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82. Auf dem fremden Schiff
"Ärgern Sie sie nicht!" Doktor Morton verläßt netterweise die Krankenstation, als ich eintrete, nicht ohne mir diesen Ratschlag mitzugeben, "Sie ist noch schwach."
"Wann hätte ich jemals ..." fange ich an, aber sie hat schon die Tür hinter sich zugemacht.
Carola sieht besser aus und ist bei vollem Bewußtsein. Wieviel davon wirkliche Erholung ist, und wieviel auf Medikation zurückzuführen ist, weiß ich natürlich nicht.
"Wie geht es dir?" frage ich.
"Ich weiß nicht. Wie auf rosa Wolken und in der Grube gleichzeitig."
"Komischer Vergleich. Sie hat dir sicher irgendwelche Psychopharmaka verpaßt."
"Ja." sagt Carola langgedehnt, "Sicher hat sie das."
"Du wolltst mich sprechen?"
"Ja. - Ich weiß nicht, was wirklich passiert ist. Und was nicht."
"Du warst fünf Tage lang verschollen."
"Es ist wie ein Traum. Schöne Dinge und scheußliche Dinge. Mehr scheußliche Dinge. Ein Fiebertraum."
"Fieber hast du zweifellos gehabt, als wir dich aufgefischt haben."
Sie macht die Augen zu. "Ich kann mich nicht erinnern."
"An die Haie?"
"Doch. An die schon. Die haben mich ja dauernd - Herwig, kann das sein? Als ob sie mir helfen wollten!"
"Hier ist alles möglich. Wir sind in der Welthöhle. Das ist eine ganz andere Welt. Vielleicht sind Haie hier so. - Immerhin, sie haben dich gerettet, oder sagen wir mal, du hast dich irgendwie an ihnen festgehalten, als wir dich gefunden haben."
"Wie kann das sein? Ich war doch nicht die ganze Zeit bei Bewußtsein!"
"Ich weiß es auch nicht. - An was erinnerst du dich denn?"
"Tja." sagt Carola und sieht mir ins Gesicht, "Wir sind schwimmen gegangen."
"Das ist wirklich passiert." Pause. "Und das, woran du jetzt denkst, auch." fahre ich fort.
"Du warst plötzlich weg. Und dann war das Boot weg. - Ich war so sauer."
"Auf mich? - Kann ich verstehen."
"Auf alle. - Was ist denn passiert?"
Ich erzähle, was wir inzwischen wissen. Sie will es kaum glauben: "Die Gabi Gohlmann? Diese halbe Person? Die hat das alles gemacht?"
"Vieles. Nicht alles. Mit der Direktive q78q99q hat sie nichts zu tun. Glaube ich."
Carola macht die Augen schon wieder zu. Sonst liegt sie reglos. Sie hängt immer noch an Infusionsflaschen, aber es sind nicht mehr so viele. Und der Monitor zeigt, daß ihr Herzschlag auch wieder regelmäßiger und langsamer ist.
"Soll ich gehen? Ist es zu anstrengend?" frage ich.
"Nein. Ich will es ja wissen. Da waren plötzlich die Haie."
"Gleich, nachdem wir getaucht waren?"
"Ziemlich. Ich war in Panik. Erst, weil ihr plötzlich verschwunden wart, und dann wegen der Haie. Da drängte sich dann einer an mich, und ich hielt mich an der Flosse fest."
"Einfach so?"
"Einfach so. Als ob sie drauf gewartet hätten, sind sie dann losgeprescht."
"In welche Richtung?"
"Weiß ich nicht. Sieht doch hier alles überein aus. Und ich hatte doch keine Brille."
"Ach ja. - Wie lange ging das?"
"Lange. Ich weiß nicht mehr. Es war anstrengend, wegen der Hitze. Irgendwann habe ich das Bewußtsein verloren."
"Dann mußt du dich bewußtlos an dem Hai festgeklammert haben!"
"Glaube ich nicht. Ich habe vorher immer schon losgelassen. - Die haben irgendetwas anderes gemacht, aber ich weiß nicht, was."
"Und dann?"
"Und dann wird es immer verworrener. - Da waren Schiffe."
"Mehrere?"
"Ich bin nicht sicher. Ich habe immer nur eins gesehen. Plötzlich war es ganz in der Nähe. Und dann war ich plötzlich an Bord."
"An Bord des Schiffes?"
"Ja. Sie redeten mit mir. Alles Frauen, genau, wie du es beschrieben hast. Die Kleidung und so."
"Du hast es also tatsächlich verstanden?"
"Ein bißchen. Entweder hat das Xonchen, das du uns beigebracht hast, einen Dialekt, oder das, was die da gesprochen haben."
"Schon möglich. Und was war weiter?"
"Die wollten natürlich wissen, wer ich bin und woher ich komme. Außerdem haben sie mich behandelt, aber ich weiß nicht, womit. Es ging mir eine Zeitlang besser. Aber dann mußte ich ja erzählen, woher ich komme, und ich war zu träge, mir etwas auszudenken. Geistig träge, wenn du verstehst, was ich meine."
"Ja. Weiter!"
"Als ich etwas von einem Schiff erzählte, das tauchen kann, sind sie fast wütend geworden. Dann haben sie aber gemeint, daß ich krank bin. Oder geisteskrank. Sie haben nicht viel mehr gefragt. Ich konnte mich dann frei an Bord bewegen. Und dann - das war so schrecklich! Das kann einfach nicht wahr sein."
"Was?"
"Ich mags gar nicht erzählen. Ich mag gar nicht daran denken!"
"Du hast es schon erzählt. Im Fieber."
"Ja?"
"Die Gehäuteten am Mast."
"Ich muß krank sein, wenn ich mir sowas zusammenphantasieren kann."
"Du bist nicht krank. Wir sind auf das Schiff gestoßen. Und es waren gehäutete Menschen am Mast."
"Ja?" fragt sie ungläubig.
"Ich erzähle dir gleich die Einzelheiten, aber mach du erstmal weiter. Es ist wahrscheinlich alles richtig. Alles, an was du dich erinnern kannst, hat sich wahrscheinlich wirklich zugetragen. Und deshalb müssen wir es wissen."
Carola atmet tief durch. Es strengt sie also doch an. Wenn ich ein rücksichtsvoller Mensch wäre, dann würde ich sie jetzt schlafen lassen. Aber erstens bin ich das nicht, und zweitens hat sie mich ja selbst rufen lassen.
"Denk dran: Heute konsumieren schon Kinder jede Menge Horrormovies!" sage ich, "Das muß man ab können. Besonders hier."
"Aber wenn es doch Wirklichkeit ist? - Es ist so scheußlich."
"Warum sollten ausgerechnet die Granitbeißerinnen eine höhere Ethik haben als wir? Wir haben uns doch in unserer Geschichte auch schon einiges geleistet!"
"Du warst nicht dabei - deshalb kannst du so reden!"
"Deshalb wollen wir es ja auch von dir hören. Nur das wichtigste - nicht alle Einzelheiten!"
Carola holt noch einmal Luft.
"Also. Ich sagte eben, ich durfte auf dem Schiff frei herumlaufen. Ich war aber noch schwach, und mir war übel. Ich setzte mich auf die Balkenreeling und nahm kaum wahr, was um mich herum geschah. Und ich hatte den Eindruck, daß niemand mich besonders beachtete. - Nach einer Weile erst sah ich mich genauer um."
"Ja?"
"Dann erst fielen mir auch Männer auf. Und es war auf den ersten Blick zu sehen, daß sie die einfachen Arbeiten an Bord verrichten mußten. So, wie du es beschrieben hattest. Die Drecksarbeiten eben. Plötzlich schrie irgendjemand einen Befehl, den ich nicht verstand, und vier Granitbeißerinnen kamen aus einem der Deckshäuser heraus. Sie griffen sich einen von den Männern. Ich hatte den Eindruck, sie griffen sich den ersten, der ihnen über den Weg lief. Ich dachte, jetzt kommt eine dieser scheußlichen Vergewaltigungsszenen, die du beschrieben hast. Aber das war es nicht."
"Sondern sie haben den gleich gehäutet?"
"Nein. Haben sie nicht." Carola schüttelt heftig den Kopf, "Sie haben ihm gewaltsam etwas eingeflößt. Dadurch schien er irgendwie willenlos zu werden. Hat sich überhaupt nicht gewehrt. - Das haben sie dann mit mehreren Männern gemacht."
"Mit wievielen?"
"Ich glaube, es waren sechs. - Ja, und dann gab es noch einen Befehl, und einer nach dem anderen wurde dann an den Mast genagelt."
"Nicht gebunden?"
"Nein - genagelt. Diese Männer waren so betäubt, daß sie noch gar nicht richtig mitkriegten, was mit ihnen geschah. - Ja, und erst dann fingen sie an, diesen Männern die Haut abzuschneiden. Dabei muß die Betäubung nachgelassen haben, denn sie fingen fürchterlich an zu schreien."
"Hast du rausgekriegt, warum das gemacht wurde?"
"Nein. Es hatte einen Zweck. Die Granitbeißerinnen, die das gemacht haben, haben das wie eine lästige Arbeit verrichtet. Eine Routinesache. Als ob sie das alle paar Tage machen. - Jedenfalls war es kein spontaner Anfall von Grausamkeit oder Lust am Quälen. Sie haben sie einfach an den Mast genagelt und gehäutet! - So, wie andere Leute das Geschirr nach dem Essen wegräumen. - Es hatte irgendeinen Zweck, aber ich weiß nicht, welchen."
"Ich verstehe."
"Nichts verstehst du. Die Kommandantin - oder die, die ich dafür hielt - unterhielt sich dann mit einigen dieser Granitbeißerinnen. Dabei blickten sie in meine Richtung. Plötzlich dachte ich, daß sie das mit mir auch machen wollten. Da sprang ich über Bord."
"Haben sie dich nicht wieder rausgefischt?"
"Wollten sie vielleicht. Es gab viel Geschrei an Deck, aber dann schwamm das Schiff davon, ohne daß etwas geschah. Und ich war wieder allein im Wasser. - Das nächste, was ich weiß, ist, daß ich mich wieder an einem Hai festgehalten habe."
"Wo kam der denn her?"
"Das weiß ich nicht."
"Und dann?"
"Weiß ich nichts mehr. Überhaupt nichts."
Carola schweigt, und ich nutze die Gelegenheit, ihr unsere Begegnung mit dem Saurierfänger zu erzählen. Sie läßt nicht erkennen, ob sie über das Ende des Schiffes irgendwie befriedigt ist. Oder ist sie wieder eingeschlafen?
"Ich will hier weg!" sagt sie, "Raus aus der Welthöhle!"
"Können wir nicht. Nicht so schnell." sage ich, "Aber hier an Bord bist du sicher. - Wir gehen nicht noch einmal schwimmen!"
"Diese Gohlmann." sagt sie nach einer Weile.
"Tja. - Jetzt läuft sie herum wie ein Häuflein Elend mit Beinen. Will gar nicht mehr auffallen."
"Da fällt mir noch etwas ein," sagt Carola, "als sie mich befragt haben, haben sie gesagt, daß sie auf dem Wege nach Grom sind. Und es soll gar nicht mehr weit sein!"
"Tatsächlich?"
"Ja! Ich hatte den Eindruck, daß sie unzufrieden waren. Zuwenig gefangen. Oder diese Fangexpedition war aus irgendeinem Grund zu früh abgebrochen worden."
"Interessant."
"Und Grom wird von zwei Frauen getragen. Hat irgendjemand gesagt."
"Was?"
"Grom wird von zwei Frauen getragen. Das ist es, was ich verstanden habe. Mein Xonchen ist ja nicht so gut wie deins."
"Ist wahrscheinlich irgendwie symbolisch gemeint. Oder du hast es tatsächlich falsch verstanden."
"Ich bin müde." sagt Carola.
"Bin schon weg." sage ich, "Schlaf aus! Nichts kann dir hier passieren!" Ich gehe zur Tür. Als ich die Hand am Türgriff habe, ist Carola schon fest eingeschlafen.
Als ich auf den Gang durch die Krankenstation trete, stehe ich plötzlich einer Granitbeißerin gegenüber.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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