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80. Jagdfieber
"Es wird schon etwas für die Unterhaltung getan, auf diesen EG-Missionen!" sagt Solzbach, "Da kommt keine Langeweile auf!"
Wir sitzen im vorderen Oberdeck, vor unseren Konsolen. Die Raumtemperatur ist auf einhelligen Wunsch auf 19 Grad gesenkt worden - sogar Gabi hatte nichts dagegen. Aber sie hat sich vielleicht nicht getraut, zu protestieren. Der Wunsch zu dieser niedrigen Temperatur entspringt wahrscheinlich dem Erlebnis der schwülen Hitze draußen: Jeder ist sich bewußt, daß es draußen auf vielen Kilometen im Umkreis nur tropische Temperaturen gibt. Vielleicht ist das auch derselbe Effekt, der manche Leute dazu bringt, im Winter so stark zu heizen, daß ihnen die erreichte Raumtemperatur im Sommer viel zu hoch wäre.
"Aber eigentlich ist Zeit zum Mittagessen." stelle ich fest.
"... sagte der große Abenteurer, und ließ Wein, Weib und unermeßliche Reichtümer fahren."
"Unermeßliche Reichtümer? Jetzt kommt eure Motivationsstruktur doch noch ans Tageslicht!"
"Du weißt genau, daß wir ohne diese Motivation nicht hier wären!" sagt Cohäuszchen, "Oder glaubst du, daß die EG-Bonzen den hehren Idealen der reinen Wissenschaft verfallen sind?"
"Sind wir es?" frage ich, "Wer von uns ist den hehren Idealen der reinen Wissenschaft verfallen? - Bitte melden!"
"Ist das das Echo, von dem die Rede ist?" fragt Gerald und zeigt auf seinen Bildschirm. Jetzt, wo die CHARMION in einer Tiefe von etwa 60 Metern nach Norden fährt, kann man von großen Gegenständen, die auf dem Meer schwimmen, ein viel besseres Ortungsbild erhalten. Es muß das Schiff sein, das ich gesehen habe. Es ist um die Peer-Elderman-Insel herumgefahren und wendet seinen Kurs allmählich von Westkurs nach Nordkurs. Der Abstand von der Insel ist noch nicht groß - vielleicht 700 Meter.
"Eigentlich sind sie doch ziemlich schnell - für das bißchen Wind!" sagt Spaliter, der jetzt auch bei uns sitzt.
"Sie waren schon am westlichsten Rand der Insel, als ich sie gesehen habe. Und vorm Wind können die Granitbeißerschiffe den kleinsten Lufthauch ausnutzen. Ob sich meine Methoden, Höhe am Wind zu gewinnen, rumgesprochen haben, weiß ich nicht." sage ich.
"Aber im Moment ist oben doch überhaupt kein Wind?" fragt Solzbach.
"Vielleicht rudern sie ja. Wir werden es gleich sehen."
Die fünf Kilometer bis zu dem Schiff hat sie CHARMION schnell zurückgelegt. Jetzt aber müssen wir unauffällig manöverieren. Der Plan ist, ein bißchen aufzutauchen und mit den Außenkameras einen vorsichtigen Blick auf das fremde Schiff zu werfen. Jedes dumme U-Boot, denke ich, hat ein Seehrohr. Das könnten wir jetzt gebrauchen! Dann könnte man erreichen, daß beim Spähen nicht mehr über Wasser zu sehen ist als ein Gegenstand von der Größe einer schwimmenden Konservendose. Das ist mit der CHARMION nicht möglich.
"180 Meter Abstand, 65 Meter tief. Näher will er offenbar nicht ran!" sagt Günther Cohausz, "Seht mal, wie langsam sie sind! 1.8 Kilometer pro Stunde!"
Die CHARMION läßt sich wieder zurückfallen, während die Tauchtiefe veringert wird. Als wir wenige Minuten später nur noch ein paar Meter tief sind, hat das Schiff, das genauen Nordkurs steuert, wieder einen Abstand von 240 Metern.
"Wenn sie ihre Augen aufsperren, können sie uns sehen!" sage ich.
"Regnet es denn nicht mehr?" fragt Edwin.
"Hier vielleicht nicht."
Die Bilder der oberen, nach vorne gerichteten Außenkameras zeigen die gewellte Wasseroberfläche aus weniger als zwei Metern Tiefe. Dann ist es nur noch ein Meter. Gleich müssen wir die Wasseroberfläche durchschneiden.
Die Schwimmtanks werden jetzt nicht verwendet, um keinerlei Geräusche und Blasen zu erzeugen. Das Boot wird von außen wie ein Riff aussehen, das dort ist, wo eben noch keines war. Jedenfalls für eine Granitbeißerin.
Da wäscht das erste Bild frei. Besser hätten wir es nicht treffen können: Hinter leichten Regenschleiern, aber dennoch fast formatfüllend, sehen wir das Heck eines großen Saurierfängers. Das Bild wird augenblicklich scharf, als sich die Linse selbst reinigt.
"Ist der groß!" sagt Edwin.
"Nicht wahr!" sage ich, "Das muß er auch sein. Die müssen viel Fleisch transportieren können. Sieht jemand Seitenschwerter?"
Im Moment haben wir Schwierigkeiten, überhaupt die Menschen an Bord erkennen zu können. Ich sehe Stapel mit Saurierfleisch und schußbereite Harpuniergeräte. Darüber ein ausladendes Gewölk aus schlaff hängenden Segeln.
"Die sind mitten in der Jagd!" fahre ich fort, "aber sie passen verdammt schlecht auf. Wir könnten doch ein Großtier auf Verfolgung sein! - Es ist ja kaum jemand an Deck!"
"Ist doch klar!" sagt Edwin und zeigt auf den SISC, "Nach dem 27-Stundenrhythmus fängt hier bald die Nachtruhe an!"
"Wie recht du hast!" sage ich, "Die sind beim Essenfassen. Aber trotzdem sollte ein Ausguck oben sein. Eigentlich."
"Sieht jemand Menschen, die an den Mast genagelt sind?" fragt Palmer.
"Dazu müssen wir breitseitig reingucken. Die Segel nehmen uns zuviel Sicht weg!" sage ich und greife zum Interkom, um von der Zentrale zu erfahren, ob wir das vielleicht vorhaben.
"Die Besegelung ist gut." sagt Spaliter mit fachmänischem Blick, "Jedenfalls, wenn das Schiff vor dem Wind fahren soll. Sonst wird es sehr ineffektiv, selbst, wenn sie Kielschwerter hätten."
"Sie sind noch nicht so weit in ihrer technischen Evolution!" sage ich, "Das, was wir hier sehen, ist bei den Granitbeißerinnen High-Tech! - Mach ihnen das nicht madig, wenn du ihnen mal begegnen solltest, und sie in der Überzahl sein sollten!"
Der Abstand unterschreitet 200 Meter. Die CHARMION wandert nach rechts, nach Osten aus.
"Da ist ja überhaupt keiner an Deck!" sagt Cohäuszchen, "Pennen die am Ende schon?"
"Dann wäre eine Wache da." sage ich, "So ein großes Schiff wird von einer fähigen Kommandantin geführt. Die würde niemals so elementare Fehler machen."
"Und warum, glaubst du, ist niemand an Deck?"
"Weil," sage ich, "sie uns bereits gesehen haben. Vermute ich. Sie verhalte sich still, um uns anzugreifen!"
"Das meinst du doch nicht im Ernst!"
"Sie müssen uns für einen Saurier halten! - Für einen noch unbekannten Saurier. Bei den Granitbeißerinnen gibt es auf jedem Schiff erfahrene Jägerinnen, die aus jedem Blubbern irgendwelcher Blasen an der Wasseroberfläche sagen können, was für ein Tier demnächst auftauchen wird."
"Da werden sie es bei uns aber schwer haben!"
"Vielleicht irre ich mich ja," sage ich, "und sie pennen wirklich alle schon. - Aber nein, seht doch: Die Fleischladung! Mit so wenig fährt man doch nicht nach Hause!"
"Und wenn sie in diesem Gebiet nicht damit rechnen, etwas Jagdbares zu finden?"
"Ihr könnt lange rumspekulieren, solange wir noch nichts wissen!" beklagt Gerald sich.
"Entschuldige, wenn wir dir auf die Nerven gehen!" sagt Günther.
"So würde ich das nicht sagen. Aber ihr zerbrecht euch den Kopf über Dinge, über die man erst nachdenken sollte, wenn man mehr Fakten hat!"
"Das sehe ich anders," sage ich, "Jeder Dösbaddel kann mit Fakten arbeiten. Weit hergeholte Meinungen und haltlose Spekulationen, das ist die hohe Kunst der intellektuellen Auseinandersetzung mit der Realität!"
Gerald sieht mich so an, daß jeder weiß, daß er sich überlegt, ob ich ihn auf den Arm genommen habe. Aber er sagt nichts.
Die CHARMION schiebt sich in 150 Meter Seitenabstand allmählich auf gleiche Höhe. Dabei können wir zunehmend zwischen die Segel schauen.
"Mein Gott," sagt Palmer plötzlich, "die Frau Rau hat recht gehabt! - Sehen sie nur!"
Und wir sehen es. Selbst auf diese Entfernung ist es ein grauenhafter Anblick. Aber das ist noch nicht alles:
"Der eine da! Der schreit doch!" sagt Cohäuszchen, "Der lebt noch!"
"Das darf doch nicht wahr sein!" sage ich.
"Schöne Sitten haben deine Granitbeißerinnen!" sagt Edwin. Auch er ist blaß geworden.
"Das sind nicht 'Meine Granitbeißerinnen'!"
"Regt euch ab." sagt Gerald, "Stellt lieber fest, ob wir nicht einer optischen Täuschung unterliegen! - Es sind übrigens mindestens zwei, die da noch leben."
Wir sind auf dem besten Wege, Einzelheiten herauszukriegen. Die CHARMION fährt jetzt auf gleicher Höhe mit dem Saurierfänger und verringert langsam ihren Abstand.
"Da." sagt Gerald, "Ich kann ihre Schreie aufzeichnen!" Und er klickt in eine Dialogbox - im selben Moment hören wir, was er meint.
Die Schreie sind furchtbar. Menschen in höchsten Schmerzen. Erschöpft, aber die Schmerzen müssen so furchtbar sein, daß sie immer noch schreien. Wahrscheinlich, bis sie tot sind. Inzwischen können wir vier solche armen Kreaturen ausmachen, aber es können noch mehr sein, weil die Segel uns immer noch den Blick auf große Teile des Mastwerkes und der Takelage versperren.
"Warum machen die das nur?" fragt der Pater.
"Weiß ich doch nicht!" sage ich, obwohl er vielleicht diese Frage gar nicht an mich gerichtet hat.
"Dreh das mal leise!" sagt Solzbach zu Gerald.
"Warum?"
"Wir wissen, daß sie schreien - dann brauchen wir es doch nicht dauernd zu hören!"
Ich nicke Gerald zu, und eine Sekunde später ist wieder Ruhe.
Das Interkom meldet sich. Ich werde in der Zentrale verlangt. Wie erwartet will Wellington von mir wissen, was das grausame Spiel da draußen soll. Natürlich kann ich es ihm auch nicht sagen, weil ich während meines Aufenthaltes in der Welthöhle damals so etwas nicht gesehen habe. Aber fragen kann ich: "Werden wir eingreifen?"
Wellington gibt darauf keine klare Antwort. "Wir dürfen uns nicht in die Belange der Eingeborenen einmischen, wenn nicht unbedingt notwendig!"
"Wir werden uns sowieso in ihre Belange einmischen! Das wird die natürliche Folge unseres Unternehmens sein! - Langfristig."
"Trotzdem," sagt Wellington, "solange wir nicht wissen, was da vor sich geht, dürfen wir nichts tun. Das Boot ist ja nicht in Gefahr."
"Aber - sind wir nicht zur Hilfe verpflichtet? Da gibt es doch Richtlinien für den Fall, daß wir auf kriegführende Parteien stoßen!"
"Sehen Sie da draußen irgendwo Krieg? - Nebenbei dürften wir uns auch in solchen Fällen nicht einmischen."
Aber Würstchenbuden dürfen wir auf jeden Insel bauen, sowie wir dazu in der Lage sind, und Videotheken, denke ich, als ich ins vordere Oberdeck zurückkehre.
"Der Alte will nichts unternehmen?" fragt Palmer entsetzt.
"Ja. So ist es. 'Einmischung in innere Angelegenheiten', oder so. Er hat Vorschriften, sagt er."
"Aber das ist doch unmöglich. Wir könnten ihnen doch wenigstens ein Torpedo vor den Bug setzen!"
"So militant, Pater? - Meinen Sie, daß unsere seismischen Drei-Kilogramm-Torpedos diesen Berg aus bestem Holz aus der Welthöhle besonders beeindrucken kann? Und an unsere nuklearen Torpedos denken Sie doch wohl hoffentlich nicht, oder?"
"Natürlich nicht. Aber was können wir denn sonst tun?"
"Rausgehen. Faustkampf!" sagt Cohäuszchen.
"Du spinnst, Günther!" meint Solzbach.
"Das hat er doch nicht ernst gemeint!" beschwichtige ich.
"Natürlich habe ich das ernst gemeint. Was können wir denn sonst machen? Außer den Torpedos haben wir nichts, mit dem man Eindruck machen kann."
"Machst du im Faustkampf Eindruck?" frage ich Cohäuszchen, "Gegen gelernte Schwertkämpferinnen?"
"Irgendwie hat der Günther schon recht. Man muß etwas tun. - Sehe ich richtig, daß das nur Männer sind?" fragt Gerald.
"Hätte mich gewundert, wenn es anders wäre." sage ich, "Granitbeißerinnen werden das ihresgleichen nicht antun. - Macht einen ein bißchen parteiisch, nicht?"
"Ich bin immer parteiisch, wenn es um die Verletzung der Menschenrechte geht," sagt der Pater, "Das Geschlecht der Leidenden spielt da keine Rolle."
"Stimmt," sage ich, "die Heilige Inquisition hat Männer und Frauen gleichermaßen verbrannt!"
"Herwig, was soll denn das?" Solzbach wird laut, als er den konsternierten Blick von Pater Palmer bemerkt, "Kannst du dich nicht einmal auf aktuelle Probleme konzentrieren, ohne immer gleich Mitarbeiter zu beleidigen?"
"Tschuldigung." sage ich, "Die Aussage bot sich irgendwie an. Ich hätte das nicht sagen sollen."
"Das heißt: 'Ich entschuldige mich bei Ihnen, Herr Palmer! Ich schäme mich. Es soll nie wieder vorkommen!'" insistiert Solzbach.
"Das ist doch nicht nötig!" wehrt der Pater ab, "Er hat ja auch bis zu einem gewissen Grade recht."
"Ja? Doch?" frage ich.
"Hört auf, euch zu streiten!" wird Gerald laut, "Könnt ihr vielleicht mal wieder einen Blick auf die Bildschirme werfen?"
"Warum?" fragt Cohäuszchen.
"Ich habe das Gefühl, daß sich da jemand hinter diesen Harpuniergeräten herumtreibt! - Sie müssen uns schon länger bemerkt haben."
"Gut möglich," sage ich, "sie werden sie jetzt ausrichten. Mut haben sie, das muß man ihnen lassen!"
Die CHARMION liegt inzwischen auf gleicher Höhe mit dem Schiff und schiebt sich immer näher an dieses heran. Jetzt könnten es schon weniger als hundert Meter sein.
"Können die das Boot beschädigen?" fragt Gabi besorgt. Ich bin versucht, zu sagen, 'Weniger als du', aber ich halte mich zurück. "Nicht besonders," sage ich, "Das schlimmste, was passieren könnte, ist, daß sie die transparenten Linsenabdeckungen der Außenkameras beschädigen. Das können wir leicht reparieren, wenn das überhaupt nötig sein sollte. Dazu müßten sie die Kameras ja erst einmal treffen."
"Sie können Metall schmieden, nicht?" fragt Gerald, "Sowas hast du doch erwähnt?"
"Ja. Und auch ohne das könnte man viel ausrichten. Sicher kennen sie Gesteine, die hart wie Obsidian sind. Auch daraus ließen sich Harpunen herstellen. Aber all das nützt wenig bei einem Boot, das 18 Kilometer Tauchtiefe aushält. Wir sind ihnen in der Defensive hoffnungslos überlegen!"
"Willst du uns oder dir selber Mut machen?"
"Es ist doch eine Tatsache! Solange wir das Boot nicht verlassen, kann uns in dieser Welt nichts passieren."
"Und wie helfen wir diesen Leuten am Mast?" fragt Palmer.
"Denen ist wahrscheinlich schon gar nicht mehr zu helfen." denkt Gerald laut nach, "Aber man muß daran denken, daß sie das noch öfter machen könnten."
"Nicht mehr zu helfen? Mit intensiver medizinischer Versorgung?" überlege ich.
"Willst du das Doktor Morton antun? Nach dem, was wir hier sehen, und nach deinem Buch gibt es hier dauernd Gelegenheit, komplizierteste medizinische Eingriffe zu machen. Wollen wir unser Hiersein so aussehen lassen, daß wir gemütlich unseren Forschungen nachgehen, und die Ärztin ist 24 Stunden am Tag im Streß, um irgendwelche verletzten Granitbeißer zu versorgen?"
Ich beobachte, was Palmer zu Gerald's Argumentation sagt. Er denkt noch nach. - Ich auch. Selbst, wenn wir jetzt nichts tun und weiter zusehen, wie die Besatzung jenes Schiffes dort weitere Menschen bei lebendigem Leibe häutet und an den Mast nagelt, aus welchem Grund auch immer, irgendwann werden andere nach uns kommen - mehrere, mit besseren Waffen. Und dann werden sie die Granitbeißerinnen dazu bringen, sich 'zivilisiert' zu verhalten. Nicht diese Gewalt untereinander auszuüben. Dazu wird aber Gewalt nötig sein. Das Blut der Granitbeißerinnen wird fließen, und irgendwann werden sie als versprengte Gruppen in Reservaten übrigbleiben. Keine Folterungen mehr, keine Kreuzigungen. Auch keine Saurierjagden und keine schwindelerregenden Kletterexpeditionen. Sie werden sich von den Touristen photographieren lassen, sie werden auf ein Trinkgeld hoffen, sie werden von der Sozialhilfe leben, sie werden der Prostitution nachgehen, sie werden trinken. Nein, korrigiere ich mich, den Alkohol vertragen sie ja nicht. Vielleicht kann man auch ohne Alkohol verelenden. Was sollen wir tun?
Inzwischen sehen wir, daß sich die Harpuniergeräte auf Deck tatsächlich bewegen. Außerdem können wir erkennen, daß einer der Männer am Mast mit einer langen Stange in die Weichteile gestoßen wird, offenbar um ihn wieder zum Schreien zu bringen. Das bringt mich auf eine Idee, aber Gerald spricht sie vor mir aus: "Die wollen mit dem Geschrei etwas anlocken!"
Menschen häuten und an den Mast nageln, um sie schreien zu lassen, um damit Jagdbeute anzulocken. Mit ein paar Transistoren, einer Batterie und einem Lautsprecher kann man dasselbe erreichen. Also wieder ein Argument für das Kolonisieren der Welthöhle?
Wir müssen, denke ich, einen Codex ausarbeiten. Wir hier an Bord. Wir haben die faktische Autorität, denn wir werden die Öffentlichkeit haben, wenn wir zurückkehren. Man wird auf uns hören. Ein Codex, der sagt, was man in der Welthöhle tun darf und was nicht. Wäre das nicht die Gelegenheit, so viele Fehler gar nicht erst zu machen? Fehler, die bei so vielen anderen Entdeckungen und nachfolgenden Kolonisationen gemacht worden sind? Ein Codex, der aber noch wirtschaftliche Möglichkeiten offenläßt, um eine Lobby zu ermöglichen.
Es muß gehen. Tourismus, zum Beispiel. Die unverfälschte Welthöhle. Keine Deponien, keine Bergwerke, keine Städte. Vielleicht kann man mit Touristik alle anderen hier raushalten. Und vielleicht kann man sogar die Touristenströme kanalisieren, wenn man sich die Idee der 'Touristischen Opferregionen' zu eigen macht: Landschaftlich interessante Gebiete, die intensiv für den Massentourismus ausgebaut werden, um damit zu erreichen, daß andere Gebiete zu erreichen für die Touristen zu mühsam, zu teuer oder sogar unmöglich wird. Das geht. Man kann es sich in den Alpen ansehen: An denselben Tagen kann man erleben, daß bergbahnbestückte Berge unter den Massen der Touristen eine Delle bekommen, und daß benachbarte, vielleicht nicht ganz so hohe Gipfel zeitweise sogar noch menschenleer sind. Ich habe es gesehen.
Utopie? Ich weiß nicht. Ich bin skeptisch, wie bei jeder Utopie. Es wird sowieso sehr schwer, hier Fuß zu fassen, was immer man auch hier vorhat. Wir, mit unserem Boot, können uns noch leidlich gut bewegen. Aber in alle Ecken und Winkel der Welthöhle zu gelangen? Und das müßte man schon tun, wenn man hier die Botschaft verbreiten möchte, daß es nicht schön ist, Menschen an den Mast zu nageln, nur um durch deren Schmerzensschreie Saurier anzulocken. - Wenn es Finanzbeamte wären, oder COBOL-Programmierer, dann vielleicht ja.
Wenn man nur wüßte, was richtig ist. Wenn man Dogmatiker und sich so verdammt sicher wäre. Aber es gibt ja keine Sicherheit. Nicht einmal in der Mathematik. Gerade dort, wo einmal die Illusion absoluter Wahrheiten zu finden war. Wie viele unterliegen dieser Illusion immer wieder! 'Die beweisbare Richtigkeit von Programmen'. Ein Schlagwort, das in meiner alten Firma immer mal wieder auftauchte. Programme nicht nur zu schreiben, sondern sogar zu 'beweisen', daß sie richtig waren. Das eine formale System durch ein anderes zu ersetzen. Das komplizierte, undurchschaubare Programm durch einen Beweis, der mindestens so kompliziert und undurchschaubar ist. Wer will denn den Beweis verstehen? Oder will man sich dabei durch ein Programm helfen lassen? Und wer beweist, daß dieses Programm richtig ist?
Nein, die Suche nach der Wahrheit klappt nicht einmal mehr in der Welt der formalen Systeme. Komplexität erzeugt Webfehler. In einem Programm. In einem U-Boot. In einem Reaktor. Überall. Was zählt ist, ob ein technisches System brauchbar ist. Mehr Nutzen als Schaden bringt. Und das fällt unter die Überschrift 'Test', nicht 'Beweis'. So rechtfertigt ein technisches System seine Existenz. Seine Marktfähigkeit.
Und in der Natur ist es genauso. Ein Lebewesen ist nicht 'richtig', weil alles so ist, wie es das im Lebenskampf braucht. Das stimmt schon mal gar nicht, denn welchen Nutzen hat der Blinddarm? Erbkrankheiten wie Bluter? Was ist mit Krebs? Wie kann ein Lebewesen 'richtig' sein, wenn es so oft so krank ist? Offenbar war das Kriterium ein anderes. Existenzfähigkeit. Trotz all der Webfehler.
Und all das gilt auch für Gesellschaften. Die Geschichte hat von keiner Gesellschaft Kenntnis genommen, die ideal und ohne Makel war - und nebenbei, wer wollte das überhaupt beurteilen? Überlebensfähigkeit, bis zur Übernahme der 'besseren' Gesellschaft im 'Wettbewerb der Gesellschaften'. Auf dem Wege dahin waren all die historischen Experimente notwendig. Die Inquisition, die Raubzüge der Wikinger, die Hunnen, der resourcenverschleudernde Sozialismus, ja, sogar der Nationalsozialismus. Die Konzentrationslager mußten sein, damit Menschen wissen, wozu Menschen in der Lage sein können. Und wenn die geschichtliche Erinnerung verlöscht, wenn die letzten Dokumente dieser Zeit verfallen sein werden, dann werden sie es noch einmal ausprobieren. Und noch einmal. Und immer wieder, solange es Menschen und denkende Wesen gibt.
Und dann urteilen wir über die Granitbeißerinnen. So verdammt selbstsicher. Dabei können wir es uns in unserem sicheren Boot leisten, gefühllos wie ein Gott zuzusehen, was sie machen. Und immer wieder machen. Vielleicht hören sie in 2000 Jahren von selbst damit auf, oder irgendwann. Sicher sogar - auch die Sozialstrukturen der Granitbeißerinnen sind nicht für die Ewigkeit gemacht - genausowenig wie die Welthöhle selbst.
Wo nehmen wir dann die Berechtigung, und auch die Verpflichtung, her, um menschliches Leid, insbesondere dieses menschliche Leid, zu beenden? Haben die Granitbeißerinnen nicht das Recht auf ihre Grausamkeiten? So, wie wir uns das Recht auf die Konzentrationslager genommen haben?
"Ich glaube, jetzt schießen sie gleich!" sagt Solzbach, "Sie haben bloß abgewartet, wie nahe wir noch heran kommen werden. Was meinst du, Herwig?"
"Wir werden es gleich wissen." sage ich.
"Können wir dann nicht zurückschießen, wenn sie schon angreifen?" fragt der Pater. In der Sekunde überspült das Bild des Saurierfängers. Die CHARMION taucht. Wir können nicht sehen, ob noch eine Harpune auf uns abgeschossen wird.
"Wir können uns auch raushalten." sage ich, "Offenbar sieht der Alte das so."
"Ich meine doch nur, daß man ein bißchen drohen kann!" verteidigt Palmer sich.
Wellington's Stimme meldet sich über die Rundspruchanlage: "Wir haben ein Echo in Südost, etwa sieben Kilometer. Es ist groß, und es kommt schnell näher. Bitte bleiben Sie an den Geräten und beobachten Sie alles, was sie beobachten können!"
"Ich glaube," sage ich, "da kommt das, worauf die auf dem Schiff eigentlich gewartet haben."
Vielleicht beenden sie dann auch diese Folterungen auf dem Schiff, denke ich.
"In sieben Kilometern Entfernung? Unwahrscheinlich." sagt Gerald, aber er holt das Ortungsprogramm auf seinen Bildschirm. Dann findet er es aber auch: "Tatsächlich! - Da ist es. Es muß wirklich groß sein, wenn wir es auf diese Entfernung ..."
"Kannst du herausfinden, wie schnell es ist?" unterbrech ich.
"Auf jeden Fall schneller als wir. Und größer."
Die Geschwindigkeit des Tieres scheint etwa 70 Kilometer pro Stunde zu sein. Es kommt zwar genau auf uns - oder auf den Saurierfänger - zu, aber ob dieser oder wir wirklich der Grund für dessen Sprint sind, ist nicht herauszukriegen.
Das Boot steuert eine Tiefe von vielleicht 20 Meter. Auf den Außenbildschirmen sehen wir den flachen Boden des Saurierfängers, so, wie ich es damals nicht sehen konnte. Ein Floß eben, kein Schiff. Es kann vorm Wind fahren, und es kann in flachen Flußmündungen operieren. Das brauchen die Granitbeißerinnen. Das relativ konstante Windmuster in der Welthöhle erlaubt, sich Kurse auszusuchen, auf denen man immer vor dem Wind fahren kann, und bei der Saurierjagd ist man häufig drauf angewiesen, sich mit diesen großen Schiffen in flachen Gewässern aufzuhalten. Für beide technischen Forderungen stellt diese Konstruktion einen guten Kompromiß dar. Vielleicht würde man tatsächlich daran scheitern, wenn man versuchte, den Granitbeißerinnen das klassische Schiffsdesign nahezubringen. Dazu kommt, daß es noch andere Gründe für diese Floßkonstruktion geben mag, die wir nicht kennen.
Der Saurierfänger hat doch keine Harpunen auf uns abgeschossen - das müßten wir jetzt ja feststellen können. Sie halten sich zurück und warten immer noch auf etwas anderes.
Das große Tier, welches Kurs auf uns genommen hat, ist bis auf einen Kilometer heran. Bald werden wir es sehen. Es hat sich die ganze Zeit in einer Tiefe von 120 Metern aufgehalten und beginnt jetzt, zu steigen. Außerdem wird es langsamer.
"Nur mal in Kladde gedacht," sage ich, "Sie erzeugen auf diesem Schiff mit diesen Folterungen den Lärm, der gerade notwendig ist, dieses Tier aus einer Entfernung anzulocken, die groß genug ist, so daß es sich auf dem Anmarsch völlig verausgabt und dann leicht erlegt werden kann!"
"Dann denke ich auch einmal in Kladde," sagt Günther Cohausz, "nämlich etwas, was du als Physiker wissen müßtest!"
"Ja?"
"Wenn du Unterwasserziele mit Lärm beschallen willst, dann ist es nicht zweckmäßig, den Lärm über Wasser zu erzeugen. Die Schallenergie wird nicht gut genug in das Wasser eingekoppelt. Das Schreien von Menschen ist sogar über Wasser kaum sieben Kilomter weit zu hören!"
"Stimmt." muß ich zugeben. Also wissen wir wieder überhaupt nichts.
In einer Entfernung von 500 Metern erfassen unsere Kameras die ersten schemenhaften Umrisse des Tieres.
"Das ist ein alter Bekannter!" sagt Gerald, und wir erkennen es auch: Ein Riesenrochen. Und er hat es definitiv auf den Saurierfänger abgesehen.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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