle, und selbst für ein beträchtliches Gefälle wäre der Querschnitt einfach zu groß, um über längere, geologisch wirksame Zeiten große Strömungsgeschwindigkeiten zu erlauben. Wo sollte diese Wassermenge denn herkommen?
"Also irgendeine Art Spalt?" schlage ich vor.
"Spalt." sagt Gerald und schüttelt traurig den Kopf. "Spalt hieße, daß da etwas auseinander gebrochen ist. Welche Kräfte sollten in der Lage sein, in der Welthöhle ganze Berge zu zerreißen und oben bei uns keinerlei Spuren zu hinterlassen?"
"Auf Casabones war auch so ein Spalt," sage ich, "so, als ob der Pilzberg irgendwann damit angefanngen hätte, in zwei Teile auseinander zu brechen."
"Das ist deine Vermutung, die du aus der lokalen Geographie folgerst. Ich müßte mir das mal ansehen. Vielleicht war das auch ein Errosionstal. Aus deiner Beschreibung kann man das nicht restlos klar schließen."
"Aber diese Schlucht ist ja irgendwie entstanden, in dem Sinne, daß die beiden Wände, die sich gegenüber stehen, irgendetwas miteinander zu tun haben! Und das können doch nicht so außergewöhnliche Vorgänge sein, daß es auf der Erdoberfläche dafür keine Entsprechung gibt!"
"Vielleicht künstlich?" schlägt Gerald vor.
"Willst du als Geologe die Erklärung den Archäologen oder Historikern überlassen? - Außerdem - bei der Größe ..."
"Ich will damit nur sagen, daß ich es nicht weiß. Tut mir leid - ich weiß es nicht! - Ich müßte draußen mal einige Untersuchungen machen." Das war es dann - ich habe das Gefühl, daß Gerald nicht mehr darüber sprechen mag.
Gegen Mittag erreichen wir einen gewaltigen Felsbruch. Die linke Wand der Schlucht ist bis ganz oben ausgebrochen und lehnt an der gegenüberliegenden Wand. Eine riesige, steile, zerfurchte Felszinne, die unter sich noch eine genügend breite Fahrrinne freiläßt. Sie ist so groß, daß sie von der Basis ihrer Bruchstelle dicht über dem Wasser bis in die Leuchtenden Wolken hinein reicht. Und sie sieht aus, als könnte sie sich jederzeit lösen und an dieser Stelle einen weltuntergangsartigen Steinfall verursachen. Fast ist man versucht, nur leise zu sprechen, damit man nicht in diese Gefahr läuft.
Dabei wird diese Zinne von uns keine Kenntnis nehmen, auch, wenn wir laut sprechen. Ein so gewaltiger Felsen wäre in den Alpen zum Beispiel eine absolute Sensation - sogar liegend. Und in der Lüneburger Heide - ich darf gar nicht nachdenken, was das für einen Anschub in der norddeutschen Tourismusbranche bedeuten würde!
Mit unserem Radar stellen wir fest, daß diese lehndende Felszinne noch über die Leuchtenden Wolken hinausreicht, bis dicht unter die eigentliche Decke der Welthöhle, die sich hier in etwa 7000 bis 8000 Meter Höhe über dem Meeresspiegel befindet. Das heißt also, daß über den Leuchtenden Wolken der obere Teil der Schlucht wie ein Fluß aussehen muß, der einer großen, langen Höhle folgt, und daß es in dieser Leuchtenden Wolkendecke eine Insel gibt, die selbst wieder einen Berg von über tausend Metern Höhe über den Wolken bildet. Wir werden es nie sehen - wie sollten wir dahin kommen?
Aber nicht nur die Größe ist interessant: etwa 800 Meter über unseren Köpfen - also noch weit unter den Leuchtenden Wolken - scheint auf einer hervorspringenden Nase ein Gebäude zu sein, eine kleine Burg oder Festung, gut getarnt in der wild zerklüfteten Umgebung. Wegen der perspektivischen Verzerrung sieht man mit bloßem Auge wenig, und fast wäre es auch niemandem aufgefallen.
Wellington bringt das Boot etwa 2 Kilometer vorher zum Stillstand, kurz nachdem wir diese Festung zu Gesicht bekommen haben. "Ein hervorragender Ort, um etwas aufs Boot fallen zu lassen!" erklärt er, "Das möchte ich nicht riskieren."
Ich bin zufällig in der Zentrale, weil ich kurz nach Carola gesehen habe. "Was meinen Sie," fragt Wellington mich, "Ist da oben jemand? - Die Mauern sehen gut aus."
Natürlich weiß ich es auch nicht, und ich kann auch nur Vermutungen anstellen: "In dieser Nähe von Grom würde ich irgendeine Art von Außenposten vermuten."
"Und wenn das so ist, wie kommt man da hoch? Das ist dann ja regelmäßig nötig - Wachwechsel und so."
"Wenn's weiter nichts ist," sage ich, "Alles, was mit Klettern zusammenhängt, kann man den Granitbeißerinnen durchaus zutrauen. Außerdem kann es viele Pfade geben - das Gelände dort oben ist ja alles andere als übersichtlich. - Aber ich glaube nicht daran. Zu aufwendig, regelmäßig dorthin zu gelangen."
"Mmh." sagt Amerlingen, "Näher ranfahren bringt nichts - dann wird der Blickwinkel für uns ungünstiger."
"Dieses ist ein U-Boot!" gebe ich zu bedenken, "Wir können diese Stelle untertauchen."
"Und wir haben oben eine Passagierin, die wir alle nicht mehr ins Schiff lassen wollen!"
"Und wenn wir sie das Stück schwimmen lassen? - Wir haben doch nichts zu befürchten. Wenn sie abhaut - nach Grom kommen wir sowieso. Das können wir jetzt nicht mehr verfehlen."
"Daran habe ich auch schon gedacht," sagt Wellington, "aber wir müssen damit rechnen, daß ihr dabei etwas zustoßen könnte. Wenn das passiert, dann müssen wir uns später dafür verantworten."
Ob das Argument wirklich so stichhaltig ist, bezweifele ich. Es wird noch genug auf der Reise passieren, was spätere peinliche Fragen provozieren wird. "Was könnte ihr hier passieren?" frage ich, "In dieser ganzen Schlucht haben wir ja noch keinerlei Großtiere zu Gesicht bekommen! - Die könnte sich von hier aus alleine durchschlagen, da bin ich sicher. - Die ist hier zu Hause."
"Wir könnten es auch riskieren, an der Oberfläche drunter durch zu fahren." sagt Amerlingen. Wellington macht kurz ein Gesicht, als ob er Zahnschmerzen hätte.
"Warum fragen wir nicht einfach die Granitbeißerin?" schlage ich vor.
"Weil die uns erzählt, was sie für richtig hält!" sagt Amerlingen, "Und das ist nicht unbedingt das, was wir wissen wollen."
"Ja. Aber es kann sein, daß sie im Moment noch annimmt, daß wir diese Festung dort nicht bemerkt haben. Vielleicht läßt sie sich etwas anmerken!"
"Sie wird bemerkt haben, daß das Boot zum Stillstand gekommen ist." gibt Amerlingen zu bedenken.
"Dann sagen wir ihr, wie es ist: Captain's orders. Ganz einfach. Das Argument versteht sie."
Amerlingen denkt eine Weile nach. "Wir fragen sie direkt," entscheidet er, "dabei sehen wir auch, wie sie reagiert."
Minuten später sind wir an Deck. Amerlingen nickt mir zu: "Herr Homberg, Sie wissen, wie sehr wir Sie um Ihr fließendes Xonchen beneiden! - Bitte."
Ich gehe nach vorne: "Chranchrar?"
"Ja?" Sie blickt erst jetzt auf. Vorher hat sie vor sich hingebrütet.
"Was ist denn das für ein Gebäude da oben?"
"Wächterhof." sagt sie.
"Wächterhof!" sage ich zu den anderen, "So heißt auch eine S-Bahn-Haltestelle zwischen München und Aying. Wenn ich es richtig übersetzt habe!"
"Herr Homberg," sagt Amerlingen milde, "Ihre Kenntnisse der Münchner Umgebung in Ehren. Wir werden darauf zurückkommen, wenn wir mal München besuchen sollten!"
Manchmal weiß ich auch die Anzeichen der Ungeduld bei anderen zu erkennen. Ich wende mich wieder an die Granitbeißerin: "Was ist 'Wächterhof'?" frage ich.
"Die Erbauer der Toten Städte haben das gebaut. Mehr weiß ich nicht."
Einen Moment Schweigen. Ich brauche es nicht zu übersetzen. Alle haben es verstanden. Der Dialekt des Xonchen, den Chranchrar spricht, unterscheidet sich deutlich von dem, den ich damals kennengelernt habe - aber die Aussprache des Begriffes 'Erbauer der Toten Städte' ist ganz genau dieselbe! Diesen Begriff kennt offenbar fast jeder.
Die Erbauer der Toten Städte!
Ich versuche, mich gleichgültig zu geben: "Wird es noch verwendet?"
"Ich glaube, nein. Aber ich weiß es nicht. - Man kommt schwer dahin." Wenn eine Granitbeißerin das sagt, dann muß es stimmen. Dann heißt das übersetzt: Man müßte fliegen können.
"Es sieht so aus, als könne man es jetzt noch verwenden, um zu überprüfen, wer diese Schlucht befährt!"
"Das wird auch gemacht - aber nicht von dort."
"Von wo denn?"
"Das weiß ich nicht." Oder sie würde es uns nicht sagen, denke ich. Daß sie überhaupt gesagt hat, daß diese Schlucht überwacht wird, liegt vielleicht daran, daß sie es für selbstverständlich hält und gar nicht auf die Idee kommt, daß wir etwas anderes annehmen könnten.
Wellington sieht sich um. Mir fällt auf, daß er eigentlich selten außerbord ist, seit wir in der Welthöhle sind. Vielleicht fühlt er sich im Bootsinneren einfach sicherer. Und auf jeden Fall fühlt er sich unsicher, wenn er mit diesem Schiff unter einer Festung durchfahren muß, von der vielleicht etwas herunterfallen könnte, ob absichtlich oder nicht.
Als ob nicht in der ganzen Welthöhle etwas von oben herunterfallen könnte! Und nebenbei - dieser ganze Felskomplex sieht so aus, als ob er demnächst seinen unterbrochenen Sturz nach unten fortsetzen könnte. Und das würde die CHARMION auch noch im getauchten Zustand treffen.
"Nehmt sie in die Eingangsschleuse!" entscheidet Wellington, "Herr Serpinski, wenn Sie vielleicht zusammen mit Dauphin und Aldingborg auf sie aufpassen würden!"
Wenig später geht es weiter. Mit geringer Decksneigung unterschneidet die CHARMION die Wasseroberfläche. Ich begebe mich ins vordere Labor.
Die Schluchtwände sehen unter Wasser genauso abweisend, aber unauffällig aus wie über Wasser. Allerdings ist das Bild nicht sehr klar, da die Außenscheinwerfer aus naheliegenden Gründen nicht eingeschaltet worden sind und die Elektronik deshalb das lichtschwache Bild verstärken muß. Ich kann mich irgendwie nicht richtig konzentrieren: Dauernd horche ich in Richtung zum schalldichten Schott in den zentralen Niedergang. Das ist natürlich Blödsinn: Drei starke Männer sollten auf die Granitbeißerin aufpassen können. Andererseits - als sie uns das erste Mal überrummpelt hat, waren ja noch viel mehr Leute anwesend.
Weil ich mich nicht so richtig auf die Außenbilder konzentriere, sehe ich das Loch erst, als Gerald plötzlich erstaunt ausruft: "Da!"
"Was?"
Ein kreisrundes Loch in der linken, unterseeischen Schluchtwand schiebt sich ins Blickfeld. Die CHARMION hat im Moment eine bescheidene Tiefe von 380 Meter - genug, um eventuell fallende Steine zu dämpfen und das Schiff von oben unsichtbar zu machen - und dieses Loch scheint noch etwas tiefer als wir zu sein. Vielleicht 400 Meter, mit seiner Oberkante.
"Das ist doch künstlich!" sagt Gerald. Wir sehen alle die präzise, kreisrunde Form. Der Durchmesser ist etwa 20 Meter.
"Künstlich? Weil's rund ist? Das war der Ösophagus Maximus auch!"
"Homberg, davon verstehst du nichts!" sagt Solzbach.
"Du vielleicht?"
Tatsächlich sieht dieses Loch hier sehr deplaziert aus. Und als das Boot auf eine Position direkt daneben manöveriert wird, können wir es rasch vermessen. Es ist in der Tat kreisrund, und es bildet den Eingang zu einem Tunnel, der in rechtem Winkel zur Schlucht abzweigt.
"19.42 Meter Durchmesser," sagt Gerald, "und gleichbleibend. Soweit wir hineinsehen können. Richtung Nordwest genau."
Die CHARMION bewegt sich weiter - wir können sicher sein, daß alles im Vorbeifahren präzise vermessen wurde, soweit dies möglich war.
"Jetzt fragt der Alte dich sicher gleich, was du davon hälst!" sagt Gerald.
"Oder dich!" sage ich.
"Daß das nichts geologisches ist, sieht man doch."
"Du denkst an eine Art Abwasserkanal, ja? - Vergiß es. Was müßten das für Mengen von Abwasser sein, die ein Loch mit diesem Durchmesser erfordern?"
"Was müßten das für Mengen von Wasser sein, die diese Schlucht ausgeschnitten habe?" kontert Gerald.
"Man wird ja wenigstens noch versuchen dürfen, zu denken." sage ich.
"Vielleicht hatten die Bewohner der Toten Städte U-Boote! Und das ist eine Art Verkehrskanal," schlägt Gabi vor.
Eisiges Schweigen. Gabi ist immer noch Unperson. Sogar in dem Maße Unperson, daß niemand die Ansicht äußert, daß dieser Vorschlag absoluter Blödsinn ist. Mit einer Unperson spricht man nicht.
Ich denke darüber nach, daß es solche Dinge sind, die einen Menschen fertigmachen können. Es ist besser, wenn wir Gabi nicht in eine derartige Psychose hineinmanöverieren, die dadurch entstehen könnte, daß niemand mehr mit ihr spricht. "Vielleicht. Glaube ich aber nicht." sage ich diplomatisch, mehr in Richtung Bildschirm als in Richtung Gabi. Und keiner antwortet darauf.
Die CHARMION muß mehr als drei Kilometer unter Wasser zurücklegen. Dann sind wir unter dem Felssturz hindurch und können wieder auftauchen. Schnell stellen wir fest, daß der Felssturz von dieser Seite genauso aussieht, nur eben ohne einen 'Wächterhof', und daß sich die Schlucht kaum ändert. Schon nach einigen weiteren Kilometern nimmt uns eine neue Biegung die Sicht auf die lehnende Riesen-Zinne.
Chranchrar wird wieder auf das Vordeck gebracht. Ich sehe sie von unserem Labor aus auf den Bildschirmen. Sie sieht sich aufmerksam um. Zu aufmerksam - vorher war sie viel weniger an ihrer Umgebung interessiert. Das beunruhigt mich.
Dann aber ändert sich doch etwas: Die Schlucht wird enger, die Wände werden steiler, meist senkrecht, und dort, wo nicht, entsprechen sich Hangneigung auf der einen und Überhangneigung auf der anderen Seite genau. Die 'Auseinanderbruch'-Theorie scheint hier plausibler.
Auch für die Leuchtenden Wolken ist in dieser Schlucht kaum noch Platz. Es wird finster. Nicht lange, und wir fahren in völliger Nacht dahin. Auch beunruhigend, obwohl Dunkelheit an sich für uns keinerlei Gefahr bedeutet.
Chranchrar ist immer noch auf dem Vorderdeck. Sie ist jetzt dort alleine, weil sie dort keinen Schaden anrichten kann. Deshalb fühlt sie sich auch unbeobachtet, und wir können sehen, wie intensiv sie die Gegend mustert, solange noch genug Licht dafür da ist.
"Schaut sie euch an!" sage ich, "Schaut sie euch genau an! Die war noch nie hier! Diesen Weg kennt sie nicht mehr. Wir sind irgendwo falsch gefahren!"
"Wo hätten wir denn abbiegen sollen?" fragt Gerald, "Da war doch nichts. Außer diesem Loch. Und das ist ja für Überwasserschiffe kaum befahrbar!"
"Ich spreche mal mit dem Alten." sage ich und gehe in die Zentrale.
Dort hat man inzwischen aus dem Verhalten der Granitbeißerin ganz genau dieselben Schlüsse gezogen. Aber das paßt ja nicht zusammen: "Sie hat nicht von sich aus uns darauf hingewiesen, daß wir falsch sind!" sagt Amerlingen.
"Vielleicht kann sie es sich selber nicht erklären!"
"Wie würden Sie es denn erklären?" fragt Wellington mich.
"Wenn wir irgendwo eine Abzweigung verpaßt haben, dann kann das nur an einer einzigen Stelle passiert sein. Überall war es übersichtlich - bis auf den Felssturz. Den haben wir unter Wasser passiert."
"Sie meinen, wir müssen noch einmal dorthin zurück?"
"Ja. - Aber wir können natürlich hier weiterfahren, bis es absolut nicht mehr geht."
Noch gibt Wellington den Befehl zum Umkehren nicht. Aber die Außenscheinwerfer werden jetzt eingeschaltet. Das muß für Chranchrar sehr seltsam aussehen.
"Gehen Sie mit Serpinski rauf und fragen Sie sie!" schlägt Wellington vor.
Als ich mit Eugen wenig später an Deck stehe, kann ich mich der Unheimlichkeit der Atmosphäre kaum entziehen: Von den Leuchtenden Wolken ist keine Spur übriggeblieben - die Schlucht verschwindet über uns in nachtschwarze Höhen. Die einzige Beleuchtung wird durch unsere Außenscheinwerfer gebildet, und die befinden sich beiderseits des Schiffsrumpfes unter Wasser. Die nur noch etwa 20 Meter entfernten Felswände sind dadurch heller erleuchtet - auch unter der Wasseroberfläche - als wir und das Deck der CHARMION. Ich kann deshalb kaum Chranchrar's Gesichtsausdruck erkennen, als wir von der Luke aus auf sie zu balancieren - das Licht von unten, aus dem Wasser heraus, blendet.
"Bist du hier schon mal gewesen?" frage ich.
"Nein." bekennt Chranchrar ohne Vorbehalt.
"Wo sind wir von dem Weg nach Grom abgekommen?" frage ich.
"Das kann ich nicht sagen. Ich mußte doch eine Weile nach unten! In der Zeit muß es passiert sein." Sie hat ja recht.
"Hast du von dieser Schlucht schon mal gehört? - Es wäre hier völlig dunkel, wenn wir nicht unser eigenes Licht machen würden, weißt du!"
"Nein." sagt sie. "Ich weiß nichts von einer dunklen Schlucht. Ich kenne nur einen Weg nach Grom."
"Bist du sicher? Denk mal nach!" sage ich. In den paar Sekunden, die nun folgen und in denen niemand etwas sagt, glaube ich, ein ganz entferntes Tropfen zu hören. Ich kann nicht erkennen, ob es von oben, von vorne oder von hinten kommt. Die Felswände sind trocken, aber das sagt nichts - knapp außerhalb der Reichweite unserer Scheinwerfer kann eine Wasserader an die Oberfläche der Felswand treten.
"Ich weiß nichts!" bekräftigt Chranchrar.
Nachdem wir sie noch befragt haben, ob und wieviel wir ihr zu essen bringen sollen, gehen wir wieder ins Schiffsinnere zurück.
"Jedenfalls hat sie keine Anstalten mehr gemacht, uns anzugreifen!" sagt Eugen.
"Sie wird sich hüten. Inzwischen hatte sie ja Zeit zum Überlegen. War wahrscheinlich eine Panikreaktion, damals." vermute ich.
"Bin neugierig, wie sich sich nachts da draußen verhält. So ganz allein, auf dem Deck, in dieser unheimlichen Schlucht."
"Wieso? Willst du extra aufstehen, um es dir anzusehen?"
"Nein," sagt Eugen, "Ich habe sowieso die Hundswache. Deshalb gehe ich jetzt bald ins Bett."
"Ach so. - Aber sei nicht enttäuscht, wenn sie die ganze Zeit nur pennt!"
Die Schlucht wird immer enger - längst schon könnte die CHARMION nicht mehr auf ebenem Kiel bleibend die Richtung wechseln. Wenn wir zurückmüssen, dann werden wir eine Weile rückwärts fahren müssen.
Kurz vor 19 Uhr ist es dann soweit. Zwar ist die Breite der Schlucht immer noch zwischen 12 und 20 Meter, aber wenn man den bisherigen Trend fortschreibt, dann geht es bald nicht mehr weiter. Die Nacht über soll die CHARMION hier bleiben.
Am Abend erfahre ich, daß Doktor Morton die Carola in ihre eigene Kabine entläßt. Sie braucht nicht mehr beobachtet zu werden. Gut, denke ich - dann ist sie sicher auch wieder gesund genug für gelegentliche Streitgespräche. Ich habe ihre beliebteste Redewendung 'Das ist aber nicht das Problem ...' schon vermißt: Ab und zu muß man eben mal gesagt bekommen, daß man nicht in der Lage ist, die wirklichen Probleme der Welt zu sehen.
Am anderen Morgen geht es dann zurück. Kein Problem für die CHARMION, sie kann rückwärts genausogut manöverieren wie vorwärts. Lediglich für die maximalen Geschwindigkeiten ist eine der Fahrtrichtungen konstruktiv bevorzugt.
Es ist der 42. Projekttag, ein Mittwoch. Der 24. Februar 1992. Chranchrar ist in der Nacht nicht abgehauen - wo hätte sie auch hinsollen? - und wie mir Eugen beim Frühstück berichtet, hat sie tatsächlich die ganze Zeit geschlafen.
Ich zeige auf den SISC: "Nach dm 27-Stunden-Rhythmus war von 23 Uhr gestern bis heute 8 Uhr sowieso Schlafperiode. Schade."
"Wieso schade?"
"Weil wir sonst hätten herauskriegen können, ob sich der 27-Stunden-Rhythmus auch hier noch auf eine Granitbeißerin auswirkt."
"Ach so. - Ja, natürlich."
Als wir den Teil der Schlucht erreichen, der bereits wieder schwach von der Leuchtenden Wolkendecke erleuchtet wird, stellen wir fest, daß Regen eingesetzt hat. Je weiter wir in Richtung Felssturz fahren und je breiter die Schlucht wird, desto stärker wird der Regen. Ein gleichmäßiger Landregen, der aus Wolkenschichten kommt, die sich in etwa 600 bis 700 Metern Höhe befinden und die die Schlucht entlangtreiben. Deshalb ist es dunkler als gestern.
"Günstig." bemerkt Günther, "Da können wir durchgehend an der Oberfläche bleiben - vom Wächterhof wird man uns nicht sehen können."
"Soweit kann der Alte sicher mitdenken." sagt Solzbach.
"Beruhigend, daß so viele bei der Schiffsführung mitmachen!" murmelt Gerald, "Man fühlt sich richtig geborgen!"
"Was sollen wir den sonst machen? Es gibt ja kaum etwas zu tun!" sagt Cohausz, "Chemie von Luft und Wasser draußen werden ständig automatisch gemessen und aufgezeichnet, die geologische Umwelt für dich wird auch dauernd automatisch aufgezeichnet, und was Doktor Reinhardt betrifft, so hat er auch kaum etwas zu tun. Gibt ja nichts hier, keine Saurier, keine was weiß ich."
"Hat Ihnen der Riesenrochen nicht gereicht?" fragt Reinhardt.
"Das ist doch schon wieder - vier Tage her! - Ich habe das Gefühl, Herwig hat damals mehr erlebt!"
"Sei doch froh," sage ich, "denk an unsere Kollegin. Die hat schon mehr erlebt, als ihr lieb ist. Und daß uns der Große Unbekannte keinen Ärger mehr macht, das wirst du ja wohl nicht vermissen, oder?"
Schnelle Seitenblicke in Richtung Gabi. Sie reagiert nicht. Ich muß an die Direktive q78q99q denken - aus der Richtung haben wir ja durchaus noch nicht alle Probleme gelöst. Und die Rückkehr aus dieser Welt ist auch noch so eine Sache. Das wird uns noch einiges an Frustrationstoleranz abverlangen. Nein, ich würde mich wirklich nicht beschweren, wenn es mal einige Tage voller Ereignislosigkeit gibt.
"Nehmt euch doch an der Granitbeißerin da ein Beispiel!" sage ich, "Die nimmt's, wie's kommt."
"Weil sie im Moment keine andere Möglichkeit hat."
"Wir doch auch nicht!"
Der Felssturz kommt wieder in Sicht, diesmal nur teilweise, wegen der tiefhängenden Wolkendecke.
"Nun seht's euch an!" sagt Gerald, "Merkt ihr's nicht?"
"Was denn?" fragt Cohäuszchen.
"Meteorologische Grundüberlegungen. Sollte doch jeder können. Diese Regenwolken da treiben längs durch diese Schlucht."
"Quer geht ja auch schlecht!"
"Laßt mich doch mal ausreden! - Also. Diese Wolkendecke scheint direkt an dem großen Felsturm anzufangen. Massiver Felsen spuckt aber keine Wolken aus, oder?"
"Zwischen dieser Felszinne und der Wand, gegen die er sich lehnt, ist aber eine ordentliche Lücke!" sage ich. "Kann man sogar von hier aus sehen!"
"Eben! Und wo sind in dieser Lücke die Wolken? - Ich wette, auf der anderen Seite sind auch keine!"
Ich denke einen Moment lang an Staudruckeffekte: Der Wind durch die Schlucht muß sich hier durch eine etwas engere Öffnung zwängen. Da wäre die Luftbewegung also schneller. Nach dem alten Bernoulli hätten wir es dann mit einem geringeren Druck zu tun. Daraus folgt dann auch eine geringere Temperatur. Dann müßte noch mehr Feuchtigkeit in Form von Nebel und Wolken ausfallen als dies sowieso schon der Fall ist. Wegen der geringen Windgeschwindigkeit wäre der Effekt wahrscheinlich kaum merkbar - aber Gerald hat recht: Die Lücke müßte auch mit Wolken gefüllt sein. Ist sie aber nicht. Und ein anderer Effekt, der die Wolken vorübergehend auflöst, fällt mir nicht ein.
"Und wo kommen die deiner Meinung nach her?" fragt Cohäuszchen.
"Da sind noch mehr Lücken. Ein ganzer Durchbruch, den wir nur von hier aus noch nicht erkennen können. Aber wenn wir erst näher heran sind, dann sehen wir vielleicht etwas mehr!"
Oder auch nicht, denke ich, wegen der Regenwolken. Minuten vergehen, in denen wir uns die Außenaufnahmen ganz genau ansehen. Ich bemerke, daß auch Chranchrar den Felssturz genau mustert. "Die erkennt etwas wieder!" sage ich.
"Reine Vermutung." murmelt Gerald.
"Doch doch! Laß dir das von allen hier an Bord, die langjährige Eheerfahrung haben, bestätigen!" sage ich, "Man lernt mit der Zeit, wann eine Frau etwas verheimlichen will!"
"Das wirst du wohl kaum auf die Granitbeißerinnen anwenden wollen!" sagt Cohäuszchen.
Wir sind dem mächtigen Felssturz jetzt auf wenige hundert Meter nahegekommen. Die gewaltige, nach oben spitz zulaufende Spalte, die die Felszinne mit der Wand, gegen die sie lehnt, bildet, sieht bedrohlich und dunkel aus. Unerwartet dunkel, weil diese Unterführung doch etwas länger ist als wir es angenommen haben - Beim Untertauchen dieser Strecke haben wir ja gar nichts gesehen. Wir fahren in dieses spitze Gewölbe ein.
Ich mustere Chranchrar auf dem Bildschirm. Sie hat sich auf dem Vorderdeck wieder hingehockt und ist offensichtlich zufrieden. Voll orientiert, denke ich - jetzt weiß sie wieder genau, wo sie ist. Eigentlich könnte sie uns jetzt ja einmal ein paar Hinweise geben. - Aber wenn sich niemand von uns bei ihr oben blicken läßt, dann kann man ihr ja eigentlich keinen Vorwurf machen.
Aber dann sehen wir es selber: Die Wand ist in Form einer großen Felsplatte eingebrochen. Nur in der perspektivischen Verzerrung, die sich ergibt, wenn man die Schlucht entlang auf diesen Felssturz zufährt, läßt das Ganze eher wie eine Zinne aussehen. Aber es ist in Wirklichkeit eine Wand, die stabil an der gegenüberliegenden Felswand anliegt und diese erst in Höhe der Leuchtenden Wolken berührt.
Und diese Wand - fast zweieinhalb Kilometer lang - ist selbst wieder gespalten. Das festzustellen ist nicht möglich, wenn man diese Stelle getaucht passiert, oder wenn man sich noch nicht unter dem Felssturz selbst aufhält. Im Näherkommen sehen wir, daß diese Spalte, die sich weit hinaufzieht, sich in Höhe der Wasseroberfläche auf etwa 60 Meter verbreitert. Es sieht wie eine Abzweigung nach rechts, nach Nordwesten aus.
Es ist eine Abzweigung. Und es fällt eine schwache Dämmerung hindurch. Je näher wir kommen, desto klarer wird, woran das liegt: Dieser Spalt führt in eine weitere Schlucht hinein, die zu der, die wir bisher befahren haben, etwa parallel liegt und sich in einer Windung der unseren soweit genähert hat, daß zwischen beiden Schluchten die Felswand nur noch ungefähr 600 Meter dick war. Das erklärt vielleicht, warum gerade hier dieser Felssturz passiert ist. Für die Existenz der Schluchten selber bringt es nichts, was der Erklärung dient.
Die Trümmerstücke dieser Wand, von denen nur ein Teil in unsere bisherige Schlucht gefallen ist und dort die große, geborstene Platte bildet, bilden ein Verhau von mächtigen, verkanteten und versetzten Felsbrocken mit kilometergroßen Abmessungen und Milliarden Tonnen Gewicht. Ganz zufällig ist zwischen diesen eine enge, befahrbare Wasserstraße frei geblieben, die jetzt die beiden Schluchten als eine weitere, kurze Schlucht miteinander verbindet. Allerdings reicht sie nicht bis in die Höhe der Leuchtenden Wolkendecke. Deshalb ist sie auch etwas dunkler, und auch das ist wohl ein Grund dafür, daß man sie erst bemerkt, wenn man bereits fast in ihr drin ist.
Die Breite ist nur 40 bis 60 Meter, was für die CHARMION kein Problem ist, aber eventuell für einen großen Saurierfänger die Notwendigkeit erzeugt, komplizierte Manipulationen im Mastwerk vorzunehmen - immer noch vorausgesetzt, daß wir auf dem richtigen Wege sind. Begegnen könnten sich Saurierfänger hier nicht - aber das ist bei den Navigationsmethoden der Granitbeißerinnen auch nicht zu erwarten. Der Wind geht in unsere Richtung, das heißt, er geht meistens in unsere Richtung, und das heißt, daß es nie Gegenverkehr gibt.
Es dauert nicht lange, bis wir dieser kurzen Verbindungsschlucht in die andere Schlucht gefolgt sind. Dort gäbe es die Möglichkeit, entweder nach Westsüdwest abzubiegen oder nach Nordnordost. Aber auch hier sind Bruchstücke der einstigen Trennwand zwischen den beiden Schluchten in die Wasserstraße hineingefallen, und der Weg nach Westsüdwest ist durch ein ganzes Gebirge versperrt. Vielleicht gibt es dort über oder unter Wasser irgendwo ein Durchkommen, aber nicht für ein Boot von der Größe der CHARMION. Nordnordost ist also die einzig mögliche Richtung.
Diese Schlucht hier ist anders. Die Breite der Wasserstraße hat sich mit 200 bis 350 Meter nicht sehr viel vergrößert, aber das Ufer geht nicht gleich in steile Felswände über. An beiden Seiten gibt es vor den eigentlichen Schluchtwänden einen extrem hügeligen Uferstreifen von 100 bis 300 Metern Breite und sehr unterschiedlicher Höhe - die Uferlinie ist deshalb auch alles andere als gerade. Diese Hügel, die wieder überall dort, wo Pflanzen Fuß fassen können, dicht bewachsen sind, sehen aus wie übereinandergeschobene Rollen und Walzen zäher Lava, die dann in den seltsamsten Konfigurationen erkaltet und gänzlich zum Stillstand gekommen ist. Schon ohne Bewuchs wäre ein Fortkommen in diesem Gelände sehr schwierig.
Die Ähnlichkeit mit erkalteter Lava fällt auch Gerald auf. "Aber wenn mal in dieser Schlucht Lava entlanggeflossen ist," sagt er, "wieso war es dann eine Lava solch großer Zähigkeit! Das muß sie gewesen sein, wenn man sich diese Formen ansieht!"
"Und wieso" frage ich, "ist später diese Wasserrinne gebildet worden? Errosion? Wieso blieben dann die Uferstreifen davon ausgespart?"
Gerald sieht mich mit einer Mischung zwischen Hilflosigkeit und Bereitschaft zur fachlichen Rüge an. Wieso muß dieser Homberg immer unlösbare Fragen stellen?
"Diese unterschiedlichen Formationen," fahre ich fort, "hier Schluchten, mehr oder weniger gut erhalten, und auf unserem Weg in die Welthöhle diese schlauchartigen Tunnel, mal mit größeren, mal mit kleinerem Durchmesser, mal mit ..."
"Ich weiß es doch nicht!" Ich halte den Mund.
Die neue Schlucht windet sich genauso wie die alte, so daß wir nie eine längere Strecke als 500 bis 2000 Meter auf einmal übersehen können. Deshalb sind wir ziemlich überrascht, als die CHARMION plötzlich langsamer wird und sich wenig später wieder rückwärts bewegt.
"Was ist denn?" fragt Cohäuszchen.
"Da war doch ein Schiff!" sagt Gabi. Offenbar ist sie die einzige von uns, die in der richtigen Sekunde auf den richtigen Bildschirm geschaut hat. Gerald setzt sich kurz mit der Zentrale in Verbindung. Dann klärt er uns auf:
"Etwa 1700 Meter vor uns. Wieder so ein Segelfloß - ich meine, ein Saurierfänger. Unter vollen Segeln, aber mit nur wenig Fahrt. - Wir wissen nicht, ob sie uns gesehen haben."
"Wenn irgendjemand dort gerade in unsere Richtung geguckt hat, bestimmt." sage ich.
"Aber von uns ist nur ein grauer Hügel im Wasser und die Granitbeißerin da vorne zu sehen. Da kommen sie nie drauf, was das sein könnte!"
"Was haben die in der Zentrale vor? Oder hast du das nicht gefragt?"
"Die Granitbeißerin wird gerade an Bord genommen, und dann überholen wir das Schiff getaucht." Gerald scheint befriedigt: Auf diese Weise kann er einen Blick auf tiefere Partien dieser Uferformationen werfen. Auch diese Schlucht scheint grundlos, aber nicht überall - es gibt einige schwer interpretierbare Echos.
Reinhardt ist unzufrieden. Er mustert, seit wir in dieser Schlucht sind, die Bildschirme genau, wahrscheinlich in der Hoffnung, große Landtiere zu sehen. Das geht getaucht natürlich nicht mehr.
Chranchrar ist nicht mehr an Deck. Schon unterschneiden wir die Wasserfläche. Mit der bisherigen Geschwindigkeit geht es weiter, mit ständig größerer Tiefe. Wir werden uns den Saurierfänger nicht näher ansehen, weil wir nach Grom wollen - und das am liebsten unbemerkt.
Außerdem, denke ich mir, ersparen wir uns, Zeuge eventueller massiver Menschenrechtsverletzungen an Deck jenes Schiffes zu sein.
In den nächsten Minuten gibt es mehrfach Hinweise auf größere Bewegungen in unserer Nähe. In den zerklüfteten Uferfelsen scheinen größerer Tiere zu hausen, die zu Reinhardt's Leidwesen aber scheu sind - außer den Echoortungen sehen wir nichts von ihnen.
"Vielleicht jagen sie noch?" schlägt Cohäuszchen vor, als auf einem der Bildschirme wieder einmal ein solches diffuses Echosignal dargestellt wird.
"So in der Nähe von Grom? Mich wundert nur, daß hier noch große Tiere übriggeblieben sind. Man sollte eigentlich erwarten, daß in der Nähe einer Kommune, die Schiffe weit weg schickt, um Fleisch zu gewinnen, bereits alles bejagt und ausgerottet ist. - Vielleicht sind wir gar nicht in der Nähe von Grom!"
"Oder, was immer sich hier rumtreibt, läßt sich nicht leicht bejagen!" meint Reinhardt, "Oder es schmeckt nicht."
"Oder es ist zu stark!" sagt Cohäuzchen. Wie man gestreßten Expeditionsteilnehmern Mut macht, denke ich.
Das Schiff ist über uns. 450 Meter Tiefe. Sie können uns nicht sehen. Oder sie würden uns sowieso für ein Tier halten. Über irgendwelche Aktivitäten an Bord können wir natürlich so überhaupt nichts in Erfahrung bringen. Langsam steigt die CHARMION wieder. Wir werden aber erst einige Kilometer weiter wieder die Wasseroberfläche erreichen, außerhalb der Sichtweite dieses Saurierfängers. Dabei stellen wir durch Echoortung fest, daß etwa 1500 Meter vor uns eine Seitenschlucht von links in diese einmündet. Es wäre interessanter, das von oben zu sehen. "Ein ganzes Labyrinth!" sagt Cohäuszchen irgendwann.
"Noch eins!" sagt Gerald plötzlich.
"Was?"
"Schiff! Vor uns. 2800 Meter."
"Dann bleiben wir wohl unten. - Muß irgendwo ein Nest sein."
"Ja." sagt Gerald, "Und es heißt Grom."
"Hoffentlich." sage ich, "Ich möchte es endlich einmal sehen. Nachdem wir soviel davon gehört haben."
Das Schiff, das wir jetzt untertauchen, ist ebenfalls ein großes Segelfloß. Und ehe ich selber die dumme Frage stellen kann, fragt Cohäuszchen: "Herwig, hast du dir schon einmal überlegt, warum so wenig Menschen soviel Fleisch brauchen?"
"Nein." sage ich, "aber wenn ich anfange, es mir zu überlegen, dann würde ich vermuten, daß es weiterverkauft wird. Da wird wohl irgendeine Art von Handel getrieben. - Oder man kann noch etwas anderes mit dem Fleisch machen als es bloß zu essen."
"Davon hast du in deinem Buch aber nichts erzählt!"
"Das sagt doch gar nichts! Wir haben bei weitem nicht alles gesehen, was die Granitbeißerinnen betrifft."
"Vielleicht ist es ein Ausrottungsfeldzug der Granitbeißerinnen? Ausrottung der gefährlichen Großtiere? Oder Sport?" vermutet Gerald.
"Glaube ich nicht." sage ich.
"Unterstell seinen Granitbeißerinnen keine unredlichen Absichten!" sagt Cohäuszchen, "Das hat er nicht gern! Das sind ganz normale, nette Menschenfresserinnen!"
"Mit euch werde ich nie wieder in die Welthöhle fahren." sage ich, "Nie wieder. Nur noch mit netten Menschen."
Über das zweite Schiff können wir von unten genausowenig in Erfahrung bringen wie über das erste. So haben wir Gelegenheit, die heftige Aktivität von Dr. Reinhardt zu bewundern, der einige ganz starke Echos in unmittelbarer Nähe festgestellt hat. Er wirbelt über seine Tastatur, um die Außenkammeras unter dem Schiff zu veranlassen, wenigstens irgend etwas Sichtbares aufzufangen. Aber es bleibt bei den Echos, und er sieht wieder mürrisch aus.
"Vielleicht sind die Granitbeißerinnen in Grom einfach in einer ganz verzweifelten Verteidigungssituation!" vermutet Gerald daraufhin.
"Wegen der Saurier?" frage ich.
"Ja!"
"Dafür gibt es zu wenige davon. Außerdem kann man sich leicht vor ihnen schützen. Jeder Steilhang reicht. T-Rex kann nicht klettern."
"Weißt du das, oder glaubst du das?"
"Ich weiß, daß ich das glaube."
"Und ich glaube, da ist das dritte Schiff."
Gerald hat recht. Diesmal zeigt die Ortung, daß es sich um ein wesentlich kleineres Schiff handelt, und es liegt zur linken Seite des Kanals, nur wenige Meter vom Ufer entfernt. Offenbar bewegt es sich nicht. Jedenfalls sind wir gezwungen, uns weiterhin unter Wasser zu bewegen, wenn wir unbemerkt bleiben wollen. Kilometer um Kilometer legen wir so unter Wasser zurück. Natürlich erfahren wir auf diese Weise auch nicht, ob sich an Land nun auch die Hinweise auf menschliche Aktivitäten häufen.
Dann wird die Schlucht enger. 120 Meter von Wand zu Wand. Die letzte Biegung, die wir passiert haben, müßte uns den Blicken der Schiffsbesatzungen hinter uns entzogen haben. Die CHARMION verlangsamt ihre Fahrt und nähert sich der Wasseroberfläche.
Serpinski meldet sich übers Interkom: "Die Granitbeißerin hat versucht, uns anzugreifen!"
"Kriegen Sie's in Griff?" hören wir die Stimme des Alten.
"Natürlich. Ich dachte nur, Sie wollen es vielleicht wissen!"
"Ja, danke. Passen Sie bitte auf, daß sie keine Einrichtungen beschädigt!"
"In erster Linie wird er aufpassen, daß er selber nicht beschädigt wird." sagt Gerald, "Herwig, solltest du nicht rausgehen und dem alten Mädchen gut zureden?"
"Ich glaube, daß Eugen das auch so schafft." sage ich. In Wirklichkeit bin ich zu faul dazu. Außerdem will ich nach draußen sehen, wenn wir an die Oberfläche kommen. Chranchrar interessiert mich jetzt wirklich nicht.
Als wir die Wasseroberfläche durchschneiden, sehen wir, daß es sich wieder um eine Schlucht mit durchgehend steilen Wänden handelt - keine Spur von einem gerölligen Küstenstreifen. Und damit auch keine Spur mehr von Vegetation. Die Schlucht selber windet sich stark, und es ist nicht zu sehen, wie lange das noch so bleiben wird. Weiter als ein paar hundert Meter können wir nicht sehen. Ein Schiff der Granitbeißerinnen ist zur Zeit nicht in Sicht.
Minutenlang folgen wir der nun wieder so verengten Schlucht. Die Hauptrichtung ist Ost, aber sie schwankt stark. Unsere Geschwindigkeit ist nur etwa 5 Kilometer pro Stunde - das ist schneller als ein Schiff der Granitbeißerinnen es vermag, bei dieser geringen Windgeschwindigkeit, und langsam genug, um schnell stoppen und gegebenenfalls tauchen zu können. Außerdem vermag unsere Echolotung ja in gewissem Maße um die nächste Biegung 'herumzusehen', und den Dopplerschift eines Schiffes, was sich dort bewegt, können wir wahrscheinlich feststellen. Dann können wir tauchen, bevor sie uns sehen. Und von hinten wird kaum jemand bis in Sichtweite aufholen oder uns gar überholen
Unsere Chancen, ungesehen bis nach Grom zu kommen, sind gar nicht so schlecht - wenn man davon absieht, daß jemand auf den Schiffen, denen wir bisher begegnet sind, gerade ungünstigerweise in unsere Richtung geguckt haben könnte.
Nachdem wir der engen Schlucht etwa eine Stunde lang gefolgt sind, sagt Gerald plötzlich: "Da vorne sind Echos. Ganz viele!"
In der Zentrale hat man das offenbar auch gemerkt, denn die CHARMION wird langsamer und vergößert ihren Tiefgang noch etwas. Über Wasser ist jetzt von uns kaum noch etwas zu sehen.
Die Wände weichen zurück. Unsere letzten Kameras, die noch über Wasser sind, zeigen das, was kommt, aus der Perspektive eines Schwimmers. Vor unserem Bug öffnet sich wieder ein kilometerweit ausgedehnter Raum der Welthöhle. Noch ehe wir dessen Geographie erfassen können, wird unsere Aufmerksamkeit durch das gefesselt, was mitten in diesem Raum ist - groß und beherrschend wie ein Berg.
"Seht euch das an!" sagt Gerald, "Seht euch das an! - Ist das groß!" Fast glaubt man zu hören, wie allen anderen die Kinnlade runterfällt und alle den Atem anhalten.
"Das ist Grom?" fragt Gabi. Und niemand nimmt es ihr übel.
Und während unsere Blicke noch versuchen, die beiden kilometergroßen und Milliarden Tonnen schweren, hockenden weiblichen Statuen zu erfassen, die so groß und gewaltig sind, daß die Schiffe, die das Meer rund um sie herum bevölkern, kaum auffallen, schreit plötzlich das Alarmklaxon auf. Hinter dem Boot steigt eine Wassersäule auf, und dumpfes, leises Grollen dringt von außen herein. Das Boot schwankt, und draußen scheint plötzlich alles voller Schaum und Gischt zu sein.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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