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83. Die Gefangene
Meine Reflexe sind wie erstarrt. Eine Granitbeißerin erwarte ich an Bord der CHARMION am allerwenigsten zu sehen. Und nach dem, was wir gehört und gesehen haben, möchte das wohl auch keiner von uns. Trotzdem steht eine vor mir. Hager und sehnig, dreckig und blutverschmiert, der Lederstreifenrock trieft vor Nässe. Das Lederwams auch. Sie war offenbar gerade im Wasser gewesen - das erspart uns ihren Körpergeruch.
Dann sehe ich aber auch das Schwert der Granitbeißerin. Unter ihrer Kehle. Eugen Serpinski hält es. Und da sind noch Sydekum, Amerlingen und Dauphin. Dahinter ist Doktor Morton.
Amerlingen hat von hinten eine Pistole auf die Granitbeißerin gerichtet. Allerdings bezweifele ich, daß diese die Bedeutung dieses Gegenstandes kennt. Es geht also nicht um Einschüchterung, sondern um eine Sicherheitsmaßnahme: Amerlingen wird schießen, wenn die Granitbeißerin etwas Unerwartetes tut.
Interessanterweise stehe ich in der verlängerten Schußbahn!
Die Granitbeißerin tut aber nichts. Das Schwert unter ihrer Kehle, und die beeindruckenden Muskelberge von Eugen Serpinski, und wahrscheinlich die ungewohnte Umgebung lähmen sie.
"Können Sie mal zur Seite gehen? Wir müssen sie verarzten!" sagt Amerlingen.
"Ihr wollt sie doch nicht etwa neben Carola hospitalisieren?" frage ich entsetzt, "Die hat Fürchterliches erlebt! Die darf keine Granitbeißerin zu Gesicht bekommen! Jetzt jedenfalls noch nicht."
"Ist die Frau Rau bei Bewußtsein?"
"Sie schläft, aber sie kann jederzeit aufwachen."
Doktor Morton schiebt sich von hinten nach vorne: "Herr Homberg hat recht. Die Frau Rau muß wieder auf die Beine kommen. Ich glaube nicht, daß der Anblick einer Granitbeißerin dazu förderlich ist."
Amerlingen nickt. "Herr Homberg, sagen sie ihr, daß sie sich hinlegen soll."
"Hier, auf dem Gang?"
"Ja."
Ich sehe der Granitbeißerin ins Gesicht und deute auf den Fußboden: "Hinlegen!"
Sie rührt sich nicht.
"Sie will nicht." sage ich.
Eugen Serpinski greift mit der freien Hand nach ihr. Eine Sekunde später liegt die Granitbeißerin rücklings auf dem Boden. Auf ihrem Gesicht zeigt sich eine Spur von Erstaunen. "Sie will doch!" sagt Eugen.
"Herr Homberg, erklären Sie ihr mal ihre Lage! Sie können das sicher am besten. Diese Dame ist wahrscheinlich die letzte Überlebende des Saurierfängers. Wir haben sie gerade aufgefischt." Amerlingen hält die Pistole jetzt abwärts - das ist wenigstens nicht mehr meine Richtung.
Ich hocke mich hin und nehme mein Xonchen zusammen: "Dieses Schiff, auf dem du dich befindest, ist die CHARMION. Es ist normalerweise ein blitzsauberes Schiff. Schau dir an, was für einen Dreck du gemacht hast!" Ich zeige auf den Boden, wo Wasser und Blut verschmiert worden sind, "Schau es dir genau an. Wenn du nicht unsere Fragen beantwortest, wirst du das ganze Schiff sauberlecken! Hast du das verstanden? - Und wenn du es dann immer noch nicht tust, dann werden wir dich schlachten. Hast du auch das verstanden? - Du kannst dir das alles ersparen, wenn du unsere Fragen beantwortest."
"Homberg, Sie gehen ein bißchen weit!" sagt Amerlingen.
"Wir müssen ihr schnell klarmachen, wer hier an Bord das Sagen hat. Und die Androhung, sie aufzuessen, ist hier unbedingt glaubwürdig." Und wieder in Xonchen zu der Granitbeißerin: "Hast du verstanden, was ich eben gesagt habe?"
"Ja." sagt sie. In ihrem Blick ist Trotz und lauernde Vorsicht.
"Wirst du unsere Fragen beantworten?"
"Ja."
"Okay. Setz dich so hin wie ich. Wie heißt du?"
"Chranchrar."
"Chranchrar? Ist das so richtig: 'Chranchrar'?"
"Ja."
"Wie heißt euer Schiff?" Sie guckt mich verständnislos an.
"Das ist in Ordnung," erläutere ich den anderen, "Schiffe haben bei den Granitbeißerinnen meist keine Namen."
"Bist du verletzt?"
"Nein." Das stimmt zwar nicht - sie ist verletzt. Aber eine Granitbeißerin würde nur sehr schwere Verletzungen überhaupt als Verletzungen bezeichnen. Oberflächliche Verbrennungen und schwere Hautabschürfungen zählen da nicht.
"Was habt ihr auf eurem Schiff gemacht?"
Chranchrar sieht mich verständnislos an. Sie kann nicht wissen, daß es im Prinzip Menschen geben kann, die nicht wissen, wozu ein Saurierfängerschiff gut ist. Jede Granitbeißerin weiß das doch. Ich kriege wenige Informationen aus ihr heraus, die in etwa bestätigen, daß es sich um einen normalen Saurierfänger gehandelt hat. Interessant ist allerdings, daß sie in der Tat einen Befehl erhalten haben, der sie zur vorzeitigen Rückkehr nach Grom aufgefordert hat. Dieser Befehl wurde von einem anderen Schiff übermittelt.
"Ihr wart also auf dem Rückweg nach Grom?"
"Ja."
"Ihr solltet auf dem schnellsten Wege dahin zurück?"
"Ja!" Sie sieht wieder erstaunt auf. Vielleicht ist es selbstverständlich, daß etwas, was Grom anordnet, auf dem schnellsten Wege zu geschehen hat.
"Warum habt Ihr euch dann noch für weitere Fangoperationen Zeit genommen?" Bin neugierig, ob ich das Wort 'Fangoperationen' in Xonchen richtig hingekriegt habe.
"Das geht so nebenbei." sagt Chranchar.
"Fragen Sie sie, was die gehäuteten Menschen am Mast zu bedeuten haben!" wirft Amerlingen ein. Die Antwort von Chranchrar ist nicht sehr erhellend: "Befehl der Kommandantin."
"Ja, aber welchen Zweck hat es genau?" bohre ich nach.
"Die Kommandantin wollte es so."
"Ist es irgendwie nützlich?"
"Die Kommandantin wird es wissen."
"Die Kommandantin ist tot. Weißt du es?"
"Nein." Keine Ahnung, ob sie es wirklich nicht weiß, oder ob sie es nicht sagen will.
Ich blicke auf: "Was soll ich sie noch fragen?"
"Ob sie uns den Weg nach Grom führen kann." schlägt Amerlingen vor.
"Kannst du uns nach Grom führen?" frage ich in Xonchen.
"Ja." Die Antwort kam etwas zu schnell. Naja, ungefähr kann ich mir denken, welche Hintergedanken sie dabei haben könnte.
"Wie weit ist das weg?"
Sie sieht mich verständnislos an. Ich kläre die anderen auf: "Die Granitbeißerinnen haben ein sehr ungeometrisches Verhältnis zur Navigation. Ich habe ja die ungenauen Karten in meinem Buch beschrieben." Und dann frage ich noch einmal in Xonchen: "Wie lange hätte es mit eurem Schiff gedauert?"
"Elf Tage."
"Das ist ja schon eine Information!" sagt Amerlingen.
"So?" frage ich, "Ist es das? 11 Kilometer pro Stunde mal 27 Stunden mal die 1.8 Kilometer pro Stunde, die der Saurierfänger bis zum Schluß zurückgelegt hat - das sind ungefähr 530 Kilometer. Luftlinie also vielleicht viel weniger, und wenn sie unterwegs stärkeren Wind erwartet haben, viel mehr. Ich würde sagen, es sind mehr als 30 und weniger als 3000 Kilometer!"
"Sind Sie sicher, daß das so unsicher ist?"
"Solange man die Strecke nicht selbst einmal gefahren ist, ist es so unsicher. Denken sie daran: Die Navigation bei den Granitbeißerinnen besteht in der Führung einer Ortskundigen, die die Strecke schon kennt."
In diesem Augenblick geht das Schott zum Steuerbordteil des Krankenreviers auf. Natalie kommt mit Stephen Spaliter heraus. Sie haben gar nicht gemerkt, was sich vor ihrer Tür abspielt, so gut, wie die Räume der CHARMION gegeneinander schallisoliert sind. Verblüfft sehen sie uns und die am Boden liegende Granitbeißerin an.
"Was ist denn hier los?" fragt Spaliter.
"Kundschaft!" sage ich, "Du hast jetzt Gelegenheit, einer Granitbeißerin das Gebiß zu untersuchen!"
"Warum sollte ich das tun? Eine Behandlung pro Tag reicht mir!" Er zeigt auf Natalie, "Und ihr wohl auch."
"So schlimm war es nicht." stellt Natalie fest. Auch sie sieht sich die am Boden liegende Chranchrar an. Und diese guckt aufmerksam zurück.
Sogar sehr aufmerksam. Ich stelle fest, daß Chranchrar Natalie's Busen mustert. Für eine Granitbeißerin, die im Durchschnitt flacher gebaut sind als Mitteleuropäerin, muß Natalie außergewöhnlich viel Holz vor der Hütte haben. Das ist für sie anatomisch interessant und hat nichts mit einer möglichen lesbischen Veranlagung von Chranchrar zu tun. Sie ist eben neugierig, das ist alles.
Weiterhin ist für Chranchrar die Hierarchie an Bord undurchschaubar. Vielleicht hat sie noch nicht gemerkt, daß bei uns Männer keine Menschen zweiter Klasse sind. Dann muß in Natalie eine höhergestellte Person an Bord vermuten, eigentlich auch in Doktor Morton, die aber sehr unauffällig im Hintergrund steht.
Natalie guckt ebenso interessiert zurück: "Das ist also eine ..."
"Ja," sage ich, "gehe nicht zu nahe ran. Die sind unberechenbar!"
In dem engen Gang ist das ein überflüssiger Ratschlag - es ist hier jetzt reichlich voll. Natalie beugt sich zu der liegenden hinunter.
Eine blitzschnelle Bewegung - so schnell, daß ich nicht folgen kann. Natalie liegt plötzlich ebenfalls am Boden, die Hand der Granitbeißerin um die Kehle. Gleichzeitig hat Chranchrar Natalie so über sich gezogen, daß sie eine Deckung gegen das Schwert in Eugen's Hand hat. Natalie ist natürlich völlig wehrlos - sie hat keinerlei Nahkampfausbildung.
Für die Granitbeißerin ist das Schwert das wichtigste. "Laß es fallen!" herrscht sie Eugen an. Auch wenn dieser nicht alles versteht, was in Xonchen gesprochen wird - der Tonfall ist deutlich genug. Er läßt es fallen. Wenige Sekunden später steht die Granitbeißerin mit dem Rücken zur Wand, Schwert in der Hand und Natalie als Deckung.
Amerlingen hat zwar noch seine Pistole. Aber erstens kann er nicht damit drohen, weil die Granitbeißerin diese nicht als Waffe erkennt - er ihr müßte diese Waffe ja erst erklären. Und zweitens steht Natalie einer direkten Anwendung im Wege.
Wieso, denke ich mir, wird Natalie überhaupt noch als Deckung mißbraucht, wenn keiner der Anwesenden mehr eine für die Granitbeißerin erkennbare Waffe hat?
Die Granitbeißerin drückt sich an der Wand entlang, auf den Reaktorraum zu. Dabei kommt sie mit dem Rücken an der Tür zum Krankenrevier zu stehen. Diese rollt dadurch teilweise auf. Chranchrar merkt es nicht. Sie überlegt fieberhaft - ihr ist nicht klar, wie es jetzt weitergehen soll. Gespanntes Schweigen, nur unterbrochen von ihrem heftigen Atem.
"Ich will nach Grom!" sagt sie, "Sonst ist eure Kommandantin tot!" Also hält sie Natalie für unsere Kommandantin. Auch gut. Wofür, weiß ich noch nicht.
"Gut," sagt Amerlingen, "sagen Sie ihr, daß wir nach Grom fahren. Sie muß uns natürlich den Weg verraten!" Ich übersetze das.
Die Granitbeißerin blickt gehetzt um sich. Ich kann mir denken, warum: An Bord eines Saurierfängers ist man praktisch immer im Freien. Man kann immer die Umgebung sehen, allenfalls steht einem ein bißchen Takelage im Wege. Sogar in den Deckshäusern gibt es Fenster und Ritzen. Dieses hier muß ihr aber wie eine Höhle vorkommen, eine absolut dichte, wenn auch hell beleuchtete Höhle. Eine Höhle, die für ihre Begriffe saukalt sein muß. Daß dieses ein Schiff sein soll hat sie zwar zur Kenntnis genommen, aber die Einzelheiten versteht sie nicht. Sie versteht nur ein: Sie hat unsere Kommandantin in ihrer Gewalt. Wie sie glaubt. Es macht für uns aber keinen Unterschied, daß Natalie nicht die Kommandantin ist.
"Wir müssen nach oben, an Deck, damit du sehen kannst, wohin wir fahren!" sage ich in Xonchen. Chranchrar sieht mich aufmerksam, dann verwundert an. Dann läßt sie das Schwert fallen, danach Natalie. Dann fällt sie selbst.
Die Tür zur Krankenstation geht ganz auf. Da steht Carola. Sie blutet am Handgelenk - die angerissenen Infusionskanülen. In einer Hand hält sie eine Injektionsspritze. Sie läßt sie fallen, dann setzt sie sich selbst mit offenbar zitternden Knien auf den Boden. Doktor Morton huscht auf sie zu: "Mädchen! Du sollst doch im Bett bleiben!"
Eugen hat das Schwert wieder an sich genommen. Er untersucht die Granitbeißerin: "Tiefschlaf!" sagt er nach einer Weile, und dann fragt er Carola: "Was hast du ihr denn da verpaßt?"
Carola ist nicht so richtig da. Doktor Norton untersucht sie mit ein paar Griffen. Dann hebt sie die Spritze auf:
"Thiopental." sagt sie, "Einmalspritze. 360 Milligramm. - Da liegt ja noch eine!"
Carola blickt benommen zu ihr auf. "War es richtig?" fragt sie. Wir helfen Doktor Norton, Carola wieder auf ihre Liege zu bringen. Eugen kümmert sich derweil um die Granitbeißerin.
"Goldrichtig," sagt Doktor Morton zu Carola, "man verwendet das zur schnellen Narkoseeinleitung." Und zu Eugen Sepinski ruft sie hinüber: "Sie wird gleich wieder aufwachen! Seien sie vorsichtig!"
"Ich glaube nicht, daß sie so schnell aufwachen wird!" sage ich, denn ich habe neben der Tür eine weitere Einmalspritze gesehen. Als ich mich bücke, um sie aufzuheben, fällt mir eine vierte unter Carola's Liege auf. "Wieviel hast du ihr denn verpaßt?" frage ich.
"Mmh - Ganzen Fünferpack." sagt Carola. Sie wirkt schläfrig.
Ich kann die fünfte nicht gleich finden, erst, als ich auf die Tischplatte neben dem Medikamentenschrank nachsehe. Die fünfte ist noch halbvoll, und an der Kanüle hängen Hautfetzen.
"Hast du dich selber mit dem Ding verletzt?" frage ich, aber Carola antwotet nicht mehr. Doktor Norton kommt kurz rüber: "180 Milligramm. Naja, das ist nicht gefährlich. Für eine Narkoseeinleitung bei einem gesunden Menschen wäre es etwas wenig. Man braucht etwa 4 bis 5 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht."
"Dann hat die Granitbeißerin 1440 Milligramm abbekommen!" sage ich, "Mindestens. Überlebt sie das?"
"Ja. Aber sagen Sie Serpinski, er soll auf ihre Atmung aufpassen. Sie wird trotzdem bald wieder aufwachen." Dann kümmert sie sich wieder um Carola. Allmählich wird uns allen klar, aus welcher Situation Carola uns gerettet hat.
Natalie steht immer noch da, wo die Granitbeißerin sie losgelassen hat. "Fehlt dir etwas?" frage ich.
"Nein." sagt sie, "Ich hatte nur Angst. Die hat gezittert - Alles hätte passieren können!"
"Weißt du, wo in der Krankenstation das Verbandsmaterial liegt?"
"Ja! Warum?"
"Da gibt es doch so schöne, reißfeste Klebestreifen für Verbandszwecke. Du könntest sie mal etwas demobilisieren - Handgelenke und Fußgelenke reicht wohl." Das läßt Natalie sich nicht zweimal sagen.
Die Granitbeißerin rührt sich wieder. Sie hustet. Aber bevor sie wieder ganz zu Bewußtsein kommt, ist sie gefesselt. Das erste, was sie sieht, ist Eugen Serpinski, der mit ihrem eigenen Schwert vor ihr kniet.
"Gut geschlafen?" fragt er, indem er sein 'Schul-Xonchen' zusammen nimmt, "Sollte das ein Trick werden? Bei einem Kampf einfach einzuschlafen?"
Die Granitbeißerin guckt ihn wortlos an. Sie versteht die Welt nicht mehr. Die Einstiche in ihrem Rücken hat sie entweder nicht gespürt, oder ihnen keine Bedeutung beigemessen. Daß sie in einer Konfliktsituation einfach eingeschlafen ist, daß muß ihr Selbstwertgefühl schwer beschädigen. Darüber hinaus kann sie natürlich nicht verstehen, wie das passieren konnte.
Anästhesie gibt es in der Welt der Granitbeißerinnen nicht.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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