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78. Fieberphantasien.
"Sie können nicht zu ihr!" Das erste Mal, daß ich von Wellington einen richtigen Befehlston höre, "Doktor Morton weiß nicht, ob sie sie überhaupt durchbringt!"
"Ist es so schlimm?"
Amerlingen nickt: "Haben Sie sie denn nicht gesehen?"
"Sie wurde oben so schnell vorbeigetragen."
"Restlos erschöpft. Sie muß sich fünf Tage lang an diesem Hai festgehalten haben. Bei dieser Hitze! Ohne Schlafen! Und ohne Nahrung. - Sie sieht grau aus, im Gesicht. Ich habe etwas gehört von fliegendem Puls, und noch ein paar Dinge, die ich nicht verstehe."
"Schafft die Ärztin es alleine?" fragt Edwin.
"Spaliter, Solzbach und Yay sind bei ihr. Die schaffen es, oder es schafft niemand."
Wir ziehen uns zurück. Umziehen. Kantine. Palavern. Abwarten. Was können wir sonst tun?
"Ob sie durchkommt?" fragt Edwin.
"Meiner unmaßgeblichen Meinung nach, ja. Wenn sie gesund und unverletzt ist. Starke Erschöpfung heißt, daß alle Parameter des Körpers aus dem Ruder gelaufen sind. Nahrungsmangel. Elektrolytverlust. Kein Enzym hat seine Sollkonzentration. Was weiß ich. Dehydrierung - aber nein, trinken konnte sie ja. Wenn dies ein Salzwasserozean wäre, dann wäre sie sicher schon lange tot."
"Und wie behandelt man das?" fragt Edwin.
"Einzelheiten weiß ich nicht. Intensivbehandlung. Herz-Lungen-Maschine erstmal, damit sie nicht einfach wegstirbt. Infusionen. Temperaturkontrolle. Nachsehen, ob Infektionen vorliegen. Wenn ja, Rundumschlag mit allem, was in der Antibiotika-Küche ist - vielleicht tut es das Immunsystem ja nicht mehr. Sowie alles wieder in der Nähe der Sollwerte ist, müßte der Organismus sich fangen. Ja, und dann: Schlafen, länger schlafen und noch länger schlafen."
"Und dann?"
"Können wir sie besuchen. - Wenn Sie erst einmal soweit ist, wird sie sich rasch erholen. Kann sein, daß dann die seelischen Schäden das größere Problem sind. - Aber vielleicht läuft sie in einer Woche wieder herum."
"Ah, ich habe die Carola immer für seelisch stabil gehalten!" sagt Edwin.
"Vertue dich nicht! Sie hat sich fünf Tage lang an diesem Hai festgehalten oder wer weiß was noch erlebt. Fünf Tage lang, in denen sie zu der Einsicht gekommen sein muß, daß wir sie nie finden werden! Fünf Tage lang wissen, daß man schnell sterben wird, wenn man nur losläßt. Und die ganze Zeit diese Hitze - wir hatten unsere kühlen Springbrunnen, sie nicht! Sie muß also fünf Tage lang ununterbrochen hohes Fieber gehabt haben. Ich weiß nicht, ob ich es durchgehalten hätte - und sie ist völlig untrainiert!"
"Das hätte dir alles auch blühen können!" sagt Edwin.
"Weiß ich."
Die ganze Zeit, während wir reden, sitzt Gabi einige Tische entfernt und verzehrt schweigend und ohne aufzusehen ihr Abendessen. Ich richte das Wort nicht an sie und sie nicht an uns. Niemand redet mit ihr.
Plötzlich taucht Esther Petersen auf: "Herr Homberg?"
"Ja?"
"Ist Ihnen aufgefallen, daß Sie heute die Abendwache haben?"
"Auh verdammt!" sage ich, "Habe ich ganz verschwitzt! - Komme sofort."
"Es eilt nicht," sagt Esther, "Da ist ja noch Betrieb, in der Zentrale. Wahrscheinlich bis Mitternacht. Aber könnten Sie freundlicherweise die Wache morgen abend vielleicht auch übernehmen?"
"Wieso, wer wäre denn dann dran?"
"Rau. Die kann nicht. Ersatzweise Gohlmann. Die darf nicht." Einige gucken zu Gabi rüber, aber niemand sagt was.
"Dann Yay." fährt Esther fort, "aber die hat in der nächsten Zeit im Revier zu tun und ist somit auch entschuldigt. Die nächsten wären dann Seltsam, Amurdarjew und Sie, Herr Daum. Der Chef meint, Sie könnten noch eine Wache einschieben."
"Warum eigentlich immer ich?" frage ich.
"Um 16 Uhr hätte Ihre Wache angefangen. Wo waren Sie denn da?"
"Ich habe gearbeitet. Außerdem wurden diese Haie gesichtet!"
"Das war fast zwei Stunden später. Solange ist Ihnen nicht eingefallen, daß Sie andere Verpflichtungen haben."
Dann dreht Sie sich um und entfernt sich.
"Das sieht nicht nur so aus, als ob es ihr Spaß macht. Das macht ihr wirklich Spaß!" sage ich.
"Manchmal glaube ich, der Alte hat was gegen dich." sagt Edwin.
"Das glaubst du nicht nur alleine."
Den ganzen Abend lang versuchen wir immer wieder, etwas über Carola's Zustand zu erfahren. Aber erst um 23 Uhr taucht Ulrich Solzbach in der Kantine auf, um einen Happen zu sich zu nehmen. Zufällig bin ich auch da.
"Und?" frage ich. Viele, die noch in der Kantine sitzen, sehen ihn erwartungsvoll an.
"Was und?" fragt er.
"Wie geht es ihr?"
"Stabil."
"Ist sie irgendwie verletzt?"
"Nein."
"Und sonst?"
"Mmh."
"Es sind schon Ärzte gelyncht worden, weil sie den Verwandten der Patienten nichts sagen wollten, weißt du das?"
"Ich kann euch nicht mehr sagen! Sie wird leben! Reicht das nicht? - Außerdem bist du nicht ihr Verwandter!"
Er geht ab. Und wir bald darauf ins Bett. Heute erfahren wir nichts mehr.
Wenn ich gedacht habe, ich kann zwischen zwei Wachen ruhig schlafen, dann habe ich mich getäuscht. Um vier Uhr morgens steht plötzlich Natalie in meiner Kabine und schüttelt mich.
"Aufstehen! Du sollst zu Carola kommen! - Nicht anziehen, Unterhose reicht! Schnell."
"Was ist denn?" frage ich. Unterhose oder Badehose reicht vielleicht im Normalfall, aber nicht, wenn man eine der Uhrzeit angemessene Morgenlatte hat. Das passiert mir immer, wenn ich entweder ganz ausgeschlafen bin oder ein massives Schlafdefizit habe. Im Moment wird es wohl letzteres sein.
Natalie sieht es und rümpft die Nase, sagt aber nichts. Wir hasten durch die Gänge. Laufen ist gut gegen Spontanerektionen, aber die CHARMION ist zu klein für längere Läufe. Es müssen noch ein paar weitere Minuten verstreichen, bevor das Ding weg ist. Wondrachek, der die Hundswache hat, sieht glücklicherweise auf einen der Bildschirme und interessiert sich nicht für uns, als wir durch die Zentrale hasten.
Natalie macht heute medizinische Nachtwache. Wenn sogar Doktor Morton zu Bett gegangen ist, muß es Carola eigentlich ganz gut gehen.
"Wir haben sie eigentlich sediert. Aber sie kommt trotzdem dauernd zu Bewußtsein. Und das letzte Mal wollte sie etwas von dir!" sagt Natalie.
Sie haben Carola schon gut hingekriegt. Keine künstliche Beatmung. Und sie liegt völlig ruhig. Aber sie ist mit einer ganzen Reihe von Infusionsflaschen verflantscht und an verschiedene elektronische Geräte angeschlossen. Diese kenne ich nicht, aber der Herzschlag auf einem der Bildschirme ist deutlich als solcher zu identifizieren.
"Das sind 90 pro Minute!" sage ich, "das ist doch für einen schlafenden Menschen viel zu viel!"
"Wir kriegen es nicht weiter runter! Mehr Digitalis ist zu gefährlich!"
"Da gibt's doch heute andere Mittel!" sage ich und beuge mich über sie: "Ich denke, sie ist wach?"
"Manchmal." sagt Natalie.
"Hast du mich auf Verdacht geweckt?"
"Ich will Doktor Morton nicht wegen Kleinigkeiten wecken."
"Aber mich schon, ja?!" sage ich, und Natalie giftet mich an, als hätte ich sie geweckt und nicht umgekehrt.
Carola's Gesicht sieht alt aus. Nicht zerfurcht, aber alt, ohne daß man genau sagen könnte, woran das liegt. Auch ihre Atemzüge sind unregelmäßig und für eine Schlafende zu schnell. Plötzlich schlägt sie die Augen auf und sieht mich an.
Und in ihrem Gesicht ist Angst! Sie fängt an, kurz und heftig zu atmen, wie nach einem Sprint.
"Carola! Ich bin es! Herwig! Wie geht es dir?"
Sie spricht stoßweise: "Sie haben Menschen in die Masten genagelt, Menschen! Wir dürfen nicht hier sein! - Sie haben Menschen in die Masten genagelt. - Sie werden uns jagen."
"Wer hat das getan?"
"Auf den Schiffen. Herwig weiß es, Herwig kennt sie ..."
"Ich bin doch hier, Carola! - Ich bin doch Herwig!" Sie sieht durch mich hindurch.
Ich wende mich an Natalie: "Dieses Zittern da! Am ganzen Körper! - Das ist doch nicht normal!"
"Ich weiß auch nicht!"
"Dann weck die alte Morton! - Hat sie schon früher diese Phantasien gehabt?"
"Nein, von den Menschen, die an den Mast genagelt sein sollen, hat sie eben erst gesprochen."
"Sie haben sie gehäutet und an den Mast genagelt!" Carola bäumt sich auf. Natalie steckt ihren Kopf in die Zentrale. Wondrachek übernimmt das Wecken der Ärztin.
"Carola, beruhig dich!" sage ich, "Du bist bei uns an Bord! Hier bist du sicher! Nichts kann dir hier passieren!"
Sie sieht mich an. Und sieht mich nicht.
"Herwig weiß es!" sagt sie.
"Ich bin Herwig!"
"Vielleicht Phantasien wegen deines Buches?" vermutet Natalie.
"Von solchen Dingen hatte ich nichts geschrieben!"
Doktor Morton taucht auf, zerknautscht, aber wach. Sie erfaßt die Situation schnell. Carola brabbelt noch eine Weile vor sich hin, während die Ärztin ihr eine Spritze gibt. Speichel läuft aus Carola's Mund, ohne daß sie es merkt. Dann schläft sie ein. Der Puls ist 105 und sinkt langsam. Ich nehme eines der Wischtücher und mache ihr das Gesicht sauber.
"Warum sind Sie denn hier?" fragt Doktor Morton mich. Wir erklären es ihr.
"Hat sie da wirklich etwas gesehen, oder sind das Phantasien, Doktor?" frage ich.
"Das kann man nicht unterscheiden. Ich glaube, sie wird lange brauchen, bis sie wieder ganz gesund ist und es selber unterscheiden kann. - Sie können wieder ins Bett gehen."
Ich gehe zur Tür.
"Herr Homberg?"
"Ja?" Ich drehe mich um.
"Das, was sie eben erwähnt hat - gehäutete Menschen am Mast - halten Sie denn das für möglich?" Ich sehe Doktor Morton an, daß ihr diese Vorstellung, sogar die bloße Erwähnung einer solchen Möglichkeit, gar nicht behagt.
"Bei den Granitbeißerinnen? - Meistens handeln sie ziemlich rational, und wenn sachlich notwendig ist, grausam zu sein, dann sind sie es eben. - Bei denen ist es meistens sachlich notwendig, grausam zu sein. Die sind eben so. - Ich weiß im Moment nicht, wozu es gut sein soll, Menschen zu häuten und an den Mast zu nageln. Vergessen Sie nicht, es sind Menschenfresser - vielleicht eine Art Zubereitung!"
"Also ist es möglich?"
"Ja. Ja, ich denke, es ist möglich. Das ist der hiesige Tonfall."
"Igitt!" sagt Natalie.
"Wir haben die CHARMION. Wir können alle Probleme untertauchen!" sage ich.
"Das hat ihr ja auch nichts genützt." sagt die Ärztin, "Ach, Herr Homberg, hätten Sie etwas dagegen, umzuziehen?"
"Ich hatte eben nicht genug Zeit, mich anzuziehen!"
"Umziehen! Nicht: 'Sich umziehen'!"
"Wohin denn umziehen? Gibt es noch ein U-Boot hier?"
"Lassen Sie die Witze. Ich meine, hierher. Da sind noch Liegen frei. Vielleicht wacht sie noch einmal auf, und dann sind sie gleich da! - Wir zeigen Ihnen das notwendigste an den Geräten."
"Ich hatte nicht den Eindruck, daß sie mich erkennt, und daß ich überhaupt etwas machen kann."
"Das weiß man so genau nicht. - Wenn Sie hierbleiben, könnte Frau Yay ins Bett."
"Was denn, sie bleibt nicht hier?"
"Herr Homberg!" Frau Morton legt ihr strengstes Gesicht an, und Natalie grinst, völlig überflüssigerweise.
So kommt es, daß ich den Rest der Nacht unruhig verbringe. Carola wacht nicht noch einmal auf, und ich brauche nicht einzugreifen. Dafür hindern mich die zuckenden Linien auf verschiedenen Bildschirmen am Einschlafen, und wenigstens ein Gerät macht dauernd Pip-pip - die elektronische Übersetzung von Carola's Herzschlag. Dieses Pip-pip läßt sich nicht abstellen.
Das ist aber noch nicht das schlimmste. Als dieser Herzschlag allmählich auf unter 80 sinkt - also in Richtung Normalität - fängt sie an, zu schnarchen.
Vielleicht sollte man sie wecken, denke ich, und ihr irgendwelche Märchen erzählen. Märchen, in denen gehäutete Menschen an den Mast genagelt werden.
Welch einfache Umstände doch Aggressionen anheizen können!
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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