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77. Der Hai und das Mädchen

Kurz danach wissen wir's. Es ist keine Übung: Die Haigruppe ist wieder aufgetaucht, weit draußen auf dem Meer, im Osten. Ein paar Kilometer östlich der Coracora-Insel, das ist so ungefähr die Gegend, wo wir zuerst aufgetaucht sind und wo wir Carola verloren haben. Es ist also nicht ganz unwahrscheinlich, daß es sich tatsächlich wieder um ganz genau dieselbe Haigruppe handelt wie das erste Mal.

"Sind alle drin?" fragt Amerlingen.

"Ich war der letzte." sagt Reinhardt, "Halten Sie die Haie für so gefährlich, daß wir deshalb einsteigen müssen?"

"Für so gefährlich nicht. Aber für so interessant. Wir dachten dabei gerade an Sie!" sagt Wellington, "Wir wollen sehen, ob wir sie uns genauer ansehen können als beim letzten Mal."

Inzwischen hat die CHARMION die Luken dichtgemacht und Kurs auf die Haischule genommen. Es sind etwa zwei Kilometer zurückzulegen, und da die CHARMION weiter Tiefe gewinnt, nehme ich an, daß man sich der Haigruppe von unten nähern will.

Natürlich gibt es auch einen anderen Grund, sich jetzt für die Haie zu interessieren: Deren Mageninhalt. Deshalb werden wir uns jetzt nicht auf unblutige Untersuchungsmethoden beschränken, auch wenn wir uns nicht ganz sicher sein können, ob es dieselbe Haischule ist, der wir vor fünf Tagen begegnet sind.

"Wir untertauchen sie und tauchen dann ganz langsam in ihrer Mitte auf!" hören wir Wellington über die Rundspruchanlage. Irre ich mich, oder höre ich eine Art Jagdfieber in seiner Stimme?

Es dauert nur wenige Minuten, bist wir an einem Punkt etwa 200 Meter unter der Haischule angekommen sind. Außenkameras richten sich nach oben, die Außenortung sorgt dafür, daß wir immer genau unter der Haischule bleiben. Offenhar haben die Haie noch nichts von dem großen Körper unter ihnen gemerkt. Das kann eigentlich nicht lange ausbleiben, weil wir ja einiges an Wärme produzieren. Und es sind auch Meeresbewohner bekannt, die die winzigsten mechanischen Erschütterungen wahrnehmen können - wenn das bei diesen Haien der Fall wäre, dann könnten wir sie nicht unbemerkt untertauchen.

Die optischen Bilder werden klarer. Und da gibt es eine Überraschung:

Einer der Haikörper ist asymmetrisch. Seitlich von ihm ist irgendetwas im Wasser, was mit dem Haikörper verbunden zu sein scheint. Es ist nur etwa eineinhalb Meter lang, und dieser Hai scheint bei seinen Schwimm-Manövern ziemlich behindert zu sein.

Erst denke ich an eine Geburt. Aber Haie gebären nicht. Oder? Ich stelle fest, daß ich es nicht weiß. Und weil ich nicht durch dumme Fragen auffallen will - Haie sind in der Evolutionsleiter weit von den Säugetieren entfernt, und das könnte bedeuten, daß man sich den Rest der Expedition die Anekdote erzählen könnte, daß der Homberg gefragt hat, ob Haie lebend gebären - halte ich den Mund und sehe mir stattdessen die Außenaufnahmen genauer an.

Das Bild wird klarer. Und dieser Auswuchs nimmt menschliche Formen an. Von einer Sekunde zur anderen wird es still im Oberdeck.

"Das ist Carola!" flüstert Edwin.

"Das kann doch nicht sein!" sage ich, "warum hat er sie nicht ganz aufgefressen?"

"Aber sieh doch! Es ist ein Mensch!"

"Vielleicht ist es eine Granitbeißerin!"

Ich stelle mir vor, wie ein halbzerkauter Mensch aus dem Rachen eines Hais hängt. Vielleicht hat sich ein Knochen beim Hinunterwürgen quer gestellt, und deshalb kann der Hai nicht weiterfressen. Nun muß er mit diesem Anhängsel weiterschwimmen, bis er verhungert, weil er zu blöd ist, sich von diesem Hindernis in seinem Rachen zu befreien.

Die Formen dieses Menschen werden definitiv weiblich. Und übergewichtig. Das ist keine Granitbeißerin - das ist Carola! Durch die Bewegungen des Haies bewegt sich ihr Körper, als ob sie selbst noch am Leben wäre.

Dann winkelt sie ein Bein an!

"Herwig! Sie lebt!" ruft Edwin. Ich hänge mich ans Interkom - aber in der Zentrale haben sie auch Augen. Die Idee, jetzt schnell aufzutauchen, mit Hilfe der äußeren Tanks, wird schnell wieder verworfen - wir wollen die Haie nicht verscheuchen.

50 Meter noch. Das Bild wird immer klarer.

"Sie sieht unverletzt aus!" sagt Edwin, "Findet ihr nicht?"

Wunschdenken. Aber er könnte recht haben. Und wieder bewegt sie sich. Sie lebt tatsächlich - nach fast fünf Tagen! Unglaublich.

Die Haie müssen das Boot längst wahrgenommen haben. Aber die einzige Reaktion ist die, daß sie sich weiter auseinander bewegen. Der Hai mit Carola ist am unbeweglichsten, und das Boot wird genau zum Auftauchen an diese Stelle gesteuert.

"Fertig machen zum Aussteigen!" hören wir Wellington's Stimme, "Wer schwimmen kann und nichts zu tun hat, an Deck! Unterwasser-Party fertigmachen und Kühlaggregate mitnehmen. Seile an Deck bringen - Luken gehen in Kürze auf!"

Ich bin mit dabei. Natürlich. Immer mehr sammeln sich im zentralen Niedergang, unter den noch geschlossenen Einstiegsluken. Wenn diese Haie Carola nicht umgebracht haben ...

Auch hier können wir die Unterwasseraufnahmen verfolgen. Der Hai mit Carola hat nun definitiv die große Masse, die da aus der Tiefe aufsteigt, bemerkt, und nimmt Fahrt auf. Die CHARMION aber auch. Wir durchbrechen die Oberfläche. Für die Haie muß das doch bedrohlich aussehen.

"Hoffentlich taucht er nicht!" sagt Edwin.

"Was machst du denn hier?" frage ich, "Bist du Rettungsschwimmer?"

"Nein. Du vielleicht?"

"Streiten Sie sich nicht!" sagt Sydekum, der inzwischen einen Taucheranzug angezogen hat, "Vielleicht müssen wir gleich schnell reagieren!"

In derselben Sekunde, wo er das sagt, zischt über uns die Dichtungsreinigung. Die Luken schwingen in die senkrechte Position, und einer nach dem anderen entert auf.

Draußen brodelt es noch beidseitig des Schiffes: Die Schwimmtanks werden immer noch angeblasen, um das Boot hoch aus dem Wasser zu heben. Wieder eine Abwägung: Volle Schwimmtanks, um uns schnelles Operieren auf der Oberfläche zu erlauben, während sich gleichzeitig Menschen auf Deck aufhalten, oder fast leere Schwimmtanks, um schnell wieder tauchen zu können. Aber die letztere Alternative ist wahrscheinlich nicht sinnvoll: Wir werden Carola nur in der Nähe der Oberfläche lebend aus dem Wasser fischen können, und dazu muß das Boot nicht tauchen.

Sydekum beugt sich über die Einstiegsluke: "Wo bleiben die Berieselung?" brüllt er. Zwei Sekunden später werden wir mit dem kühlen Wasser eingedeckt. Zu spät: Wir sind schon durchgeschwitzt.

Der Hai ist schnell geworden. Aber wir verlieren ihn nicht aus den Augen: An seiner Rückenflosse hält sich ein Mensch fest - und es ist definitiv Carola! Aber sie sieht nicht nach hinten. Sie ist die einzige im Hairudel, die noch nicht gemerkt hat, daß etwas Ungewöhnliches geschieht. Die Haie selber scheinen unruhig. Aber sie hält sich wenigstens fest. Das kann man nur, wenn man am Leben ist!

Ist sie bei Bewußtsein, oder hält sie sich nur reflexartig fest? Wir können es nicht sagen. Die CHARMION fährt mit allem hinterher, was sie hat. Diese Haie sind zwar schneller, aber für wie lange? Und das, wenn man einen Menschen an der Rückenflosse mitschleppen muß! Wahrscheinlich sind unsere Chancen gar nicht so schlecht, wenn wir ihn jagen. Armes Viech - biologische Muskeln auf einem seit einigen hundert Millionen Jahren überhohlten Entwicklungsstand gegen die prinzipiell unbegrenzte Ausdauer eines Fleischmann-Pons-Reaktors!

Der Abstand vergrößert sich wieder. 200 Meter, 300 Meter. Bleibt 300 Meter. Wir fahren nach Süden, und der Hai hält die Richtung bei.

Die anderen Haie des Rudels, die uns ohne weiteres davonschwimmen könnten, halten sich weitgestreut in Abstand von einigen hundert Metern. Rudimente eines kollektiven Hilfsangebotes? Ich weiß nicht. Hoffentlich schlägt der Hai mit Carola keine Haken! Die CHARMION kann das wohl auch, aber es könnte einige von uns vom Boot runterfegen.

"Carola! Loslassen!" ruft Edwin, "Wir fischen dich auf!"

"Zu weit weg - sie hört dich nicht." sage ich.

Da macht der Hai seinen Haken. Er biegt nach Osten ab. Die CHARMION schwenkt sofort hinterher, und wir halten uns an den Kollisionsschienen fest. Die passen schon auf, in der Zentrale!

Nun verringert sich der Abstand schnell. Das hat der Hai wohl nicht beabsichtigt, wie eigentlich auch das Hakenschlagen auf offener See ziemlich sinnlos ist, wenn man von einem gleichbeweglichen Tier verfolgt wird, und der Abstand noch groß ist. Vielleicht haben wir doch Glück.

Als es weniger als 100 Meter sind, fängt Edwin wieder an, zu rufen, und ich Stimme mit ein: "Carola! Loslassen! Carola! Loslassen!" Herrgott, sie braucht doch jetzt nur den Blick um 70 Grad zu drehen!

Und sie tut es. Sekundenlang sieht sie uns an. Sie ist ja kurzsichtig, fällt mir ein. Und wir rufen weiter: "Carola! Loslassen!" Dann tun wir es synchron, und alle anderen machen mit. Sie kapiert nicht.

Und dann kapiert sie doch. Die Entfernung ist schon wieder über 200 Meter. Von einer Sekunde zur anderen schwimmt sie alleine im Wasser. Eine Rückenflosse entfernt sich von ihr. Die CHARMION nimmt genau Kurs.

Carola verschwindet von der Obefläche. Sie ist zu erschöpft zum Schwimmen. Sie würde jetzt ertrinken. Aber es dauert nur eine halbe Minute, und wir sind da, wo wir sie zuletzt gesehen haben. Das Boot kommt zum Stillstand - wir spüren, daß die Vortriebsmaschinen vollen Gegenschub geben.

Im Schiff muß man sie jetzt genau sehen, auch, wenn sie sinkt. Tut man auch. In der Einstiegsluke taucht Amerlingen's Kopf auf: "Vorm Bug! Drei Meter Tiefe! Nun macht schon! Ihr anderen bleibt, wo ihr seid!"

Augenblicklich nehmen zwei der Taucher - Aldingborg und Sydekum - Anlauf. Und wir warten.

Es dauert nicht lange. Alle Hände greifen zu, als sie aus dem Wasser gehoben wird. Sie ist offenbar ohnmächtig. In Windeseile wird sie zu den Einstiegsluken getragen. Keine dreißig Sekunden später dürfte sie in der Krankenstation angekommen sein, wo Doktor Morton augenblicklich die Wiederbelebung machen wird.

Langsam, einer nach dem anderen, steigen wir auch wieder ein. Ich sehe mich noch einmal um: Im Süden und im Osten von uns sind an zwei oder drei Stellen die Rückenflossen von Haien zu erkennen. Mit langsamer Geschwindigkeit entfernen sie sich von uns. Sonst ist nichts zu sehen, was ungewöhnlich ist. Das Meer sieht genauso gleichgültig aus, jetzt, wo es einen Menschen wieder herausgerückt hat wie vor fünf Tagen, als es einen genommem hat.

Das wenigstens, denke ich, als ich in die helle, trockene Kühle des Bootes zurücksteige, ist bei unseren Meeren da oben ganz genauso.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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