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76. Forschungsprogramm

Sie beratschlagen lange. Aber als sie wiederkommen, kann ich als Verteidiger einen Erfolg verbuchen: Rest der Reise in Fesseln, aber auf Bewährung - also erst einmal nicht in Fesseln. Aber ihre User-Id auf dem Rechner wird zunächst natürlich gesperrt - auf der Stelle - Edwin wird geholt, um dieses sofort zu tun. Das nützt natürlich nur etwas, wenn sie nicht mehr über das supersuperuser-Paßwort verfügt. Sicher sind wir uns in diesem Punkte nicht.

Es ist bald Mitternacht, und wir können endlich in die Falle gehen. Wenn wir uns mehrere solche Verhandlungen im Projektverlauf leisten, können wir unser wissenschaftliches Forschungsprogramm vergessen.

Programm für den nächsten Tag, den 17. Februar 1999: Da weitermachen, wo wir aufgehöhrt haben. Gerald will weitere Gesteinsproben, unsere Biologen wollen endlich das erste organische Material unter ihre Mikroskope bekommen, und die Paläontologen und Zoologen wollen endlich eine interessante Tierart vor Kameras und Mikrophone bekommen.

Südseite der Coracora-Insel. Wir folgen wieder dem Uferverlauf, diesmal langsamer und gründlicher, als wir es schon getan haben, als wir Carola suchten.

Die Gesteinsproben, die Gerald haben will, kann er nur von den steilen Uferabschnitten nehmen. Dort, wo der Urwald bis zum Ufer hinunterreicht, ist der Fels von Humus und Pflanzenwuchs bedeckt. Da sind die ersten organischen Proben für die Biologen ganz leicht zu erhalten: Man schneidet einfach ein paar Blätter von Bäumen, die über das Wasser ragen, ab. So kriegt man wenigstens einmal eine Zelle aus der Welthöhle unter das Elektronenmikroskop.

Aber darüber hinaus ist es schwierig. Massenweise Proben einzusammeln werden wir sowieso nicht, weil wir nicht den Platz haben, das alles nach Hause zu bringen. Was wir messen und anfassen und sehen, landet als Daten im Computer. Aber um Pflanzen zu sehen, anzufassen und zu klassifizieren, muß man sie erst einmal haben, muß feststellen, wo die eine Pflanze anfängt und die andere, vielleicht ein Parasit, aufhört, muß also Wurzeln und Äste auseinanderfummeln. Man müßte also an Land gehen. Das geht nirgends. Die Steilheit des Ufers und sein dichter Bewuchs verhindern das. Dazu die schwüle Hitze, die sehr wenig motiviert, sich aus der Reichweite der kühlen Bordspringbrunnen hinauszubegeben.

Wieder fällt mir das Mißverhältnis auf: Unser modernes U-Boot, und wie sammeln wir unsere Proben ein? Wir lesen sie vom Boden auf und schneiden sie ab, und das unter allerlei schweißtreibenden Verrenkungen. Naja, die Apollo-Astronauten haben ihre Gesteinsproben auch durch Bücken aufheben müssen. Aber Apollo war ein vergleichsweise simples Programm, verglichen mit der CHARMION! Und APOLLO hat wenig wirtschaftlich verwendbare Resultate gebracht. Bei unserem Projekt geht es um Billionen - in der Größenordnung könnten, nach offizieller Lesart, die Resultate der wirtschaftlichen Nutzung der Welthöhle liegen!

Auch, wenn wir uns auf Aufnahmen mit den Kameras beschränken, verhalten wir uns schwerfällig. Die Kameras der CHARMION laufen sowieso dauernd, dazu können wir an Deck stehen und die Kameras dahinhalten, wo wir wollen. Durch lautes Rufen durch die offenen Einstiegsluken teilen wir dann der Zentrale mit, wo das Boot hinsoll. Geht's noch primitiver?

Mir fällt ein, daß wir, verglichen mit den APOLLO-Missionen, einen Vorteil haben: Keine Bodenstation hat Verbindung mit uns. Niemand kann uns gegen unseren Willen herumscheuchen. Wir sind ganz allein auf uns gestellt. Kein weltweites Publikum. Wie unsere bisherige Reise wohl verlaufen wäre, wenn es eine permanente Fernsehverbindung zur Heimat gegeben hätte? Ob wir viel von dem, was wir erzählen, hätten manipulieren müssen? Ob wir es getan hätten?

Dr. Reinhardt's Laune ist auch nicht zum Besten. In dem dichten Urwald haben wir bis jetzt keine größeren Tiere gesehen, und die Flugsaurier, die da oben immer noch die Felsen umkreisen - jetzt häufig über unseren Köpfen - halten respektvoll Abstand und kümmern sich darüber hinaus nicht um uns.

Die Kleidung bei der Arbeit auf Deck hat sich den Umständen angeglichen: Badehose und sonst nichts. Der Service auch: Esther Petersen und Vivian Grail machen sich um unser Wohl verdient, indem sie uns mit Getränken versorgen. Natürlich haben wir die strikte Vorgabe, keinerlei Müll über Bord zu werfen. Explizit hat sich Wellington zum Pinkeln über die Reeling geäußert. Das ist strikt untersagt, nicht nur, weil wir keine Reeling haben. Es werden, jedenfalls solange wir keinen Landgang machen und dann gar keine andere Wahl haben, die Toiletten im Schiff benutzt. Schließlich wollen die Biologen ja auch das Wasser um das Boot herum analysieren, und dazu sollten dort nur Welthöhlenorganismen drin sein und nicht unsere Vorhautbewohner.

Ich bezweifele, daß sich das Konzept durchhalten läßt: Der ständige Kühlungsregen rinnt an unseren Körpern herunter, nimmt dort sicher alles mögliche an Dermatophyten mit, einschließlich der Fußpilzsporen, wenn das Wasser durch unsere Zehen rinnt, und dann läuft es über die Rundung der CHARMION ins Meer. Wer sich auf die Kollisionsschienen an der Seite setzt, oder wer auf den äußeren Tauchtanks steht, hat seine Füße auch im Wasser. Ich bin sicher, daß die CHARMION schon längst von einer Wolke von Mikroorganismen, die wir selbst mitgebracht haben, umgeben ist. Besonders, wenn wir uns langsam oder gar nicht bewegen, dürfte sich eine Untersuchung des Wasser um das Boot herum erübrigen.

Tja, und wenn es schon so ist, dann sieht man auch nicht ein, wieso man zum Pinkeln immer ins Boot rennen muß. Soviel, wie wir trinken, müssen wir nämlich oft pinkeln. Und da mehr als das halbe wissenschaftliche Personal an Deck ist, heißt das, daß an den Einstiegsluken ein fürchterlicher Betrieb ist. Da liegt die Optimierung nahe. Natürlich unauffällig, wie im Schwimmbad. Immer häufiger geht jemand eine Runde ums Boot schwimmen. Natürlich nicht wegen der Erfrischung, die hat man nur an Deck. Sondern um unauffällig pinkeln zu können. Das ist wie im Schwimmbad, wo man dazu ja auch nicht auf den Dreimeterturm steigt.

Jedenfalls bin ich sicher, daß die Konzentrationswerte von Harnstoff, die im umgebenden Wasser gemessen werden, unzuverlässig sein werden. Aber mir ist es egal - die 'legitimen' Welthöhlenbewohner müssen sich ja auch körperlich entschlacken, und um zu sehen, wie weit der Stoffwechsel eines Sauriers die Aminosäuren abbaut, reicht es nicht aus, dieses indirekt zu erschließen, indem man Urinreste im Meerwasser mißt. Nein, dazu werden wir einem solchen Viech schon selbst eine Urinprobe entnehmen müssen.

Bin neugierig, wie wir das anstellen werden!

Ein weniger rücksichtsvolles Vorgehen wäre, das zu untersuchende Tier zu erlegen und den Blaseninhalt aus dem Kadaver zu entnehmen und zu untersuchen. Das dürfen wir nicht, obwohl es gegebenenfalls das schnellste Verfahren wäre. Wenn wir daran denken, daß jede Stunde dieser Mission soviel kostet wie das Lebenseinkommen einiger hundert Einwohner der EG, dann ist diese Rücksicht verwunderlich. Andererseit ist es eine historische Mission, und alles, was wir tun, wird später einmal in den Geschichtsbüchern stehen. Deshalb müssen wir uns überall Mühe geben, ob es nun bei einer Verhandlung eines Bordgerichtes ist, wie gestern, oder bei der Behandlung der hiesigen Ökosphäre. Auch, wenn uns nicht dauernd eine live-übetragende Fernsehkamera über den Nacken schaut.

Was für einen Widerspruch! Das endgültige Ziel der Mission ist die wirtschaftliche Nutzung der Welthöhle, was einen ganz massiven Schaden in dieser Ökosphäre bewirken wird, so wie es bei uns oben schon längst der Fall ist. Aber jetzt, bei diesen 'Voruntersuchungen', treten wir noch leise auf. Es ist so widersprüchlich, als ob eine naturbelassene Wiese demnächst von Bulldozern weggebaggert werden soll, und kurz vorher maschiert der Vermessungsingenieur über diese Wiese, pflanzt ein paar Schilder ein, auf denen 'Bitte den Rasen nicht betreten!' steht, und bemüht sich, möglichst wenig Gras breitzutreten und keine Vögel zu erschrecken.

Nicht jeder braucht seinen Forschungsarbeiten an Deck nachzugehen. Schließlich gibt es auch eine Unterwasserfauna und eine Unterwasserflora, und um die zu betrachten kann man im Schiff bequem in den Labors sitzen und die Übertragungen der Außenkameras ansehen oder Dronen durch die Unterwasserriffe der Inseln steuern. Auch zum Katalogisieren der Meßwerte braucht man nicht den bequemen Sessel zu verlassen. Allerdings zeigt sich, daß die Reichhaltigkeit der Biosphäre unter Wasser nicht derjenigen über Wasser gleichkommt. Es gibt Unterwasserpflanzen, und zwischen ihnen schwimmen auch kleine Fische herum. Aber die Dichte des Pflanzenbewuchses nimmt mit steigender Tiefe rasch ab.

Unsere Biologen können über Einzelheiten spekulieren und die Pflanzen teilweise klassifizieren. Aber so ungefähr ist mir klar, daß die ohnehin schon geringe Beleuchtungsstärke unter Wasser noch viel schwächer ist und daß deshalb kaum Energie für die Photosynthese zur Verfügung steht. Und wegen der geringen Pflanzendichte ist der Anfang der Nahrungskette für die Fauna auch dürftig. Zusätzlich steht als Energieversorgung nur noch der schwache Wärmestrom aus dem Erdinnern zur Verfügung.

Vielleicht kann man die geringe Insektenhäufigkeit, die wir heute genauso wie wir damals feststellen können, auch so ähnlich erklären. Kein Grund zur Beschwerde - in tropischer Umgebung sind Insekten manchmal die schlimmste Plage von allen, und ich vermisse sie überhaupt nicht.

Es gibt allerdings einige Stellen, wo Unterwassertälchen bis in größere, dunkle Tiefen dicht bewachsen sind. Das muß an Wasserläufen liegen, die lokal größere Mengen organisches Material in das Meer einbringen. Unsere Biologen sind dabei, das zu untersuchen.

Gegen Abend, kurz vor dem Essen, spricht Doktor Morton mich an. Ich folge ihr aufs Revier.

"Sind Sie inzwischen darüber informiert, daß Frau Yay doch nicht schwanger ist?" fragt sie.

"Ja, es gab einen Hinweis. Haben Sie es jetzt herausgefunden?"

"Ich habe es schon immer gewußt."

Ich bin etwas erstaunt: "Soll das heißen, daß Sie mir absichtlich etwas vorgemacht haben?"

"Das soll heißen, daß ich Frau Yay absichtlich etwas vorgemacht habe. Ich konnte Ihnen deshalb natürlich nicht die Wahrheit sagen."

"Und warum haben Sie das gemacht?"

"Sie erinnern sich an unsere Überlegungen bezüglich des Todes von Herrn Elderman?"

"Ich erinnere mich an Ihre Überlegungen in dieser Sache!"

"Nun gut. Als nicht ganz Unverdächtge habe ich Frau Yay genau beobachtet. Dann blieb bei ihr eine Regel aus. Sowas kommt vor. Streß, zum Beispiel."

"Ich weiß, warum so etwas vorzukommen pflegt." sage ich.

"Warum unterbrechen Sie mich dann? Die Gelegenheit war günstig. Ich eröffnete ihr, daß sie schwanger sei, und beobachtete ihre Reaktionen. Sie schien mir jedenfalls zu glauben."

"Das kann ich bestätigen. - Und wozu jetzt das Ganze?"

"Frau Yay verhält sich genauso, wie man es erwarten würde. Eine ehrgeizige - ja, ich weiß, dem würden Sie widersprechen - also eine in Maßen ergeizige junge Dame, deren berufliche Pläne und private Lebensplanung durch ein unerwartetes Kind völlig durcheinanderkommen. Mit anderen Worten, sie reagierte vollkommen normal."

"Mit noch anderen Worten, sie wissen überhaupt nichts?"

"Was den Tod von Herrn Elderman betrifft? Nein."

"Mmh. - Sie weiß es schon? - Ich meine, Sie haben es ihr als Fehldiagnose verkauft?"

"Ja."

"Gut. Dann muß ich natürlich Herrn Seltsam auch informieren. Wenn Sie mit ihm sowenig spricht wie in letzter Zeit mit mir, dann weiß er noch nichts."

"Tun Sie das. Außer meiner Reputation als gute Diagnostikerin ist ja nichts kaputt gegangen."

"So?" frage ich, "Sehen Sie daß so einfach? Nichts kaputtgegangen? - Ich war auch etwas durcheinander, als potentieller Vater. Dann hat mir Frau Rau die Sache mit dem gebrauchten Tampon verraten. Als wir da oben beim Schwimmen waren. Deshalb haben wir uns etwas eingehender miteinander unterhalten als es vielleicht sonst der Fall gewesen wäre! Und deshalb sind wir auch - Sie wissen ja. Und deshalb war Frau Rau im entscheidenden Moment nicht in der Lage, schnell zu reagieren, und hat deshalb das sichere Bootsinnere nicht mehr erreicht. Und deshalb ist sie jetzt tot."

"Wollen Sie mir eine Mitverantwortung an dem Tod von Frau Rau unterstellen?"

"Ich möchte nur darauf hinweisen, wie unfair es ist, bei anderen Leuten Schicksal zu spielen!"

"Sind Sie da mehr um das Schicksal von Frau Rau, um das von Frau Yay oder um Ihr eigenes besorgt?"

"Vielleicht um alle drei!"

"Wenn Sie schon so eine umfassende Sorge haben, was ist dann mit Herrn Elderman's Schicksal?"

"Was soll damit sein?"

"Möchten Sie keine Aufklärung? - Meinen Sie, daß sich das in einer Verhandlung wie gestern klären läßt? Ohne Beweise, ohne Geständnisse? - Wir haben nichts dergleichen! Immer noch nicht."

"Und die wollten Sie bekommen! Um jeden Preis! Um um welchen Preis haben Sie sie nun doch nicht bekommen."

"Das kann sich ja noch ändern."

"Mit so einer Art von kriminalistischen Methoden braucht man keine Kriminellen mehr!"

Doktor Morton schweigt. Mit dieser Formulierung bin ich vielleicht etwas zu weit gegangen.

Ich verlasse das Revier. Beim Abendessen setze ich mich mit Alfred Seltsam zusammen. Die Neuigkeit kann ich ihm aber nicht verkaufen - Natalie hat ihn schon informiert. Ihn hat sie informiert und mich nicht! Dann steht er auf und setzt sich auf einen anderen Platz. Neben Natalie.

Gabi, die etwas später kommt, setzt sich dann zwar mir gegenüber. Aber sie hat auch schlechte Laune - vielleicht Resultat der Sündenbock-für-alles-Funktion, die sie jetzt hat. Jedenfalls schweigen wir uns beim Essen eisig an.

Ein richtiger Anwalt kann wenigstens eine saftige Rechnung schicken, denke ich mir.

18. Februar, Donnerstag, der 36. Projekttag. Wir folgem weiter dem Verlauf der Küstenlinie der Coracora-Insel - bei dem gegenwärtigen geringen Tempo werden wir sie morgen einmal umrundet haben. Wir arbeiten so wie gestern, wenn man davon absieht, daß immer mehr immer häufiger im Schiff gemacht wird. Zeitweise sind nur drei oder vier Leute an Deck. Und die Hälfte der Zeit wird darüber diskutiert, wie man den Aufenthalt auf Deck noch einfacher machen kann - die Kühlungsspringbrunnen sind ja nun wirklich ein fürchterliches Provisorium - und wie man dieses eigentlich bei der Konstruktion des Bootes hätte vorhersehen können.

Inzwischen hat sich wie erwartet herausgestellt, daß man die Ergebnisse der permanenten chemischen Analysen des umgebenden Wassers wegen der Verschmutzung durch das Boot selbst skeptisch bewerten muß. Das betrifft jedenfalls die Wasserproben, die man manuell direkt von der Oberfläche abschöpft, oder die durch höhergelegene Ventile am Boot hereingenommen werden. Man kann jedoch auch in Bilgennähe Wasser hereinnehmen, und dort erwischt man ab und zu Wasserproben, die noch nicht durch das Boot beeinflußt wurden. Das ist einfach zu erklären: Der gesamte Energieumsatz verläßt das Boot über die seitlichen Wärmeaustauscher, und das wiederum bewirkt dort eine Aufwärtsströmung. Die CHARMION pumpt also auf diese Weise frisches Wasser aus dem Volumen direkt unter ihr hoch. Und wenn eine Zeitlang keine Bootsausscheidungen in Kielnähe abgegeben worden sind, dann ist das Wasser dort frisch.

Diese Tricks muß man erst einmal kennen. Dann sind sie aber ganz einfach. Und nachdem Günther Cohausz diese Tricks erst einmal begriffen hat, sorgt er dafür, daß auch wirklich jeder weiß, wie einfach die sind.

Wenn die CHARMION aber länger eine Position beibehält, dann wird das durch sie selbst in seiner Zusammensetzung modifizierte Wasser, das horizontal von ihr wegtreibt, eventuell in großem Bogen wieder in die Tiefe geführt. Irgendwann ist es dann soweit, daß wir dauernd die Spuren unserer eigenen Anwesenheit messen. Spätestens dann müßte die Charmion sich wieder weiterbewegen. Oder Wasserproben von entfernteren Stellen durch die Dronen einsammeln.

Reinhardt äußert sich am Nachmittag unzufrieden, und zwar, als er eigentlich das erste Mal einen Erfolg hat: An einer steilen Stelle, die kaum bewachsen ist, sehen wir beim Näherkommen hühnergroße Tiere herrumklettern, die sich rasch als Echsen entpuppen. Das wären dann unsere ersten Saurier, die wir auf dieser Expedition zu Gesicht bekommen, wenn wir diesen Riesenrochen, den wir ganz zu Anfang gesehen haben, nicht zählen. Es sieht so aus, als ob diese kleinen Tiere an diesem steilen, aber für sie nicht zu steilen Felsküstenstück ihre Brutpflege betreiben, und wir können provisorische Nester erkennen. Manche davon kleben in schwindelerregenden Höhen an diesem felsigen Küstenstück, jedenfalls, soweit wir gucken können.

Die flinke Virtuosität ihrer Kletterei ist erstaunlich - unechsenhaft. Als das Boot nähertreibt, äugen sie manchmal neugierig, aber nicht übermäßig besorgt zu uns rüber. Und die Flugsaurier, die in weit größeren Höhen auch hier über der Küste treiben, scheint sie überhaupt nicht zu interessieren.

"Das könnten - das könnte Lesothosaurus oder Fabrosaurus sein. Naja, besser als nichts." stellt Reinhardt fest.

"Ornithischier - Ornithopoden - Fabrosauriden." sage ich, um zu zeigen, daß ich in München wenigstens manchmal aufgepaßt habe.

"Was sonst?" sagt Reinhardt, "Aber daß sie wie Vögel die Felsen bewohnen - Und daß wir noch keine größeren Tiere gesehen haben."

"Diese Insel ist ein kleines Habitat. Und wegen der Steilheit der Berge wahrscheinlich noch in viel kleinere solche unterteilt. Da können sich große Tiere in großen Populationen nicht halten."

"Das weiß ich." knurrt Reinhart, "Aber warum halten sie sich überhaupt hier? Warum werden sie nicht von denen bejagt?" Er deutet auf die Flugsaurier.

"Vielleicht sind die so flink, daß der Erfolg gering ist. Außerdem ist es vielleicht nicht sehr einfach, so in der Nähe einer Felswand herumzufliegen und dann noch so ein Tier herauszupicken." vermute ich.

Die CHARMION ist jetzt noch acht Meter von der Felswand entfernt. Die könnte ich wahrscheinlich besteigen, denke ich. Griffe sind in genügender Menge vorhanden. Sonst könnten diese Tiere ja auch nirgends ihre Nester bauen. Aber ob die mich so ohne Gegenwehr da raufklettern lassen würden?

Reinhardt denkt an das gleiche. "Sie sind ziemlich wehrlos. Wahrscheinlich können sie sich in Sicherheit bringen, aber was machen sie mit den Jungen in den Nestern? Wenn wir jetzt da hineinsteigen würden, dann könnten sie uns doch nicht daran hindern, ihre Nester zu ..."

'Klatsch!' macht es, und über Reinhardt's Gesicht rinnt eine üble, grüne, stinkende Flüssigkeit. Ich trete von ihm einen Schritt zurück.

Fluchend spuckt er aus. "Was zum ..." Der Geruch ist widerlich. Und ich muß lachen: "Nur ungern nimmt der Forschungsmann statt puren Wissens Scheiße an!"

Dann macht es noch einmal 'Klatsch!', und ich kann auch nichts mehr sehen.

Zwei bis drei Minuten später stehen wir in den beiden Duschen im zentralen Niedergang. Auch sonst ist niemand mehr an Deck, und die Einstiegsluken sind zugemacht. Und die Klimaanlage bekommt zu tun.

"Was heißt 'der scheißende Saurus' auf lateinisch?" rufe ich aus dem Türspalt der Dusche hinaus, "Das wäre vielleicht die angemessene Bezeichnung!"

"Jedenfalls wissen wir jetzt, wie diese Tiere sich Angreifer vom Leibe halten. Ob da noch ein zusätzlicher Duftstoff drin ist?"

Das weiß ich natürlich auch nicht. "Schicken wir einen von unseren Chemikern raus - die können auch einmal etwas anderes analysieren als ihre Wasserproben."

"Jedenfalls war das sehr gezielt," mein Reinhardt, "Das war kein Zufall."

Das habe ich nach diesen zwei Volltreffern auch gar nicht bezweifelt. "Wir sollten uns wegen allergischer Reaktionen beobachten lassen," rufe ich zurück, "Haben Sie beobachtet, wie uns eines dieser Tiere den Hintern zugewandt hat?"

"Nein."

"Könnte man solches Verhalten aus Fossilienfunden erschließen?" frage ich weiter.

"Nein. - So, ich bin fertig. Widerliches Zeug."

Als wir mit dem Duschen fertig sind und die Klimaanlage die Luft innerhalb des Schiffes von den restlichen Düften gereinigt hat, sage ich:

"Es war wirklich ohne jede Vorwarnung. Auf der nördlichsten Insel der Shetland-Inseln habe ich einmal eine Kolonie von Seevögeln gesehen - Puffins, oder normale Seemöven, das weiß ich nicht mehr. Die hatten ihre Nester so dicht an dicht am Felsen, daß dieser weiß wie ein Kreidefelsen war. Das war alles Vogelscheiße! Und es stank, ganz gleich, aus welcher Richtung man sich diesem Felsen näherte. - Aber das war wohl mehr ein Symptom der lokalen Überbevölkerung denn eine Verteidigungsabsicht."

"Und?" fragt Reinhardt, "Was wollen Sie damit sagen?"

"Ich habe eben nicht gemerkt, daß die die Felsen vollgeschissen haben. Vielleicht scheißen sie immer im hohen Bogen ins Meer. Vielleicht ungezielt. Sonst müßte dieses ja eine fürchterlich ruchbare Gegend sein, wenn dieses Zeug auf den Felsen kleben bleibt."

"Wir sind hier, um das herauszufinden." stellt Reinhardt fest, "Aber solange wir hier sind, gehe ich nicht noch einmal an Deck. - Mal sehen, wie der Meeresboden hier aussieht."

Wir investieren nicht den ganzen Rest des Tages in die Untersuchung dieses Küstenstückes. Ob auf dem Meeresboden größere Mengen von Hinterlassenschaften dieser Vögel liegen, können wir nicht sagen - da der Uferfelsen auch unter Wasser weiter steil abfällt: Was in hohem Bogen hier ins Meer geschmissen - oder geschissen - wird, sinkt lange und löst sich dabei vielleicht auf.

Abends kommt es in der Kantine zu einem Streitgespräch darüber, wie es kommt, daß es im Wasser gelegentlich so große Tiere gibt, obwohl das Nahrungsangebot nicht überwältigend ist. Mangels wirklicher Fakten können wir da natürlich nicht zu einer endgültigen Einsicht kommen. Meiner Meinung nach sind die großen Tiere sehr beweglich und können deshalb in einer sehr großen Region die nächstkleineren Tiere bejagen. Das heißt aber auch, daß die Bevölkerungsdichte der hiesigen Großtiere im Wasser nicht sehr groß sein kann, und das ist ja auch das, was wir beobachten: außer dem Rochen haben wir ja noch nichts besorgniserregend Großes gesehen.

"Jetzt ist er schon wieder bei seinem Lieblingsthema!" sagt Cohäuszchen darauf.

"Kann ich was dafür? Die meisten Themen, über die man sich unterhalten kann, sind irgendwie relevant zum Thema Existenz oder Nicht-Existenz. Und Bevölkerungsdichte ist ein Attribut der Existenz - eine ihrer Randbedingungen und eines ihrer Hindernisse. - Außerdem wäre es und ganz schön lästig, wenn es hier von riesigen Fischsauriern nur so wimmelte!"

"Aber in deinem Buch hast du von Herden von Sauriern gesprochen!" sagt Edwin, "Also gibt es solche!"

"Überwassertiere. Wegen der geringen Lichtstärke ist hier auf dem Land mehr los als im Wasser. Oben, bei uns, ist das anders - da haben wir dieses thermonukleare Feuer am Himmel, das uns mit soviel Licht versorgt, daß auch das Leben im Meer genug davon hat."

"Könnte richtig sein." nickt Reinhardt. Kollege Reinhardt, Kamerad Reinhardt, denke ich: wir standen gemeinsam an der vordersten Front der Forschung. Aber hier fällt man nicht auf dem Feld der Ehre - hier wir man beschissen. Wörtlich. Ich muß mir irgendwie noch ein paar Bonmot daraus schnitzen.

"Auf jeden Fall," sage ich, durch Reinhardt's Zustimmung ermutigt, "heißt diese geringe Bevölkerungsdichte von Großtieren, die im Wasser leben, daß es in der ganzen Welthöhle nicht sehr viel davon geben kann. Und daß heißt, daß auch nur ein geringes Zurückdrängen dieser Populationen diese zum Aussterben bringen kann!"

"Herwig, nun überleg doch mal, wie wir hierhergekommen sind!" sagt Cohäuszchen, "Glaubst du, daß es auf demselben Weg und auf dieselbe Weise einmal routinemäßig gelingen wird?"

"Nein. Aber ich kann auch ein bißchen betriebswirtschaftlich denken. Was kostet ein Kilometer Autobahn? Was kostet ein Kilometer Autobahn in einem Tunnel und dieses Tunnelstück? Rechne nur nach! 10 Kilometer davon, mit einem Gefälle von eins zu zehn. Das ist immens teuer. Aber es ist ein Klacks, verglichen mit dem, was man sich von der Welthöhle wirtschaftlich verspricht! - Und dann wird es hier von Menschen wimmeln: Touristen und Bauunternehmer. Und sie werden ihren Fuß überall hinsetzen. Erst ihren Fuß, dann Spaten, Spitzhacke, dann den Bulldozer."

"Manchmal denke ich," sagt Edwin, "daß dieses die Vision ist, mit der du abends einschläfst und morgens aufwachst!"

"Du hast recht. So ist es. - Vor einem Vierteljahrhundert hatte ich beim Einschlafen andere Vorstellungen!"

"Jetzt gar nicht mehr? - So kann man doch nicht gescheit leben und arbeiten."

"Du siehst doch, daß ich es kann. Und ich weiß doch, daß es passieren wird, und ich habe es doch schon gesehen! Vancouver Island, zum Beispiel. Keine andere wesentliche Industrie als Holzgewinnung. Und wie sieht die Insel aus? Eine Wüste, groß wie die Schweiz! Hunderte von Quadratkilometern von Wäldern, die niemals mehr sein werden! - Ich möchte mal erleben, daß sich zum Beispiel die Kirchen um diese Art von ungeborenem Leben kümmern!"

Einen Moment schweigt jeder in der Kantine. Ein paar sehen Pater Palmer an.

"Entschuldigen Sie, Pater! - Ich habe sie nicht persönlich gemeint. - Es ist wieder einmal mit mir durchgegangen."

Palmer nickt langsam. "Vielleicht haben Sie sogar recht. Wer ist schon ohne Schuld? Und warum sollte es dann gerade die Kirchen sein?"

Na, das lassen Sie aber nicht Ihre Vorgesetzten hören!" sage ich. Kleines Lachen in der Runde. Die Situation ist wieder entspannt.

"Zu spät." sagt Edwin, "Der bringt es fertig und schreibt wieder ein Buch darüber. Dann weiß alle Welt, daß sie einem Atheisten einmal recht gegeben haben!"

"Dann wird es im Auftrag des Vatikans verlegt - mit einigen, kleinen Änderungen!" sagt der Pater mit einem feinen Lächeln. Sieh da! Humor hat er ja.

19. Februar, Freitag, der 37. Projekttag. Die Umrundung der Coracora-Insel - die zweite Umrundung eigentlich - wird heute beendet werden. Dann müssen wir entscheiden, wohin. Die Untersuchungen werden schon mit großer Routine gemacht.

Die Coracora-Insel wird für uns keine Überraschungen mehr bringen, jedenfalls, solange wir uns an deren Küste aufhalten. Und durch diesen Urwald oder über diese Felsen zu steigen, davor schreckt jeder zurück. Wir sind schließlich nicht auf einem Abenteuerurlaub.

Trotzdem scheint der Urwald immer noch bedrohlich, besonders, wenn das Boot sehr nahe am Ufer liegt, und an der Stelle hochgewachsene Urwaldriesen und dichtes Unterholz schon den Blick auf Volumina versperren, die keine 20 Meter von uns entfernt sind. Dahinter könnte sich alles mögliche verbergen.

Auch Pater Palmer empfindet das so. Als wir einmal beide an einer solchen Stelle an Deck stehen - inzwischen sind wir wieder an der Ostseite der Coracora-Insel -, beobachte ich ihn von der Seite. Er hantiert mit dem VICOMP herum, macht aber im Moment keine Aufnahmen. Er soll so ein bißchen in das Forschungsprogramm der Fachwissenschaftler integriert werden, aber keiner weiß genau, wie. Er ist aus Gründen, die im Moment nicht relevant sind, mit auf diese Reise geschickt worden und kommt sich deshalb überflüssig vor. Beim Anblick des dampfenden Dschungels auf dem Ufer vor uns, in dem wir kaum eine bekannte Pflanze finden können, könnte man natürlich wieder ein Streitgespräch über Evolution anfangen. Von der Evolution biologische Systeme wäre man rasch bei er Evolution ethischer Systeme, und schon wäre die Konfrontation wieder hergestellt. Aber ich habe keine Lust dazu.

"Unheimlich! Jede Sekunde kann uns ja etwas angreifen!" sagt der Pater, als wir zufällig nebeneinander stehen.

"Dann kriegen Sie sicher interessante Aufnahmen zustande!" sage ich und deute auf seinen VICOMP.

"Darauf werde ich gerne verzichten, wenn wir vor hinterhältigen Angriffen verschont bleiben."

"Hinterhältige Angriffe? - Tiere sind nicht hinterhältig! Hinterhalt ist eine typisch menschliche Erfindung."

"Wieso? Es gibt doch genug Beispiele in der Natur, wo zum Beispiel Fallen verwendet werden. Sogar im Pflanzenreich. - Sonnentau, zum Beispiel."

"Falle ja. Aber kein Hinterhalt!" sage ich, "Das Wort 'Hinterhalt' impliziert eine Wertung. Ethische Werte gibt es in der belebten Natur nicht."

Schon sind wir mitten drin in der Diskussion, die ich vermeiden wollte. Die Art und Eigenschaften und das Verhalten einer Spezies als evolutionäre Antwort auf die Frage, wie man als Lebewesen existiert. Das kann doch niemals mit 'gut' oder 'böse' bewertet werden.

Palmer merkt, daß wir auf ein Konfrontationsthema zusteuern. Er will es auch vermeiden, habe ich den Eindruck.

"Auf jeden Fall," sagt er, "kann man in jedem Wald in Deutschland mit wesentlich mehr Gelassenheit einen Spaziergang machen als hier."

"Ja, leider." sage ich.

"Wieso leider? Suchen Sie denn immer ein Abenteuer, wenn Sie spazieren gehen? - Oder wenn Sie einen Waldlauf machen? - Sie laufen doch gerne, erinnere ich mich?"

"Darum geht es nicht," sage ich, "sondern darum, daß ein paar Raubtiere zu einer gesunden Ökosphäre einfach dazugehören. Die haben wir aber alle ausgerottet! Keine Wölfe, keine Bären, keine Luchse - Im nordwestlichen Oberharz weiß ich eine Stelle, wo ein Denkmal steht. Ein Denkmal für den letzten geschossenen Luchs. Als ob das eine Heldentat wäre wie das Besiegen eines feindlichen Heeres!"

"Füchse haben wir." sagt Palmer.

"Ein paar, ja. Die werden auch bejagt. Früher wegen der Tollwut, und seit man das Problem im Griff hat, wegen ihrer Vermehrungswut. Und die kann sich nur deshalb auswirken, weil sie keine Feinde haben!"

"Aber wenn Sie Raubtiere in unseren Wäldern zuließen, dann wäre es aus mit den Spaziergängen! Und mit den Waldläufen!"

"Wäre das nicht die bessere Lösung? Bereisen Sie doch mal die Alpen, sehen Sie sich einige Skigebiete im Sommer an! Zugspitzplatt, Brauneck, was weiß ich. Da finden Sie keine Bergwälder mehr - das sieht dort aus wie Baugruben, bloß damit die Abfahrtsläufer überall hinfahren können! - Was meinen Sie, wie sich diese Gegenden erholen würden, wenn man dort mit Wölfen rechnen müßte!"

"Oder auch nicht," sagt Palmer, "vielleicht lockt das Abenteuer die Leute erst recht!"

"Kann sein." muß ich zugeben, "Vielleicht müßte man Spezialwölfe züchten, die einen besonders großen Appetit auf Abfahrtsläufer haben!"

Unser Gespräch wird unterbrochen, bevor Palmer Gelegenheit hat, seine Empörung zu formulieren. Amerlingens Kopf taucht in der einen Einstiegsluke auf: "Alle ins Boot! Wir kriegen Besuch!"

"Da haben Sie Ihr Abenteuer!" sagt Palmer und setzt sich in Bewegung.

"Wieso? Wir wissen doch noch gar nicht, was es ist! Vielleicht ist es eine Übung!"


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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