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84. Nach Grom!

Endlich haben wir ein konkretes Ziel. Es geht nach Grom. Chranchrar hat eingesehen, daß hier jeder Widerstand offenbar zwecklos ist, und daß sie gut daran tut, uns zu unterstützen. Trotzdem bleib sie gefesselt.

Carola suche ich auf, sowie sie wieder bei Bewußtsein ist. Das dauert nicht lange - sie hat sich zwar mit der Injektionsspritze verletzt, aber das meiste der Flüssigkeit, die aus der Kanüle ausgetreten ist, ist gar nicht in ihren Körper gelangt. Es war wohl mehr die Erschöpfung, daß sie dann so schnell wieder eingeschlafen ist.

"Wie bist du bloß auf die Idee gekommen, sie zu anästhesieren?" frage ich.

"Es war naheliegend." sagt sie. Sie ist noch gar nicht auf die Idee gekommen, sich im Ruhme ihrer Heldentat zu sonnen. Kommt vielleicht noch.

"Wieso naheliegend?"

"Ich habe mit der Ärztin drüber gesprochen, ob man dieses Jucken an den Schläuchen hier nicht abstellen kann, mit lokaler Betäubung zum Beispiel. Dabei hat sie mir in dem Schrank da drüben gezeigt, was wir so alles an Anästhesiemitteln mit uns haben. Auf eine Packung hat sie gezeigt und gesagt: 'Damit kann man schnell einschlafen!'. Ja, und als dann die Tür aufging und diese Granitbeißerin da stand, mit dem Rücken zu mir, dann ..."

"Dann?"

"Dann dachte ich, es ist alles ein Traum. Ich - ich stand irgendwie wie automatisch auf, habe die Spritzen da rausgeholt und ihr eine nach der anderen in den Rücken gesteckt. Einfach so. Und ausgedrückt."

"Und wenn sie es gemerkt hätte?"

"Hat sie wohl auch. Es muß sie gejuckt haben. Aber sie hat sich nicht umgedreht. Ich weiß nicht, warum."

"Ich glaube, ich weiß, warum." sage ich, "In der Erfahrungswelt einer Granitbeißerin ist nichts, was bloß juckt, gefährlich. Es gibt hier keine gefährlichen Insekten. Daran muß es liegen. - Hast du überhaupt keine Angst gehabt?"

"Ich sage ja, ich war nicht voll da. Bin ich jetzt auch noch nicht."

"Schlaf dich bloß aus!" sage ich, "Wenn du eine Gewohnheit daraus machst, das Schiff zu retten, dann brauchen wir dich noch oft! - Ich muß in die Zentrale. Ich habe Wache."

Sie ist eingeschlafen, bevor ich wieder zur Tür hinaus bin.

Wir stellen fest, daß es für Chranchrar bei uns tatsächlich unangenehm kühl ist. Deshalb machen wir folgendes: Die CHARMION wird im wesentlichen an der Oberfläche fahren, und Chranchrar wird auf dem Vorschiff sitzen. Mindestens zwei von uns sind ebenfalls ständig an Deck, außerdem kann man das Vorschiff ja auch über die Außenkameras einsehen. Chranchrar wird uns so die Richtung weisen.

Für den Fall, daß sie auf die Idee kommen sollte, von Bord zu gehen, halten wir einen weiten Abstand vom Land. Sie weiß, daß sie keine Chance hat, diesem seltsamen Boot zu entkommen. Die Fahrtgeschwindigkeit halten wir bei 5 bis 6 Knoten. Es ist nicht nötig, daß Chranchrar merkt, wie schnell das Boot wirklich sein kann.

Da draußen wird sie keinen Schaden anrichten können. Sie bekommt dort ihr Essen, und sie schläft dort. Als Gegenleistung wird sie Grom lebend erreichen. Ganz einfach. Der Deal ist fair. Vielleicht sieht sie es ein.

Darüber hinaus erfahren wir nicht viel von ihr. Sie scheint keine bedeutende Position an Bord gehabt zu haben, und sie scheint sich jetzt auszurechnen, daß sie später aus ihrem alleinigen Überleben der Zerstörung des Saurierfängers für sich Kapital schlagen kann. Ein Prisenkommando über die CHARMION wäre die Krönung auf diesem Vorhaben, aber da passen wir jetzt auf: Niemals eine Granitbeißerin unterschätzen. Sie wird nicht noch einmal einen von uns in ihre Gewalt bringen.

Natalie ist durch diesen Zwischenfall auch nicht besonders mitgenommen. Irgendwann macht sie einmal eine Bemerkung, aus der ich entnehme, daß sie sich gar nicht so richtig in Gefahr glaubte. Da bin ich anderer Meinung, aber ich streite nicht mit ihr.

Sonst passiert an diesem Abend, während meiner Wache, nicht mehr viel. Während Seltsam's Wache gibt es auch für die Granitbeißerin eine Schlafpause - ein paar Stunden später als ihr 27-Stunden Tagesrhythmus es ihr nahelegen muß. Wir können nicht erkennen, ob ihr das Schwierigkeiten macht. Am anderen Morgen, dem 21. Februar, geht es dann weiter. Außer diesem gezielten Vorwärtsfahren und dem begleitenden navigatorischen Aufnehmen der Umgebung passiert an diesem Sonntag nicht viel. Carola schläft fast die ganze Zeit, und Doktor Morton sagt, daß ihr Zustand sich bald völlig normalisiert haben wird. "Hätte ich nicht gedacht, nach diesen Erlebnissen!" sagt sie.

"Vielleicht ist irgend etwas in der Welthöhle, was die Menschen leistungsfähiger macht?" denke ich laut nach.

"Und was sollte das sein?"

"Weiß ich nicht." Weiß ich wirklich nicht: Die meisten Umgebungsparameter hier sind eher geeignet, jede Leistungsfähigkeit eines normalen Menschen zu ruinieren. Aber wer weiß, welche genetische Erinnerung sich unter diesen Umständen bemerkbar macht.

Es ist ein ziemlicher Schlängelkurs, den wir an diesem Sonntag fahren. Die Trägheitsnavigation verrät uns das. Es ist keine böse Absicht von Chranchrar dahinter: sie folgt dem üblichen Windmuster. Jedenfalls so, wie sie sich daran erinnert. Die Geschwindigkeit von 10 Kilometern pro Stunde erzeugt immer einen Fahrtwind von vorne, der meistens stärker als die natürlich vorhandenen Winde ist. Ob sie das verwirrt? Auf einem Segelfloß gibt es keine Gegenwinde.

Montag morgen, 8 Uhr. 22. Februar. Carola taucht zum Frühstück in der Kantine auf und setzt sich mir gegenüber.

"Wo ist denn der Edwin?" fragt sie.

"Wache. Geht jetzt wahrscheinlich ins Bett. Wenn er nicht noch einen Happen essen will."

"Ach so." Sie ist schweigsam.

"Carola," ruft Solzbach von seinem Tisch hinüber, "machst du jetzt Kurse in Injektionsspritzen-Duell?" Das soll vielleicht eine Art Kompliment sein, aber Carola reagiert nicht so darauf, wie Ulrich das vielleicht erwartet. Eigentlich reagiert sie überhaupt nicht.

"Jetzt werden wir bald Grom sehen." sage ich.

"Und was haben wir davon?"

Darauf kann ich nichts sagen.

"Ich mag diese Granitbeißerinnen nicht." fährt Carola fort, "Überhaupt nicht."

"Das mußt du ja auch nicht."

"Aber du verteidigst sie immer wieder."

"Das hat nichts miteinander zu tun!"

Wieder Anschweigen. Als Carola mit ihrem Frühstück fertig ist, verläßt sie die Kantine wortlos.

"Die wird schon wieder." sagt Cohäuszchen.

"Das habe ich nicht bezweifelt."

Wenn schon kleine Variationen des eigenen Zustandes - Hunger, Müdigkeit, Ausgeglichenheit - aus einer gespannten und interessierten Erwartung eine defensive Ablehnung machen können, dann ist es nur zu verständlich, daß Carola noch mürrisch und ablehnend ist. Muß ich wohl nicht persönlich nehmen. - Außerdem ist sie ja schließlich noch hospitalisiert.

Wir kreuzen den ganzen Montag, so, wie Chranchrar uns den Kurs anweist. Die Hauptrichtung ist Nord bis Nordost. Die zurückgelegte Strecke ist schon etwa 300 Kilometer, aber Luftlinie ist es natürlich viel weniger. Wir befinden uns immer noch in einer See zwischen Säuleninseln, aber gegen Abend bewegen wir uns auf eine enge Schlucht zu. Chranchrar meint, daß es nun nicht mehr weit ist. Diese Schlucht ist noch zu durchfahren, und dann sind wir da. Die CHARMION bleibt für diese Nacht vor dem Eingang dieser Schlucht stationär.

Abends gehe ich noch einmal mit Edwin, der inzwischen seinen Schlaf nachgeholt hat, an Deck. Der Bug der CHARMION zeigt in Richtung dieser Schlucht, aber weil die Granitbeißerin sich da aufhält, unter den wachsamen Augen von Aldingborg und Serpinski, gehen wir nach hinten. Da sehen wir genauso viel.

Die Säulenwaldsee ist hier zunächst zu Ende. Die Welthöhle wird hier nach Norden durch ein Labyrinth von großen Löchern und steilen Felsstürzen abgeschlossen. In manchen dieser Öffnungen gibt es keine Leuchtende Wolkendecke mehr, und diese sind dann abweisend dunkel - schwarze, gewaltige Gewölbe und hohe Hallen nördlich von uns. Aber vor uns bildet eine dieser Öffnungen diese himmelhohe Schlucht, die von einem Schiff befahren werden kann. Der befahrbare Wasserstreifen ist einige hundert Meter breit, rechts und links sind diese Felswände aber sehr steil - zu steil für jede Vegetation. Hoch über uns verschwinden sie in der Leuchtenden Wolkendecke. Nur vereinzelte Simse in unzugänglichen Höhen zeigen Bewuchs, so schwer zugänglich, daß wahrscheinlich nicht einmal eine Granitbeißerin bisher ihren Fuß dahin gesetzt hat.

"Ich habe gehört, daß wir hier mit Schiffen zu rechnen haben - hier in der Nähe von Grom." sagt Edwin.

"Wieso, hast du mit ihr gesprochen?"

"Nein nein, aber Amerlingen hat es gesagt. - Liegt eigentlich auch nahe, wenn wir wirklich in der Nähe von Grom sind."

"Hat er auch gesagt, was wir machen, wenn eins auftaucht?" frage ich.

"Nein. Sie überlegen sich sowieso noch, wie sie die Alte da vorne daran hindern, in dieser Schlucht von Bord zu gehen."

"Wäre das ein großer Schaden? Sie sollte uns bis dicht vor Grom führen, und das hat sie gemacht. Es wäre mehr ihr Problem, wenn sie sich hier ohne das Boot durchschlagen will. - Wahrscheinlich ist sie dazu auch in der Lage."

Edwin kratzt sich am Kopf. Wir sind schon wieder triefend naß. Die Kühlspringbrunnen. "Wie lange diese Schlucht sein wird, das haben sie noch nicht aus ihr rausgekriegt." sagt er.

"Wundert mich nicht. Das dauert noch etwas, bis die Granitbeißerinnen etwas über Geometrie lernen."

Chranchrar am anderen Ende des Bootes wendet uns den Rücken zu. Sie hockt zusammengekauert da und rührt sich nicht. Ob sie schläft?

"Dabei wäre doch eine geometrische Navigation viel einfacher!" denkt Edwin laut nach, "Diese enorme Mächtigkeit des Zahlbegriffes! Mit zwei Zahlen kannst du jeden Ort auf der Erde eindeutig bezeichnen! - Komisch, daß sie das noch nicht herausgefunden haben."

"Gar nicht komisch," widerspreche ich, "Sie haben eine Art Zahl, die sie bei der Navigation verwenden. Eine Reihe binärer Werte, wenn du so willst. Von einem bestimmten Ort ausgehend muß man sich ja immer nur merken, wo man eine neue Kursentscheidung zu machen hat. Diese Abbiegung links, die nächste rechts, dann geradeaus, soweit wie möglich. Einfache, binäre Entscheidungen. Ein sehr einfaches Konzept. Und wer unter den Granitbeißerinnen genügend solche Navigationsreihen kennt, ist Navigator. Die Nützlichkeit dieses Konzeptes wirst du ihnen nicht ausreden können. - Sie brauchen da gar keine Zahlen!"

"Aber solche langen Entscheidungsreihen muß man sich doch merken!"

"Das tun sie auch, weil sie das können. Und du kannst es auch!"

"Ich?"

"Ja! Sich geographische Zusammenhänge zu merken, das können Menschen im allgemeinen sehr gut, ohne daß sie sich dessen bewußt sind. Die Fortbewegung ist ja mit ständig wechselnden Bildern verknüpft, und diese Folge kann man sich sehr gut merken. Das hat man mit ganz normalen Personen probiert. Man hat Versuchspersonen eine Reihe von Hunderten von Bildern vorgelegt, und dann, nach einer Weile, noch ein zweites mal dieselbe Bildfolge. Beim diesem zweiten Mal jedoch fehlte eins. Und den allermeisten Menschen ist es tatsächlich an der richtigen Stelle aufgefallen."

"Und wie ist es mit der Zeit?" fragt Edwin, "Du hast doch berichtet, daß sie auch da kein Verständnis für eine genaue Zeitmessung haben!"

"Was heute nicht geschieht, das geschieht eben morgen. Oder irgendwann. Diese Haltung findest du doch auch bei uns oben! - Und wenn du es dir überlegst: Wann geht dir Zeitmessung wirklich ab? Du brauchst eine Uhr, um zu wissen, wann dein Arbeitgeber dich wieder sehen möchte. Aber du brauchst keine Uhr, um zu wissen, wann du wieder etwas essen mußt. Das merkst du schon. Und zwar sehr zuverlässig. Und so funktioniert hier vieles!"

"Na, wohl doch nicht alles. Sonst wäre dieser Saurierfänger doch nicht nach Grom zurückbeordert worden. Das spricht doch dafür, daß die Granitbeißerinnen das Konzept 'dringend' kennen."

"Vielleicht finden wir es heraus. Sie dort," ich weise auch Chranchrar, "weiß ja erschreckend wenig."

"Immerhin. Den Kurs nach Grom kennt sie. Wenn sie uns nicht angelogen hat."

Eine Weile sprechen wir nichts. Weit von uns entfernt sehe ich nicht ganz so steile, bewachsene Küstenstreifen. Ich suche kreisende Flugsaurier, aber ich kann keine finden. Und die Wasserfläche rund um uns herum ist reglos und scheint ohne Leben. Was Großtiere betrifft, ist es das auch, denn die Annäherung eines größeren Lebewesens würde die Zentrale uns sofort vorsichtshalber mitteilen. Der Wind ist völlig eingeschlafen, und es wird nicht mehr lange dauern, bis die See wirklich spiegelglatt ist.

"Als ob sich hier nie etwas verändert." sagt Edwin irgendwann, mehr zu sich selbst. Gerade habe ich es auch gedacht.

"Sag bloß noch, 'Wie friedlich die See ist.'!" sage ich.

"Wieso? Ist sie doch!"

"Sieht nur so aus. In der Natur spielen sich hinter den friedlichsten Kulissen die mörderischsten Kämpfe ab. Und oft sind gerade diese Kämpfe Garanten der friedlichen Kulisse."

"Kommst du jetzt mit deinem Beispiel von den schönen, grünen Wiese, die in Wirklichkeit ein Schlachtfeld zahlreicher Lebensformen ist?" fragt Edwin.

"Ist das mein Beispiel? Eigentlich dachte ich jetzt an etwas anderes. Einmal ein Beispiel aus der unbelebten Natur."

"Was denn?"

"Die Sonne. Thermonuklearer Hochofen. Zuverlässiger Lieferant von gleichmäßiger Strahlungsenergie für zehn Milliarden Jahre."

"Ich sehe die Analogie nicht."

"Denk dir das vordergründig 'gefährliche' weg. Die thermonuklearen Vorgänge. Denk dir einen Stern von Sonnenmasse, der aus harmlosen Eisen besteht. Was glaubst du, was passiert?"

"Weiß ich nicht."

"Gravitationskollaps. Zwei mal zehn hoch dreißig Kilogramm Eisen kollabieren unter dem Einfluß der eigenen Gravitation zu einem Neutronenstern oder zu einem Schwarzen Loch. Einige Prozent seiner Masse werden in reine Energie umgewandelt. Eine Faust aus Gammastrahlen - energiereich wie die Strahlung einer ganzen Galaxis. Verdampft alle Planeten. Vergiftet noch auf den Planeten von nur wenige Lichtjahre entfernten Nachbarsystemen die Biosphäre durch einen Hagel energiereicher Teilchen. Das alles passiert, wenn man bei einem Stern den thermonuklearen Sprengstoff Wasserstoff durch harmloses Eisen ersetzt!"

"Naja, gut." gibt Edwin zu, "In diesem Fall ist mag das so sein. In der Astrophysik. Aber daraus kann man kein allgemeines Prinzip machen! - Außerdem dachte ich eben schon, du kommst mit deinem Lieblingsthema!"

"Damit komme ich jetzt! - Stell dir vor, vor gar nicht so langer Zeit hätte es in der Welt der Granitbeißerinnen einen Messias gegeben. Der hätte ihnen sanften sozialen Umgang miteinander gepredigt, und stell dir vor, sie hätten auf ihn gehört!"

"Unwahrscheinlich." sagt Edwin, "Wer hört schon auf einen Messias." Er muß es wissen - seine Frau hat Theologie studiert.

"Natürlich ist das unwahrscheinlich. Aber stell dir nur vor, sie hätten auf ihn gehört. Achte Leben und Gesundheit deines Nächsten wie dein eigenes Leben und deine eigene Gesundheit. Und was den alltäglichen Lebenskampf betrifft: Versucht es einmal mit Ackerbau, Viehzucht und ein bißchen technologischer Entwicklung. Stell dir vor, das wäre vor 20 Generationen hier so passiert - also vor 400 bis 600 Jahren."

"Ich weiß schon, was jetzt kommt." sagt Edwin.

"Dann brauche ich es ja nicht zu erzählen!" sage ich und tue es aber trotzdem: "Unter solchen Umständen kann man die Kopfzahl einer Population in jeder Generation ohne weiteres verdoppeln. Das ist kein Kunststück. Verdoppeln pro Generation heißt in zehn Generationen vertausendfachen. Und in zwanzig Generationen? Glaubst du, daß es unter diesen Umständen hier so friedlich wäre?"

"Was meinst du denn, wie es aussähe?" fragt Edwin.

"Das weiß ich nicht. Das ist das wesentliche an solchen komplexen Systemen, daß man eben nicht genau vorhersagen kann, was passieren wird. Ich weiß nicht, wieviele Generationen es gedauert hätte, bis der Raubbau an den biologischen Resourcen die Welthöhlenökosphäre zum Kippen gebracht hätte. Wann die Verteilungskämpfe angefangen hätten. Die Massenextinktionen. Die Welthöhle ist eine niederenergetische Ökosphäre - die nimmt so etwas schnell übel! Sie ist vielleicht empfindlicher als unsere Antarktis! Ich weiß nicht, wieweit das Leben hier durch einen ökologischen Kollaps zurückgedrängt wird. Ob die Bakterien, die das Leuchten in den Wolken da oben, zum Beispiel, überleben würden oder nicht - allein das hat Einfluß auf die allermeisten anderen Lebensformen hier. - Tja. Das ist wahrscheinlich der Grund, daß die Granitbeißerinnen so sind, wie sie sind. Sozialstrukturen, die hohe Bevölkerungsdichten nicht entstehen lassen. Andernfalls Auslöschung. Vielleicht war das der Fehler der Bewohner der Toten Städte: Es waren nette Lebewesen! Kinderreichtum und Familiensinn. Vielleicht. - Wir wissen es nicht."

"Und wenn sie es jetzt lernen? Die Granitbeißerinnen, meine ich. Durch uns? Ich meine, den Aufbau einer technischen Zivilisation?"

"Ich glaube, sie werden eher Zaungäste sein, wie wir es tun. Wie wir ihre Welthöhle ruinieren. Weil wir schneller sind. Sowie wir erst einmal hier sind. Und das sind wir."

"Mit 'wir' meinst du jetzt uns alle, aus der Welt da oben?"

"Ja. Wir hier sind ja nur die Vorhut."

Edwin sieht sich lange um. "Vielleicht siehst du zu schwarz. Das sieht hier alles so stabil aus, wie für die Ewigkeit ..."

"Rein subjektiver Eindruck. Ein Hauptreihenstern ist auch stabil - bis er seinen Wasserstoff verbraucht hat."

"Und wenn man aus der früheren Kolonisationsgeschichte etwas gelernt hat und hier Fehler vermeidet?" fragt Edwin.

"Wo denkst du hin? Lernen? Wenn es um kurzfristige, wirtschaftliche Interessen geht? Außerdem gab es in der klassischen Kolonisationsgeschichte niemals diesen ökologischen Aspekt. - Es kann sein, daß wir in der Tat etwas lernen. Nämlich, daß wir die Welthöhle unbewohnbar machen und daraus Lehren ziehen, die uns für eine gewisse Weile erlauben, unsere ökologischen Probleme oben besser zu bewältigen. Eine teure Lektion! Die Saurier werden dabei wirklich aussterben, die Granitbeißerinnen ..."

"Hast du deshalb ein schlechtes Gewissen?" unterbricht Edwin mich.

"Weil ich die Welthöhle entdeckt habe?"

"Ja."

"Ich glaube nicht. Jemandem anderen hätte genau das gleiche passieren können. Und selbst, wenn ich eins hätte - was wird dadurch besser? Wenn ich eins hätte - vielleicht habe ich ja auch eins - dann fühle ich mich die 30 oder 40 Jahre, die ich noch zu leben habe, vielleicht schlechter. Aber niemandem hilft das. Der Welthöhle und ihren Bewohnern schon gar nicht. Das ist keine Genugtuung, für niemanden, und keine Wiedergutmachung. Da ist es dann schon besser, wenn ich kein schlechtes Gewissen habe. - Wenigstens für mich selbst."

"Denk mal nach," sagt Edwin, "wenn es so geschieht, wie du es eben gesagt hast, dann kannst du eventuell sogar ein gutes Gewissen haben."

"Wieso?"

"Wenn beide Ökosphären für sich allein über kurz oder lang den Bach runtergehen würden, die eine durch unser Wirken, und die andere, weil die Granitbeißerinnen über kurz oder lang doch von selbst eine technische Zivilisation entwickeln könnten, dann ist es doch eine gute Tat, wenigstens eine der Ökosphären zu retten!"

"Du meinst, weil man aus der Vernichtung der Ökosphäre in der Welthöhle etwas lernen kann?"

"Ja!"

"Edwin! Glaubst du, daß diese Lerninhalte ewig vorhalten? - Manchmal wirken Katastrophen in der Tat erzieherisch, ja. Die Nazis, zum Beispiel. Ohne die wäre die alte Bundesrepublik nicht über lange Jahre und Jahrzehnte einer der sozialsten und trotzdem leistungsfähigsten Staaten der Welt gewesen - die beste Inkarnation eines Rechtsstaates. Auf dem ganzen Planeten. Aber du siehst ja: Die Nazis sind Geschichte. Mehr als ein halbes Jahrhundert ist vorbei. Es leben kaum noch Augenzeugen. Der Lerneffekt läßt nach. Vergleich mal die EG-verbindlichen Rechtsnormen mit denen der alten Bundesrepublik! Wenn du da irgendwo eine deutliche Verbesserung siehst, dann mußt du mir das einmal erklären! Die EG driftet doch schon längst wieder in Richtung antidemokratischer und bürokratischer Strukturen."

"Katastrophen als geschichtlicher Nachhilfeunterricht mit begrenzter Wirkungsdauer?" fragt Edwin.

"Ja. Ich fürchte, ja. - Aber wie dem auch sei - Ich will dir nicht die Freude an der Kontemplation dieser friedlichen und ruhigen Kulisse nehmen!"

"Nachdem du mir klargemacht hast, daß wir das den bluttriefenden Schwertern der Granitbeißerinnen zu verdanken haben! - Ich glaube, ich gehe jetzt schlafen."

"Tu das. Und reg die Carola nicht mit dem auf, was ich eben wieder von mir gelassen habe!"

"Weil du das selbst tun willst, nicht wahr?"

"Genau!" sage ich.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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