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75. Kriegsgericht
Es will sich kein richtiges Triumphgefühl einstellen. Vielleicht liegt das daran, daß Gabi's Überrumpelung schon ein bißchen aus bloßem Zufall geklappt hat. Vielleicht auch daran, daß ich Gabi bis jetzt nicht gerade unsympathisch fand. Und natürlich wird Carola dadurch auch nicht wieder lebendig.
Dann natürlich unser verletzter Stolz - daß gerade Gabi uns so lange erfolgreich an der Nase herumgeführt hat - naja, die Einzelheiten werden wir jetzt erst noch erfragen. Wellington verliert keine Zeit.
Längst ist die CHARMION wieder an der Oberfläche und nähert sich zum zweiten Male der Carola-Rau-Insel. Gabi aber sitzt mit gebundenen Händen in der Zentrale und wird befragt. Leider gibt sie kaum vernünftige Antworten. Doktor Morton ist, wie ich vorgeschlagen habe, dabei und beobachtet Gabi genau, aber sie zuckt nur mit den Schultern: "Kaum Anhaltspunkte!" flüstert sie mir irgendwann zu, "Sie kann geistig ganz normal sein!"
Macht das unsere Situation komplizierter oder einfacher?
Eugen Serpinski steht hinter ihr. Seine Körperkräfte sind zwar nicht unbedingt nötig, um diese halbe Person gegebenenfalls festzuhalten, aber man weiß natürlich nie, auf welchen Einfall jemand in dieser Situation kommt.
Dafür habe ich einen Einfall und winke Amerlingen und Doktor Morton. Wir gehen nach nebenan, ins Krankenrevier.
"Ich schlage eine Wahrheitsdroge vor!" sage ich.
"Unethisch. Außerdem habe ich sowas nicht!" wehrt sich Doktor Morton entschieden.
"Wir haben." sage ich, "Ich dachte an die klassische Wahrheitsdroge."
"Wollen Sie etwa vorschlagen ..." fragt Amerlingen mit einem Tonfall, als ob er fürchtet, daß ich ihn um einen größeres Darlehen ersuchen könnte.
"Genau das will ich vorschlagen."
"Soviel haben wir davon nicht! Und soll ausgerechnet sie - das gibt einen Aufstand unter den Leuten!"
"Sie wird uns nicht alles wegtrinken können."
"Glauben Sie, daß Sie unsere Absicht nicht durchschaut?" wendet Doktor Morton ein, "So dumm ist sie auch nicht!"
"Kommt ganz darauf an, wie man es anstellt." sage ich, "Außerdem gäbe es noch die prinzipielle Möglichkeit, ihr geringe Mengen medizinischen Alkohols intravenös zu injizieren. Wäre das auch unethisch? - Immerhin würde es unsere Vorräte schonen!"
Doktor Morton macht nicht den Eindruck, als ob sie das für eine glänzende Idee hält.
"Hat sie überhaupt einen Hang zum Alkohol?" fragt Amerlingen.
"Ich habe nie etwas dergleichen bemerkt. Aber es könnte sein, daß ihr Ex-Mann getrunken hat. Es hat da eine Bemerkung in dieser Richtung gegeben. Vielleicht ist das auch der Grund der Trennung gewesen - ich weiß nicht."
"Wenn das so ist, dann kriegen Sie keinen Tropfen in sie hinein. Jedenfalls nicht freiwillig." stellt Doktor Morton fest. - Ich könnte mich jetzt darüber auslassen, welche Tropfen ich schon in sie hineingekriegt habe, und wie das damals mit der Freiwilligkeit war, aber das hülfe uns jetzt nicht weiter.
"Was machen wir überhaupt mit ihr? Ich habe nicht die geringste Idee. Es ist einfach nicht vorgesehen, daß an Bord jemand gemeingefährlich wird und eingesperrt werden muß. Oder so etwas ähnliches. Was würden Sie denn tun, Herr Homberg?"
Ich kann Amerlingen auch keine Patentlösungen anbieten. "Eines hat sie ja selber vorgeschlagen, auch wenn ich nicht glaube, daß es ernst gemeint war."
"Nämlich?"
"Sie will zu den Granitbeißerinnen. Diesen Wunsch könnte man ihr ja erfüllen. - Eventuell."
"Ich weiß nicht." Amerlingen ist sichtlich unentschlossen. "Nicht die Art Geschenke für die Eingeborenen, die ich mir vorstelle. Genausowenig wie Glasperlen."
"Tja, es ist eine Variation über ein Thema," sage ich, "sind früher nicht meuternde Seeleute auf unbewohnten Inseln ausgesetzt worden? Mit einer Flinte, und Vorräten für die erste Zeit? - An unbewohnten Inseln hat es hier keinen Mangel!"
"Sie wird zerrissen. Das ist das erste, was passiert - irgendein Diplodocus oder ein Allosaurus. Der erste, der daherkommt. - Oder ein Brachiosaurus latscht auf sie drauf."
"Tja," sage ich, "stimmt. Und Reinhardt kann nicht dabei zusehen. Das können wir beiden nicht antun."
"Ihre Gedankengänge! - Also, was machen wir?"
"Ich habe einen Vorschlag," sage ich, "ich mache den Advokatus diaboli. Oder so ähnlich. Sie verhören sie jetzt eine Weile, so daß ihr Hören und Sehen vergeht. Halten Sie ihr alles mögliche vor. Was an rechtlichen Konsequenzen auf sie wartet. Phantasieren sie etwas dazu, wenn nötig. Dann, wenn sie leidlich fertig ist, bin ich dran. Ich trinke dann etwas mit ihr. Zeige Verständnis. Mitleid. Oder was sich eben anbietet. Nehme gewissermaßen ihre Partei. - Vielleicht klappt es."
"Wir sind nicht hierhergekommen, um endlose Verhöre zu führen!" protestiert Amerlingen, "Wir haben ein wissenschaftliches Programm durchzuführen!"
"Na gut, na gut!" sage ich, "Dann schicken wir sie an Deck und tauchen! Ist mir nur zu recht! - Auge um Auge, Zahn um Zahn ..."
Amerlingen atmet tief durch. "Okay. Ich überrede den Alten zu einer Kriegsgericht-Show. Wir erfinden ein paar Vorschriften. Ob er für sowas zu haben ist, weiß ich nicht. Irgend eine Befragung muß er ja sowieso machen. Und sie müssen dann eben in den Pausen tätig werden - oder noch besser: Sie machen ihren Anwalt! - Haben Sie juristische Kenntnisse?"
"Ich habe vor Jahren mal einige Folgen von 'Liebling, Kreuzberg' gesehen!" sage ich, "Das ist nicht genau dasselbe wie ein Jurastudium."
"Dann improvisieren Sie eben, Homberg. - Wir müssen wissen, was dahinter steckt! - Und Sie, Doktor Morton, sollten auch die ganze Zeit zusehen. Für alle Fälle."
"Wo machen wir's?" frage ich.
"Kantine. Morgen nach dem Frühstück. Und die ganze Nacht befragen wir sie, bis sie vor Müdigkeit umfällt. Bleibt uns wohl nichts anderes übrig. Als ihr 'Anwalt' müssen Sie dann natürlich auch schon mit ihr reden."
"Stimmt. - Bleiben wir also bei der Redeweise 'Kriegsgericht'?"
"Ja. Ich glaube sogar, das könnte sie uns abkaufen."
"Warum?"
"Wegen der Bomben, die da plötzlich aufgetaucht sind. Das könnte bei ihr - und bei vielen anderen - den Eindruck machen, als ob die Expedition Zielsetzungen hätte, die nicht jeder wissen soll."
Wie recht er hat, denke ich. Er weiß gar nicht, wie recht er hat.
So um 14 Uhr sind wir wieder an derselben Stelle unter der mächtigen Felswand am Südende der Carola-Rau-Insel. Wir sind allerdings dazu übergegangen, meistens 'Coracora-Insel' zu sagen. Das klingt exotischer, und es war die User-ID, unter der Carola dem PRO-UNIX bekannt war. Und es ist natürlich kürzer.
Gerald hat so Gelegenheit, da weiterzumachen, wo er unterbrochen wurde - ich habe inzwischen auch erfahren, daß ich tatsächlich versäumt habe, zuzusehen, wie er ins Wasser gefallen ist: Gerade, als er in den Fels einsteigen wollte, kam die Meldung unserer Geiselnahme aus dem Schiff, und da wurde es auf Deck etwas hektisch. Es ist ihm nichts passiert, aber es war wieder eine deutliche Warnung: Auch, wenn man aus bloß zwei Meter Höhe mit dem Schädel auf die Stahlhülle der CHARMION knallt, kann man sich den Schädel brechen.
Schon wenig später habe ich mein erstes 'Mandantenanbahnungsgespräch'. Gabi wird in die Krankenstation geführt und Eugen Serpinski weicht nicht von ihrer Seite. Außer diesen beiden und mir ist sonst niemand anwesend. Nun muß ich etwas improvisieren. So etwas habe ich schließlich noch nie gemacht. Mal sehen. Eugen setzt Gabi einfach auf eine der Liegen, weil ihre Hände immer noch gebunden sind.
"Du steckst in einer schlimmen Lage, Gabi!" sage ich, "Dir ist das doch wohl klar?"
Sie antwortet nicht.
"Soll er rausgehen?" Ich deute auf Eugen. Dieser verläßt daraufhin die Krankenstation, obwohl Gabi sich dazu nicht äußert. "Ich sehe in unregelmäßigen Abständen mal rein." sagt er, bevor er die Tür hinter sich schließt. Nun bin ich mit Gabi allein.
"Du hast mehrfach versucht, Menschen umzubringen. Der Alte hat in seinen Vorschriften nachgesehen und rausgefunden, daß unter solchen Umständen ein formelles Gerichtsverfahren durchgeführt werden muß, und zwar gleich hier, an Ort und Stelle. Dazu ist ein Anwalt notwendig, der die Verteidigung übernehmen muß. Wir haben hier keinen Anwalt, also mußte einer dazu bestimmt werden. Das wollte keiner tun, und da ist es an mir hängen geblieben - warum, weiß ich auch nicht. Ich habe mich nicht um den Job gerissen. Also mach es uns nicht schwerer als unbedingt notwendig!"
Sie sagt immer noch nichts. Vielleicht habe ich den falschen Tonfall getroffen. Ich probiere eine Variation:
"Gabi, denk daran! Da gibt es Vorschriften, die in erster Linie sicherstellen sollen, daß das Verfahren rechtsstaatlich abläuft. Aber in allererster Linie muß das Unternehmen störungsfrei durchgeführt werden, und so, wie ich es verstanden habe, hat das Gericht da sehr weitgehende Vollmachten!"
Sie sieht mich unter ihrem Pony an. Gleichgültig? Amüsiert?
"Sie hätten dir die Hände auch auf dem Rücken binden können!" sage ich, "Du siehst, daß sie sich um ein faires Verfahren ohne große Belastungen für dich bemühen!"
"Ihr seid doch sowieso in der Mehrzahl!" sagt sie, "Ihr könnt doch mit mir machen, was ihr wollt!"
"Natürlich können wir das!" sage ich, "Und damit das nicht passiert, sind in einem Rechtsstaat gewisse Verfahren vorgeschrieben! Hier an Bord gelten nicht die rüden Umgangsformen der Granitbeißerinnen, zu denen du ja so gerne hinwillst! - Die hätten dir schon längst den Kopf vom Rumpf getrennt."
"In der EG gibt es keine Todesstrafe!" sagt sie.
"Das ist doch das, was ich sage!" fahre ich fort, "du wirst hier fair behandelt! Nicht nur ein ordentliches Verfahren, sondern es wird dir sogar im schlimmsten Fall diese Strafe erspart, einfach schon deshalb, um immer wieder eine Revision zu ermöglichen! Das ist doch eine der Ideen, die hinter der Abschaffung der Todesstrafe stehen! - Übrigens stimmt das mit der Todesstrafe nicht so ganz, solange wir auf diesem Unternehmen sind. Wenn ganz besonderen Umständen, die das Unternehmen gefährden, nicht mehr anders zu begegnen ist ..."
"Sage ich doch. Ihr könnt machen, was ihr wollt."
"Okay. Wenn du meinst. Trotzdem wäre es sinnvoll, wenn wir mal darüber reden, an welchen Vorfällen du beteiligt gewesen bist und an welchen nicht, und was du dir dabei gedacht hast."
"Nein."
"Warum nicht?"
"Ihr müßt mir erst einmal etwas beweisen!"
"Die Geiselnahme vorhin, bei der ist nicht viel zu beweisen. Die ganze Besatzung ist Zeuge. Und die reicht als Straftatbestand bereits aus."
"Und warum sollte ich das gemacht haben?"
"Wenn man dir keinen Grund nachweisen kann, warum du das gemacht hast, dann muß man notwendigerweise annehmen, daß deine Gedankengänge etwas abstrus und gemeingefährlich sind. Dann mußt du in eine Art Sicherheitsverwahrung! - Willst du das nicht lieber vermeiden?"
"Was für eine Sicherheitsverwahrung? Wie geht das?"
"Ah! - Hast du dir das auch schon überlegt! - Ja, das ist an Bord dieses Schiffes allerdings etwas schwierig."
Gabi erlaubt sich ein leichtes Lächeln.
"Deshalb könnten wir durchaus auf deinen eigenen Wunsch zurückkommen."
"Was?"
"Aussetzen."
Sie zieht ein schiefes Gesicht.
"Glaub ja nicht, daß das ein mildes Urteil ist!" fahre ich fort, "In dieser Welt überlebst du nicht lange. Keiner von uns kann das - glaub das bloß nicht, bloß weil ich es einmal für 90 Tage geschafft habe! Und wenn wir dich zu den Granitbeißerinnen bringen - nach Grom, oder zu einer anderen Siedlung - für die bist du auch nicht geboren. Glaub das ja nicht. Was glaubst du, was die mit jemandem machen, die schon der bloße Aufenthalt in der Welthöhle zur Kurzatmigkeit zwingt? - Oder willst du mir erzählen, daß du gerne draußen bist? Bei dieser Knuffhitze? - Du warst doch eine der ersten, die wieder im Boot drin war! - Denk dran, Gabi: In der ganzen Welthöhle gibt es nur eine einzige Klimaanlange. Und die ist hier an Bord!"
"Als mein Verteidiger sollst du mir helfen und mich nicht entmutigen."
"Als dein Verteidiger muß ich dir auch deine Lage klarmachen. Und bei meinem Job - der in deinem Interesse ist - mußt du mich unterstützen. Unterstützen mit Informationen. Sonst kann ich nichts für dich tun."
"Du redest aber so, als ob du mich mit allen anderen zusammen am liebsten gleich aussetzen würdest."
"Tue ich das? - Kann sein. Ich bin kein gelernter Anwalt. Und bloß, weil ich diesen Job bekommen habe, muß ich nicht vor Mitleid und Sympathie zu dir zerfließen. - Also. Was kannst du mir erzählen?"
"Strengt euch gefälligst selber an." sagt sie.
Ich versuche es anders: "Du hast die supersuperuser-Berechtigung, ja?"
"Woher sollte ich die denn bekommen haben?"
"Das, zum Beispiel, würden wir ja ganz gerne wissen. Sonst hat sie keiner!"
"Doch." sagt Gabi.
"Doch? - Da schau her. Wie kannst du denn das wissen, wenn du sie selbst nicht hast?"
Kleiner Triumph für mich. Gabi merkt das auch und schweigt wieder verbissen.
"Also: Du hast sie, und jemand anders auch noch?"
Keine Antwort.
"Es wäre doch für dich ein Leichtes gewesen, das Paßwort zu ändern und damit den anderen rauszuschmeißen, ja?"
Immer noch keine Antwort.
"Und für den anderen auch! - Oder hast du das gemacht?"
"Nein." sagt sie.
"Und warum nicht?"
"Zu gefährlich."
"Zu gefährlich? Für wen? Für dich? Für uns alle? Das ist ja ein ganz neuer Gesichtspunkt!"
"Spotte nur."
"Ich spotte nicht. Du hast gerade zu erkennen gegeben, daß du, in gewissem Maße wenigstens, um unsere Sicherheit besorgt bist. Das ist zum Beispiel etwas, was ein Verteidiger wissen sollte."
"Ich war um meine eigene Sicherheit besorgt."
"Das macht dir ja auch niemand zum Vorwurf."
Weil sie nicht weiter redet, tue ich es nach einer Weile: "Woher wußtest du denn, daß da noch ein anderer supersuperuser ist?"
"Sieht man doch!"
"Woran?"
"Kannst du UNIX, oder kannst du es nicht?"
"Ich kann es. Ich will wissen, ob du es kannst!"
"Vielleicht besser als du!"
"Aha. - Gut. Mag sein. - Kannst du mir armen, unwissenden Dummteufel vielleicht erklären, woran man sieht, daß noch ein anderer supersuperuser aktiv ist? - Ich lerne gerne dazu!"
"Prozeßliste."
"Prozeßliste durchsehen?"
"Ja."
"Meinem bescheidenen Dafürhalten reicht das aber nicht. Es kann eine ganze Menge unter einer User-Id laufen, ohne daß jemand sich aktiv am Rechner unter dieser User-Id angemeldet hat."
"Es gibt interaktive Programme, die man nur sinnvoll in einer Session verwenden kann."
"Und solche sind unter der supersuperuser-Id gelaufen?"
"Ja."
"Und was für welche? Und wie oft?"
"Editoren," sagt sie, "und 'crypt'. Zum Beispiel."
"'crypt'? Du meinst, da hat jemand etwas verschlüsselt?"
"Du brauchst mir ja nicht zu glauben."
"Gabi, du wirst lachen, aber ich glaube dir. In diesem Punkt glaube ich dir. - Aber warum hast du den anderen nicht rausgeschmissen?"
"Habe ich doch schon gesagt - zu gefährlich!"
"Jaja. Das hast du. - Und warum hat derjenige dich nicht rausgeschmissen?"
"Weiß ich nicht. - Vielleicht hat er mich übersehen."
"Ein Systemverwalter, der solche wesentlichen Dinge übersieht? Gerade ein Systemverwalter sollte auf nicht-autorisierte Zugriffe im Rechner achten - jedenfalls ein legitimer Systemverwalter, und ein nicht-legitimer Systemverwalter wird wohl auch ein Auge dafür haben. Außerdem war jedem an Bord bekannt, daß da merkwürdige Dinge unter der supersuperuser-Id geschehen. Trotzdem hat er dich nicht rausgeschmissen?"
"Hat er eben nicht. - Ich kann doch nichts dafür." Dann geht sie plötzlich etwas aus sich heraus: "Ich hatte den Eindruck, daß derjenige nicht sehr viel Ahnung vom PRO-UNIX - Betrieb hat."
"Weniger als du?"
"Viel weniger."
"Aha. - Hattest du den Eindruck, daß derjenige offiziell befugt ist, supersuperuser zu sein?"
"Ich weiß es nicht."
"Aber du bist es nicht." Ich sage das mehr als eine Feststellung, und Gabi widerspricht nicht.
"Wie lautet denn das supersuperuser-Paßwort?"
"Sage ich nicht."
Schade. Überrumpelung klappt nicht. Ich versuche es anders:
"Du kennst dich also gut im Betriebssystem aus. Besser als die meisten an Bord?"
"Das will ich meinen."
"Mmh. - Naja, du hast ja einige Fertigkeiten. Steht jedenfalls in deiner Personalakte."
"Hast du die etwa eingesehen?"
"Nein. Ich habe es irgendwo gehört."
"Es ist nie vollständig, was in einer Personalakte steht."
"Nein?" Ich warte auf weitere Erklärungen. Aber Gabi stockt schon wieder. Immer, wenn man an etwas rührt, das Hinweise auf die Gründe ihres Verhaltens geben könnte, hört sie wieder auf, zu reden. Ich probiere es mal anders rum. Vielleicht kommt sie mit ihren Problemen heraus, wenn ich meine eigenen anreiße - mal sehen. Personalakte - da kann ich auch etwas von mir geben:
"Meine Personalakte ist auch nicht vollständig. Was glaubst du, woher man Fertigkeiten und Qualifikationen bekommt? Von Kursen und Seminaren, die einem durch die Firma gewährt werden? Gott bewahre."
"Trotzdem wurdet ihr anständig bezahlt, oder?"
"Wir werden doch alle anständig bezahlt, oder?"
"Ich meine, in unserer vorherigen Firma."
"Naja. Leidlich. Ich weiß nicht. - Wenn man als Sachbearbeiter versagt und deshalb aufsteigen muß, wird man besser bezahlt."
"Genau." sagt Gabi. Mit etwas zuviel Nachdruck. Ist das ihr Problem? Kaum glaubhaft: Jeder glaubt, unterbezahlt zu sein. Deshalb sabotiert man doch nicht ein solches Unternehmen.
"Andererseits - willst du wirklich zu den Leuten gehören, die in einem durchschnittlichen Industrieunternehmen Führungsverantwortung haben?"
"Natürlich." sagt sie.
"Und dabei genauso werden wie die?"
"Wird mir nicht passieren."
"Ach Gabi, überleg doch! Du kennst doch die Mechanismen des Aufsteigens. Kommunikation mit anderen Auch-Aufsteigern. Um den gleichen Grad der Mittelmäßigkeit zu garantieren, und wechselseitige Übereinstimmung in dem, was diese Leute für Visionen halten. Dafür willst du deine Zeit einbringen?"
"Besser, als immer gesagt zu bekommen, was man zu tun hat - auch, wenn man es besser weiß."
"Naja gut. Das übliche Dilemma eines qualifizierten Angestellten. Aber jeder wirklich qualifizierte Sachbearbeiter hat doch seine Methoden, mit diesem Frust fertigzuwerden - von innerer Kündigung bis zu selbstgemachten Intrigen reicht das Spektrum."
"Nicht, wenn man eine Frau ist!"
"Blödsinn. Frauen können genauso weit kommen. Im Prinzip."
"Im Prinzip, ja. Sieh dich doch an Bord um! 24 Männer und 6 Frauen!"
"22 Männer und 5 Frauen." stelle ich richtig.
"Naja. Auf jeden Fall wird nicht anerkannt, was man leistet."
"Glaubst du, du bist die einzige, die das Gefühl hat?"
"Bei Frauen ist das viel schlimmer."
"Und deshalb muß man ab und zu den Männern zeigen, wie wenig sie fachlich können?"
"Ja, genau!" sagt sie.
"Und so zum Beispiel den Schiffsrechner manipulieren, und zwar so, daß niemand etwas rauskriegt?"
Sie schweigt. Habe ich getroffen? Ist es so simpel?
Die Tür geht auf. Eugen steckt den Kopf rein: "Alles okay?"
"Ja, danke!" sage ich, und er verschwindet wieder.
"Gabi, du willst doch nicht behaupten, daß dieser Grund ausreichend ist, uns alle in Lebensgefahr zu bringen! - Da hätte ja jeder Grund."
"Ich wollte es ja nicht. Eigentlich nicht. Aber einiges ist anders gelaufen, als ich es vorhatte."
"Wie anders?"
"Außer Kontrolle geraten. Treiber manipulieren, zum Beispiel."
"Also, jetzt kommen wir der Sache schon näher: Du hast mal einen Treiber manipuliert. Bei der Sache mit dem Wassereinbruch in die Regelzelle? Da am Sonnenstein?"
"Ich sage nichts." sagt sie.
"Na schön," sage ich, "nehme ich mal an, daß es so ist. Du hast im System manipuliert. Du wolltest vielleicht nicht, daß dabei immer etwas so Gefährliches rauskommt, wie es dann eben geschehen ist, aber es ist dann eben passiert. Aber das alles konntest du doch nur machen, weil du die supersuperuser-Berechtigung hattest! Das muß doch enorm schwer gewesen sein, sich diese zu beschaffen!"
"War gar nicht schwer," sagt sie, "jemand hat es am Bildschirm stehen lassen."
"Das Paßwort?"
"Ja."
"Aber beim Einloggen wird das Paßwort nicht auf dem Bildschirm gezeigt - wie kannst du es dann lesen?"
"Es war kein 'Login'-Dialog. Jemand hatte ein Script erstellt, das verschiedene Dinge unter der supersuperuser-Id starten sollte. Da stand das Paßwort drin."
"Bodenlos leichtsinnig! - Wer kann das gewesen sein?"
"Ich weiß nicht. Der Sitz war unbesetzt, und ich habe nur einen kurzen Blick drauf geworfen. - Ich habe erst später verstanden, worum es ging."
"Wann war denn das?"
"Ganz zu Anfang des Unternehmens. - Aber wir waren schon auf See."
"Also jemand von der Besatzung?"
"Ja, natürlich. Aber ich weiß nicht, wer."
"Mmh. Das heißt also, du bist ganz zufällig an dieses Paßwort gekommen?"
"Ja."
"Und zwar deshalb, weil jemand verdammt nachlässig war?"
"Ja. Deshalb sage ich ja, daß dieser jemand keine Ahnung von Informatik hat. - Dieses Script sah aus, als ob jemand noch herumexperimentiert."
"Und später hast du dann selbst rumexperimentiert, als du gemerkt hast, welche Macht dir dieses Paßwort über das Schiff verleiht?"
Gabi schweigt.
"Ist es so?" frage ich. Sie schweigt weiter und senkt den Blick.
"Kannst du sagen, was dieser jemand da gestartet hat? Mit diesem Script?"
"Nein. Zu lange her."
"Was hättest du getan, wenn du nicht durch Zufall dieses Paßwort erfahren hättest?"
"Wahrscheinlich nichts."
"Aber du sagtst doch - oder du sagst es nicht direkt, aber vielleicht meinst du es so - daß dir einige Dinge aus dem Ruder gelaufen sind. Wieso hast du es dann immer wieder versucht?"
Sie schweigt wieder.
"Du könntest jetzt viel für die Sicherheit des Schiffes tun, indem du uns das supersuperuser-Paßwort verrätst!"
Sie schüttelt den Kopf.
"Nein? Aber was hast du denn davon, wenn du es weiter kennst? - Wenn du es uns sagst, dann ändern wir es, und der andere verliert dabei seine supersuperuser-Berechtigung!"
"Ich habe meine Gründe."
"Dürfen wir die erfahren?"
"Nein."
"Du weißt, was das bedeutet?"
Sie sagt nichts.
"Hast du etwas dagegen, wenn wir die einzelnen Fälle durchgehen?"
"Ich sage nichts mehr. Und das Paßwort auch nicht."
"Du machst es uns sehr schwer, Gabi!"
"Ihr verwendet doch alles gegen mich!"
"Ja, was glaubst du denn? - Du hälst uns allen die Pistole vor die Brust!"
"So kann ich mich immer noch verteidigen."
"Mit dem Paßwort? - Glaubst du, daß dir das etwas nützt, wenn das Gericht dich auf einer unbewohnten Insel aussetzt?"
Schon wieder schweigt sie.
"Gabi, denk doch mal nach. Das Paßwort, und die Macht, die damit verbunden ist, haben dich verführt. Und ein paar Dinge sind schlimmer gelaufen, als du es dir vorgestellt hast. Du wolltest es nicht so. Wenn du das dem Kriegsgericht so darstellst, dann hast du gar keinen so schlechten Stand."
"Kriegsgericht?"
Jetzt habe ich dieses Wort das erste Mal verwendet.
"Ja. Kriegsgericht. Ich deutete doch schon an, daß etwas andere Maßstäbe gelten als bei einem gewöhnlichen Gericht."
"Wir sind doch nicht im Krieg!"
"Haben sich die Bomben nicht herumgesprochen?"
"Ja, aber trotzdem sind wir doch nicht im Krieg!"
"Einige an Bord haben spezielle Direktiven auszuführen."
"Was für Direktiven?"
"Direktiven, bei denen es sich um die Vorbereitung militärischer Aktionen handelt."
"Verstehe ich nicht."
Mit der Direktive q78q99q scheint sie wirklich nichts zu tun zu haben. Oder sie macht es sehr geschickt.
"Es ist auch nicht wichtig, daß du alle Einzelheiten kennst. Auf jeden Fall wird ein Kriegsgericht über dich befinden. Es wird bereits zusammengestellt, jetzt, in dieser Sekunde. Und ich sage dir, daß es sehr weitgehende Vollmachten hat."
"Ach."
"Ja. Und es ist wirklich besser, wenn du uns etwas mehr unterstützt. Verstehst du? Ich kann nichts für dich tun, wenn du weiter unkooperativ bist!"
"Du willst es auch nicht."
"Was ich will oder nicht, spielt keine Rolle. Ich habe einen Job bekommen."
Sie überlegt. "Kann ich Bedenkzeit haben?"
"Ja. - Von mir aus."
"Allein?"
Ich stehe auf: "Wie lange?"
"Viertelstunde."
"Okay." Ich gehe zur Tür.
"Herwig?"
"Ja?"
"Würden die mich wirklich aussetzen?"
"Wenn das Urteil so lautet ..."
"Ich meine, würden sie es dann auch tun?"
"Sie müssen!"
"So."
Weil sie weiter nichts sagt, verlasse ich die Krankenstation.
In der Zentrale empfangen mich neugierige Blicke. "Sind Sie weitergekommen?" fragt Wellington.
"Ich glaube schon. Noch keine Einzelheiten. Aber ich glaube, wir steuern auf eine Lösung zu." In kurzen Worten erläutere ich das Gespräch von eben. Das darf ein Anwalt wohl nicht, glaube ich, aber letztlich wollen wir ja alle das gleiche: Das Schiff muß sicher sein, und wenn es gelingt, Gabi das supersuperuser-Paßwort zu entlocken, so daß man es ändern kann, wäre sie von weiteren, unheilvollen Möglichkeiten der Schädigung des Projektes abgeschnitten. Sie könnte sogar weiter im Team bleiben. Jedenfalls ist das die Perspektive, die sich abzeichnet.
"Dann klemmen wir aber auch jemanden anders auch von der supersuperuser-Berechtigung ab!" sagt Amerlingen.
"Das ist kein Problem. Jeder kann jederzeit zu uns kommen und uns darlegen, zu welchem Zwecke man das supersuperuser-Paßwort braucht. Wenn das nicht geschieht, dann wird dieses Paßwort und die damit verbundene supersuperuser-Berechtigung wohl auch nicht im Interesse des Projektes gebraucht. Dann kriegt es keiner." stellt Wellington fest.
Ich könnte darauf hinweisen, daß diese Argumentation nicht funktioniert, wenn einer der anwesenden Schiffsoffiziere der andere derzeitige supersuperuser ist. Aber ein anderes Verfahren fällt mir auch nicht ein.
"Was macht sie da drinnen?" fragt Amerlingen.
"Nachdenken." sage ich, "Dazu hat sie jetzt Grund und Gelegenheit."
"Meinen Sie, sie kooperiert?"
"Ich glaube, ja. Bei dem Wort 'Kriegsgericht' schien sie tief beunruhigt. War wohl eine gute Idee, diese Wortwahl."
"War ja auch Ihre Idee!" grinst Amerlingen.
"Ja? Ach ja. Richtig. Naja: Man soll sich manchmal selber loben, denn nur der Segen kommt von oben."
"Armer Friederich." sagt Amerlingen.
"Welcher Friederich?"
"Von Schiller."
"Ah." sage ich nur.
"Eine Viertelstunde wollte sie haben? - Die ist schon um." sagt Wellington.
"Ich will sie nicht hetzen."
"Aber die Verhandlung können wir ihr nicht ersparen. Wir müssen die Einzelheiten von allen Vorfällen wissen."
"Natürlich," sage ich, "Wir sind noch nicht drauf eingegangen. Aber sie wird sich wohl darauf einlassen. Was bleibt ihr denn sonst übrig?"
"Uns was machen wir an sonstigen Sicherheitsmaßnahmen? Ich meine, außer der, daß sie eben das supersuperuser-Paßwort nicht mehr hat?"
"Ich glaube nicht, daß darüber hinaus noch etwas praktikabel ist."
Wellington überlegt: "Vielleicht können wir uns dann auch die weitere Verhöre ersparen. Gehen sie am besten wieder rein zu ihr!"
"Allein?"
"Ja, natürlich. Sie dürften gar nicht mit uns gesprochen haben."
"Das ist mir klar. - Ich werde meine Zulassung als Anwalt wieder zurückgeben!"
Mit ein paar Schritten bin ich wieder im Krankenrevier.
Gabi sitzt da, wo ich sie verlassen habe - als ob sie sich die 30 Minuten lang gar nicht bewegt hat.
"Nun?" frage ich.
"Okay." sagt sie.
"Volles Geständnis?"
"Was würde dann passieren?"
"Ich weiß es nicht. Ich kann die Entscheidung des Gerichtes nicht vorwegnehmen. Wahrscheinlich gehst du deinen Aufgaben an Bord weiter nach, solange die Expedition andauert. Wenn wir zurückkehren, gibt es dann noch einmal ein richtiges Gerichtsverfahren. Was bei dem rauskommt, kann ich noch viel weniger vorhersagen. Hängt auch ein bißchen davon ab, wie du dich auf dem Rest der Reise verhältst. - Aber eines mußt du unbedingt tun:"
"Nämlich?"
"Uns sofort das supersuperuser-Paßwort geben."
Sie schweigt wieder.
"Gabi! Denk doch nach: Es ist keine Macht, die dir dieses Paßwort verleiht. Die Macht des Zerstörens, mehr nicht. Zerstören ist aber immer einfacher als Aufbauen. - Weißt du eigentlich, daß man Macht messen, oder besser, berechnen kann?"
"Nein."
"Es ist tatsächlich so. Macht ist eine Zahl. Anzahl der Handlungsmöglichkeiten auf ein bestimmtes Ziel hin. Logarithmus davon, weil diese Zahl im allgemeinen sehr groß ist. Ein Toter hat zum Beispiel die Macht Null. Seine Handlungsoption ist genau eine: Nichts zu tun. Eins, Logarithmus davon, das ist Null. Ein Bombenwerfer, ein Terrorist, hat nur zwei Möglichkeiten: Seine Bombe zu werfen oder es nicht zu tun. Logarithmus von 2 ist 1 - wenn wir mal den Zweierlogarithmus nehmen."
"Er kann sich aussuchen, wann und wohin er sie wirft!" sagt Gabi, "Das gibt mehr als zwei Handlungsoptionen."
"Ja, stimmt. Ein bißchen größer ist die Macht schon. Aber es ist problematisch, die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten zu indentifizieren. Eine große Bombe zum Beispiel muß du schon an etwas weiter voneinander entfernten Orten explodieren lassen, um ein deutlich unterschiedliches Ergebnis zu erhalten. Und die verschiedenen Handlungsoptionen zählen natürlich nur, wenn es im Hinblick auf das Ziel einen Unterschied macht. Wenn du zum Beispiel die Sparkasse in Aurich überfallen willst, dann nützt es dir nichts, wenn du in Bad Reichenhall mit einer Pistole rumfuchtelst, oder in Paris."
"Und was hat das jetzt mit mir zu tun?"
"Du hast mit dem Paßwort eine Bombe. Du kannst dir nur aussuchen, ob du das Unternehmen schädigst oder nicht, grob gesprochen. So beschränkt ist die Macht. Eine normale Mitarbeit aber ist eine Kette von zahllosen Einflußnahmen auf das Projekt. Und die Macht ist größer."
"Das paßt aber nicht mit dem zusammen, was man sich normalerweise unter Macht vorstellt!"
"Ich weiß. Die Macht des Zerstörens wird höher bewertet. Das liegt wahrscheinlich an unserer Gefühlswelt, und die ist uns durch unsere Gene vorgeschrieben. Millionen Jahre Erfahrung haben bei uns Macht mit Gewaltausübung verbunden. Das können wir nicht so einfach abwerfen. In bestimmten Situationen nur empfinden wir Macht so, wie es diese Form der Machtberechnung zeigt. Beim Schachspiel, zum Beispiel. Viele Figuren auf dem Brett, günstige Ausgangsposition. Dadurch zahllose Handlungsoption, das heißt viel Macht, daß heißt, diese Partie für sich entscheiden zu können."
"Deine Mathematik stimmt nicht," sagt Gabi, "Wenn ich mit einer Bombe drohe, dann kann ich viele Menschen durch diese Drohung zu bestimmten Handeln bewegen. Zahllose Handlungsoptionen, über die ich so verfügen kann. Und das heißt doch nach deiner Berechnungsmethode viel Macht, oder?"
"Du kannst diesen Menschen aber nur Anweisungen geben, die du formulieren kannst, Handlungen aufzwingen, die du selbst verstehst! - Mal ganz abgesehen davon, daß du bis jetzt nicht gedroht hast, um irgend jemanden zu einem bestimmten Handeln zu bewegen."
"Ja und?"
"Handlungen, die du persönlich durch Drohung erzwingen kannst, sind nur ein kleiner, möglicher Ausschnitt des Handlungsspektrums, das den Menschen, die du bedrohst, sonst zur Verfügung stände! Das ist so: Jeder von uns kennt nur einen kleinen Ausschnitt der Welt. - Denk an totalitäre Staaten und deren absolutem Machtanspruch: Ein Grund, aus dem diese Staaten allesamt wirtschaftlich nicht so erfolgreich sind, ist ihre Macht über ihre eigenen Bürger! Sie schreiben dem Bürger vor, was er zu tun und zu denken hat, und engen damit dessen Handlungsoptionen empfindlich ein - auch die wirtschaftlichen Handlungsoptionen! Die Führung hat Macht, und damit wird der Gesamtheit der so Geführten Macht entzogen. Und schließlich auch der Führung. Das haben wir doch gesehen, im Ostblock! Die letzten zehn Jahre illustrieren das!"
"Trotzdem glaubst du nicht, was du selbst erzählst!" sagt Gabi.
"Inwiefern?"
"Du redest jetzt davon, daß der Verzicht auf Machtkonzentration die Gesamtmacht der Geführten - der dann nicht mehr so Geführten - erhöht. Daher kommt die Wirtschaftskraft einer pluralistischen Gesellschaft. Ist das so richtig?"
"Ja, das kann man so sagen." Gabi muß darüber doch schon mal nachgedacht haben.
"Dann," sagt sie, "vertehe ich nicht, wieso du dauernd für eine Reduzierung der Weltbevölkerung plädierst. Damit reduzierst du doch auch die Gesamtmacht, die der Menschheit zur Verfügung steht, oder?"
"Allerdings."
"Widerspricht das nicht dem, was du vorher gesagt hast?"
"Ich glaube nicht. Zum einen reduziert es nicht die Macht des Einzelnen - welche Macht über sein eigenes persönliches Schlicksal kann man noch haben, wenn man gezwungen ist, mit Dutzend Milliarden anderer Menschen sein Leben auf der planetenweiten Müllhalde dieser Zivilisation zu fristen? Welche Macht hat man persönlich, wenn man seine gesamte Zeit investieren muß, um seine eigene Existenz zu fristen? - Da kommen Resourcenbetrachtungen ins Spiel. - Aber man kann es noch anders sehen: Die Menschheit übt im Moment vermöge ihrer hohen Bevölkerungszahl und ihrer technologischen Potenz Macht auf die gesamte übrige Ökosphäre aus - ohne diese jedoch wirklich zu beherrschen. Eine Reduktion dieser Macht, eine Ausbreitung von Regionen, die der menschlichen Macht vollständig entzogen sind - und das heißt, jeglichen menschlichen Einflusses - würde der Ökosphäre der Erde ermöglichen, wieder zu ihrer eignen Dynamik zurückzufinden. Gerade, indem wir verzichten, auf eine Ökosphäre Macht auszuüben, ermöglichen wir uns selbst, Macht über das eigene Schicksal wiederzugewinnen - weil wir nicht dauernd den letzten Resourcen hinterherlaufen müssen. Das geht natürlich nur mit einer massiven Bevölkerungsreduktion."
Komisch. Manchmal bemerke ich es selber, und dann meistens zu spät: Wenn ich auf dieses Thema komme, dann könnte ich stundenlang reden und immer noch das Gefühl haben, gewisse Aspekte des Problems nicht erwähnt zu haben. Und wenn es eigentlich um ein ganz anderes Thema ging, dann verliere ich das vielleicht aus den Augen. Sind vielleicht doch dieselben geistigen Mechanismen, die man bei anderen als ideologische Verbohrtheit diagnostiziert.
"Siehst du." sagt Gabi.
"Was?"
"Du widerlegst dich selber."
"Das sehe ich nicht."
"Weil wir nicht hier sind, um Macht über eine Ökosphäre aus der Hand zu geben, sondern um sie zu gewinnen!"
"Du weißt ganz gut, wie skeptisch ich dem Unternehmen gegenüber stehe."
"Aber dann muß es dir doch recht sein, wenn das Unternehmen ein Mißerfolg wird?"
"Das ist mir nicht recht, weil ich dann auch nicht überlebe. Ich bin auch ein Egoist."
"Auf jeden Fall, wenn ich das Paßwort für mich behalte, bleibe ich eine Art Opposition. Sichere den Pluralismus an Bord. Gewaltenteilung!"
"Kaum. Selbst, wenn du recht hättest - du würdest den Rest der Reise in Fesseln verbringen und nie wieder eine Tastatur anfassen. Und am Projekt und dessen Durchführung kannst du nichts mehr ändern."
"Also doch wieder das Recht des Stärkeren. - Wie ich sagte: Ihr könnt machen, was ihr wollt."
"Das Recht des Stärkeren hast du dir ja schließlich auch genommen - Beschweren kannst du dich deshalb nicht."
Ich warte.
"Du mit deiner Bevölkrungsreduktion - das ist doch auch nur ein Machtanspruch. Eine Idee - wo ist das der Pluralismus? Mit dieser einen Idee willst du alle Probeme lösen! Nach deinen eigenen Worten reicht die Beschränktheit einer einzigen Idee doch nicht aus! Wo nimmst du dann das Recht her, mir die Verfügung über das Paßwort abzusprechen? Was würdest du, Herwig Homberg, denn tun, wenn dir heute jemand ein Paßwort gäbe, das anzuwenden die Menschheit sofort auf das zahlenmäßige Maß zurückstutzt, das du für richtig hälst? Würdest du es anwenden?"
"Das habe ich mir in dieser Form noch nicht überlegt." gebe ich zu.
"Dann tu das mal!"
"Ich glaube, du müßtest die Wirkung dieses Paßwortes - Zauberwort wäre ein besseres Wort - genauer spezifizieren. Wie soll es sein? Sollen von 10 Menschen 9 tot umfallen? Oder sollen sie zeugungs- und gebärunfähig werden? Soll das in jedem Volk gleichermaßen geschehen? Oder soll der Effekt in Weltgegenden mit hoher Bevölkerungsdichte stärker sein? Oder in Weltgegenden, wo Menschenrechte eher mit Füßen getreten werden? Der weitere Verlauf der Weltgeschichte wäre davon sehr stark abhängig, oder?"
"Siehst du! Du fängst schon mit Implementierungsdetails an. Du würdest es tun!"
"Ich tue es nicht, weil ich dieses Paßwort nicht habe. Vielleicht. Jeder, der eine solche Macht hätte, die Welt nach eigenen Wünschen zu formen, würde sie vernichten. Zuviel Macht ist nicht erträglich. Nicht in dieser Welt. Für niemanden. - Ja, du hast recht: Ich wäre wahrscheinlich korumpierbar. Genau wie jeder andere. Vielleicht ist diese Welt nur deshalb noch einigermaßen stabil, weil niemand eine solche Machtfülle hat. - Ja, ganz sicher ist es so. - Aber, Gabi, jetzt gibst du mir die Argumente in die Hand! Niemand soll eine solche Macht haben. Ich nicht, und du auch nicht. Verstehst du? Es ist deine eigene Meinung, diese Macht nicht haben zu dürfen! - Also sag uns das Paßwort."
Sie schweigt.
"Nebenbei - der Wunsch nach Bevölkerungsreduktion ist keine fixe Idee, die ich mir ausgedacht habe. Die Resultate unserer hohen Bevölkerungsdichte zeigen und werden zeigen, daß ich recht habe. Warum sollte ich von dieser Idee abrücken, bloß weil ich praktisch keinen Einfluß in dieser Richtung habe?"
Wie komme ich eigentlich dazu, mich selbst zu verteidigen? Gabi wird vor Gericht gestellt, und nicht ich. Ich fahre fort:
"Ich habe kein Paßwort, um die Welt zu vernichten. Und du sollst kein Paßwort haben, um dieses Boot zu vernichten. Das ist doch gerecht!"
"Ich will Garantien!"
"Bist du sicher, daß du deine Lage richtig einschätzen kannst? Forderungen wird das Gericht stellen, nicht du!"
"Noch habe ich das Paßwort!"
"Und noch jemand anderes hat es, wie du selbst erwähnt hast. Wir können diesen Tatbestand allgemein bekannt machen und auf diese Weise den anderen supersuperuser dazu bringen, es zu ändern - wenn dieser sich nicht zu erkennen gibt."
"Dann hat es keiner außer diesem anderen supersuperuser. Das wollt ihr ja auch nicht, oder?"
"Nein. Noch wissen wir aber gar nicht, welche Geschehnisse auf dich zurückzuführen sind, und welche auf den anderen supersuperuser. Vorhin hast du gesagt, der andere hat keine Ahnung vom System."
"Hat er auch nicht."
"Siehst du. Vielleicht können wir damit leben, daß der andere das Paßwort als einziger hat. Wenn er es aber schon bald ändert und dich so ausschließt, dann hast du nicht mehr Gelegenheit, deinen guten Willen zur Kooperation zu demonstrieren. Und denke dran: Der andere kann jede Sekunde von sich aus auf die Idee kommen, das Paßwort zu verändern. Dann ist deine Rehabilitationsmöglichkeit dahin!"
"'UNA EX HIS'. Alles großgeschrieben, immer ein Leerzeichen dazwischen." sagt Gabi.
"Was?"
"'UNA EX HIS'. Es ist lateinisch. Das ist das Paßwort."
"Keine Sonderzeichen?"
"Als supersuperuser kann man Bildungsbedingungen für Paßwörter festlegen."
"Das ist mir bekannt!"
"Es spricht doch nichts dagegen, für den normalen Anwender strenge Bildungsgesetze zu erzwingen und für den supersuperuser ein einfaches."
"'UNA EX HIS', sagst du."
"Ja. Großgeschrieben. Je ein Leerzeichen."
Ich gehe zur Tür und rufe nach Amerlingen. Eugen Serpinski ist auch sofort im Raum.
"Frau Gohlmann hat das Paßwort für den supersuperuser verraten." stelle ich fest.
"Na endlich." sagt Amerlingen. Er geht an eine der Konsolen, die es auch in der Krankenstation gibt, und meldet sich als 'ROOT' an. "Und wie heißt es?"
Er kann sich problemlos mit diesem Paßwort einloggen. Ich hole noch Fahlenbeek und Wellington, dann verlassen Gabi, Eugen und ich den Raum, damit ein neues Paßwort gewählt werden kann. In der Zentrale hält Gabi mir ihre gebundenen Hände hin:
"Muß das noch sein?"
"Wahrscheinlich nicht," sage ich, "aber das wird der Alte entscheiden."
Wellington ist auch gleich wieder da, aber nicht, um Gabi die Fesseln abnehmen zu lassen: "Homberg, kommen Sie mal mit!"
In der Krankenstation zeigt er auf den Bildschirm, und ich lese:
ROOT REQUESTED PASSWORD CHANGE REFUSED TAKING NEXT PASSWORD FROM PREDEFINED PASSWORD QUEUE LOGGING OUT
"Was heißt denn das?" frage ich.
"Mehr als das, was hier steht, wissen wir auch nicht!"
Ich probiere, mich unter 'ROOT' wieder am System anzumelden. Es geht nicht. 'UNA EX HIS' wird nicht mehr akzeptiert.
"Probieren Sie es mit '########0123456789ABCDEF########'" schlägt Amerlingen vor.
"So ein einfaches Bildungsgesetz?"
"Nun machen Sie schon! - Uns ist eben nichts Besseres eingefallen."
Als ich es probiere, fährt er fort: "Als mögliches Paßwort ist es akzeptiert worden. Aber dann hat er von sich aus ein anderes genommen! - Und es uns nicht verraten."
Natürlich gelingt es mir auch nicht mehr, mich unter 'ROOT' einzuloggen. "Das ist ein Mechanismus, den ich bei UNIX noch nie gesehen habe!" sage ich, "Das sieht ja so aus, als ob das System einen Vorrat von Paßwörtern hat. Bei dem Versuch, das Paßwort zu ändern, hat es dann das nächste aus dem Vorrat genommen - raffiniert. Eine Vorkehrung gegen das Verraten des Paßwortes!"
"Glauben Sie, daß die Gohlmann Sie angelogen hat?"
"Ich weiß es nicht. Sie weiß, daß das erste, was wir tun, sein wird, das Paßwort zu ändern, und daß wir dann diesen Mechanismus entdecken. Sie müßte also wissen, daß gleich Rückfragen kommen. - Aber wenn sie tatsächlich selbst das Paßwort so durch Zufall in Erfahrung gebracht hat, wie sie es behauptet, dann kennt sie diesen Mechanismus nicht, weil sie ihn noch nie selbst ausprobiert hat."
"Mmh. Und was machen wir jetzt?"
Amerlingen ist ratlos. Dafür zählt Wellington die Möglichkeiten auf: "Also entweder die Gohlmann und der andere supersuperuser kennen das neue Paßwort, oder nur einer von beiden, oder gar keiner mehr."
"Vielleicht sollten wir verschweigen, daß wir das Paßwort nicht mehr haben, um zu sehen, ob sie es weiß!" schlägt Amerlingen vor.
"Dazu bin ich eben zu plötzlich wieder hier hereingeholt worden." sage ich, "Wenn sie aufmerksam war, weiß sie, daß etwas Unerwartetes passiert ist. Und selbst, wenn wir so tun, als sei alles in Ordnung - ob sie den Mechanismus kennt oder nicht, daran ändert das nichts."
"Also, mir reicht es," entscheidet Wellington, "Wir ziehen die Verhandlung vor. Heute abend noch. Wir haben noch andere Dinge zu tun. In der Verhandlung reden wir über alles. 19:30, meine Herren. Sorgen Sie bitte dafür, daß bis dahin die Kantine frei ist, Herr Amerlingen! - Sind Sie mit Ihren Mandantengesprächen fertig. Herr Homberg?"
"Nein!" sage ich.
"Warum denn nicht?"
"Weil eben noch nicht alles abgehandelt worden ist!"
"Darauf können wir jetzt keine Rücksicht mehr nehmen. Um 19:30 fangen wir an."
Wenigstens bin ich nicht der einzige, der sich durch eine massive Unkenntnis der Strafprozeßordnung auszeichnet, denke ich.
Genauso, wie Wellington es angeordnet hat, geschieht es. Das Abendessen wird allgemein hastiger eingenommen, damit die Kantine rechtzeitig frei ist. Auch Gabi ißt mit - jetzt nicht mehr mit gebundenen Händen - und es ist interessant, zu verfolgen, wie die Besatzungsmitglieder sich ihr gegenüber verhalten. Das Spektrum reicht von Neugier über mitleidige Sympathie zu verdeckter Abneigung. Niemand spricht mit ihr, und sie redet mit niemandem. Ihre Anwesenheit wendet das Gesprächsthema von der bevorstehenden Verhandlung ab. Da das aber das ist, was jetzt alle am meisten interessiert, wird kaum gesprochen. Immer wieder entstehen peinliche Gesprächspausen. 'Das ist sie also, die uns fast alle umgebracht hätte!' sagen viele Blicke.
Da sich die Zugänge zur Kantine nicht abschließen lassen, kann man der Verhandlung von den Kabinengängen und vom vorderen Oberdeck ohne weiteres folgen. Die Öffentlichkeit ist also hergestellt, ohne daß dieses explizit so organisiert wurde. Es muß auch jeder im Schiff damit rechnen, jederzeit als Zeuge hinzugezogen werden zu können.
Den Vorsitz haben Wellington, Amerlingen und Fahlenbeek. Prozeßbeobachter sind Doktor Morton und Eugen Serpinski. Ich mache wie vorgesehen die Verteidigung. Einen Kläger oder einen Staatsanwalt gibt es nicht, das übernehmen die Vorsitzenden in Personalunion. Auch nicht ganz rechtsstaatlich, denke ich, aber wir improvisieren ja praktisch alles.
Ohne große Formalitäten läßt Wellington Gabi zunächst alles erzählen, was sie im Laufe des Projektes gemacht hat. Nachdem wir elendiglich lang darüber diskutiert haben, wie sie per Zufall das supersuperuser-Paßwort erfahren hat - aus den wenigen Fakten läßt sich eben nicht herausdestillieren, wer der andere supersuperuser ist, und wenn man noch so nachbohrt - sind wir beim ersten Fall, bei dem Gabi zugibt, die Hand im Spiel gehabt zu haben: Der shutdown des Bordrechners am zweiten Projekttag, dem 15. Januar. Weder mit dem Absturz von Irene's Duocopter will sie etwas zu tun gehabt haben, noch mit der Verlegung des Höhleneinganges durch ein seismisches Torpedo. Das waren ja auch Natalie und ich, denke ich - beides ist eigentlich glaubhaft. Aber den shutdown gibt sie unumwunden zu.
"Das war, als sich Herr Homberg und Frau Rau über Dativ und Genitiv bei 'wegen' gestritten haben, nicht?" erkundigt sich Gabi.
"Das weiß ich doch jetzt nicht mehr!" sage ich. Manche Leute haben wirklich ein besseres Gedächtnis als ich - aber ganz dumpf fällt es mir wieder ein.
Gabi erläutert, daß sie da das erste Mal etwas probiert hat, was systemweiten Schaden anrichten konnte. So richtig klar wurde ihr das aber erst, als sie unsere Reaktionen sah.
"Warum haben Sie es dann nicht selbst wieder rückgängig gemacht?" will Wellington wissen.
"Ich war in den Startlöchern. Ein Shell-Fenster unter 'ROOT' hatte ich so auf dem Bildschirm durch ein anderes Fenster verdeckt, daß niemand sehen konnte, daß ich schon ein 'kill'-Kommando eingetippt hatte. Ich brauchte es nur noch abzuschicken. Dann kam aber die Frau Yay mit ihrer Idee, den shutdown-Prozeß mit einem weiteren solchen abzuschießen, und ich brauchte nicht mehr einzugreifen."
Das wird Natalie nicht freuen, denke ich mir - bis jetzt konnte sie sich in dem Bewußtsein wiegen, damals das Schiff gerettet zu haben.
Der nächste Fall: Beendigung des SISC-Dämons am darauffolgenden Tag. "Ich wollte wissen, wie lange sowas unbemerkt bleibt!" erklärt Gabi dazu, "Ich stoppte den SISC-Dämon, und weil ich das von der 'ROOT'-Kennung aus tat, blieb dieses dem System-Audit verborgen. Danach konnte ich zusehen, wie sich meine Kollegen die Köpfe zerbrachen."
"Ein bißchen erfolgreich waren wir da doch!" sage ich, "Wir haben da nämlich zum ersten Male gemerkt, daß es einen supersuperuser gibt."
"Und ich hatte das erste Mal gemerkt, daß ihr das vorher gar nicht gewußt habt!" sagt Gabi mit einem gewissen Triumph in der Stimme.
"Was hätten Sie getan, um den Normal-Zustand wieder herzustellen, wenn Ihre Kollegen das nicht geschafft hätten?" fragt Fahlenbeek Gabi.
"Nichts. Dieses Experiment war ja völlig ungefährlich. Ich hätte sie ewig lang suchen lassen!"
"Woher wollen Sie wissen, daß das ungefährlich war? Woher wollen Sie wissen, daß der SISC-Dämon nicht noch andere, wichtige Aktionen zu erledigen hatte?"
"Ich vermutete, daß er sonst nichts Wichtiges zu tun hatte. - Ein Programm - ein Zweck. Das ist UNIX-Philosophie." sagt Gabi.
"Da hat sie recht." sage ich und ernte dafür von keiner Seite dankbare Blicke.
An dem Tieftemperaturtruhenvorfall will Gabi nicht beteiligt gewesen sein. Und bei der selbsttätigen Änderung der Position des Bootes am dritten und vierten Projekttag hatte sie auch nicht die Hand im Spiel. "Ich war schon dabei, die Sache mit den Device-Treibern für die Regelzellen vorzubereiten!" sagt sie.
"Was hatten Sie dabei vor? Was sollte daraus werden?"
"Jedenfalls nicht das, was dann daraus geworden ist. Ich wollte das Boot auf Grund legen, mehr nicht. Aber ich habe einen Programmierfehler gemacht."
"Was für Programmierfehler?"
"Ich wollte bloß erreichen, daß mehr Wasser in die Regelzellen fließt als von der Navigation vorgegeben. Sonst nichts. Daß die Füllung der Regelzellen dann nicht wieder aufhörte, war ein Fehler."
"Ein Programmierfehler?"
"Ja. Ich wollte es nicht."
"Warum haben Sie sich nicht gemeldet und zugegeben, was Sie angestellt hatten?"
"Ich hatte furchtbare Angst!"
"So?"
"Ja. Ich hatte gleichzeitig ausprobiert, wieviele rechenintensive Prozesse man starten kann, ohne daß die Gesamtleistung des Systems dadurch leidet. Herr Daum und Frau Rau fingen sofort an, sich intensiv damit zu beschäftigen. Ich habe dann diese rechenintensiven Prozesse wieder gestoppt und gleichzeitig meinen manipulierten Treiber für die Regelzellen im laufenden Betrieb eingelinkt. Das habe ich von meiner Kabine aus gemacht. Ich war ganz stolz, daß ich das geschafft hatte, und ich wollte gerade nach oben, um mitzuerleben, was die Kollegen sagen würden, wenn das Boot sich plötzlich auf den Grund legen würde. Dann hörte ich aber Frau Rau und Herrn Homberg über einen 'Treiber' reden. Ich dachte, sie wären mir schon auf der Spur. Und da kam ich in Panik."
"Wir haben über einen Treiber geredet?" frage ich, "Davon weiß ich auch nichts mehr!"
"Du hast gesagt, daß du hoffst, daß du dich irrst, daß da von dem Server für die Auftriebsregelung die Rede ist. Kurz vorher war nämlich eine Message-Box auf dem Bildschirmen erschienen, was ich auch nicht beabsichtigt hatte."
"Stimmt." sage ich, "Daran erinnere ich mich."
"Tja. Und weil ich wollte, daß das Schauspiel wirklich stattfand, hielt ich es für das beste, dich eine Weile abzulenken!"
"Wie haben Sie Herrn Homberg denn abgelenkt?" will Wellington wissen.
"Ist das jetzt wichtig?" frage ich, aber es hilft mir nichts. Gabi geht in die Einzelheiten:
"Ich habe ihn ausgiebig an mir rumfummeln lassen. In meiner Kabine. Bis der Wassereinbruch in die Regelzelle passierte!"
"Ach." sagt Wellington und sieht mich an.
"Ja. Er war ganz wild darauf, zu prüfen, wo überall Lippenstift hält und wo ... naja. Es hat wirklich Spaß gemacht, weil ich noch nicht wußte, wie schlimm es mit dem Wassereinbruch nachher werden würde. Ich dachte ja nur, es gibt ein bißchen Aufregung, weil sich das Boot nicht mehr richtig steuern läßt. Und dann war ich selbst in Panik, als es passierte."
Wellington geht näher auf die manipulierten Treiber ein: Gabi hätte ja, nachdem ihr klar geworden war, wie das, was passiert war, mit ihren Manipulationen zusammenhängt, ein Wort sagen können, um so die Bereinigung der Situation zu vereinfachen.
"Ich war zu lange in Panik," sagt sie dazu, "und als ich wieder klar denken konnte, da lag das Boot eingeklemmt am Boden dieser Höhle und war voll Wasser, aber die Situation wurde nicht mehr schlimmer. Im Gegenteil - es sah so aus, als ob man nach langem Pumpen das Wasser wieder aus dem Boot herausbekommen würde - das ist dann ja auch so geschehen. Und das Problem mit dem eingeklemmten Boot hatte sowieso nichts mit der manipulierten Software zu tun. Die Situation war stabil - da hielt ich eben lieber den Mund."
"Jedenfalls haben Sie sehr überlegt gehandelt, nachdem sich Ihre Panik gelegt hatte." stellt Wellington fest.
"Ja."
"Sie sind sich darüber klar, daß auch die Reaktorabschaltung nach der Havarie schon für sich alleine gefährlich genug war?"
"Ja."
"Und trotzdem haben Sie weitergemacht. Und zwar sehr schnell. Als das Boot noch gar nicht wieder flott war, stellten wir fest, daß die Datenbasis der Navigation gelöscht worden war."
"Tja." sagt Gabi kleinlaut.
"Waren Sie das auch?"
Gabi schweigt einen Moment.
"Es ist besser, wenn du sagtst, was du wann und wo gemacht hast, Gabi!" sage ich.
"Es war überhaupt keine böse Absicht. Ich habe rumgespielt, und dabei ist es passiert."
"Versehentlich gelöscht?" fragt Wellington verwundert.
"Ja."
"Aber alle Sicherungskopien waren doch auch gelöscht - das kann doch kein Versehen mehr gewesen sein!"
"Das war es dann auch nicht. Ich war unsicher. Wollte alle Spuren verwischen. Und weil in der Datenbasis für die Navigation auch festgehalten wird, wer das Navigationssystem wann aufruft, wußte ich nicht, was von meinen Aktionen wo gespeichert sein könnte. Und da habe ich eben reinen Tisch gemacht!"
"Großer Gott," sagt Wellington, "so ein Motiv habe ich noch nie gehört!"
Ich muß ihm recht geben. Wie ein Kind, das einen Apfel stiehlt und aus Angst vor Entdeckung die ganze Speisekammer anzündet. Haben wir es denn hier nicht mit einer erwachsenen Frau in mittleren Jahren zu tun?"
"Ich war immer unsicher. Das System ist so kompliziert. Immer dachte ich, daß man trotzdem noch etwas finden könnte. Man kann sich als supersuperuser alles ansehen, aber es ist so entsetzlich viel da, was man sich ansehen kann! Man ist nie sicher, ob es irgendwo nicht doch eine deutliche Spur gibt."
"Was passierte denn dann als nächstes?"
"Eine ganze Weile gar nichts mehr. Ich hatte Angst, etwas falsch zu machen."
"Da war der Vorfall mit der manipulierten Streßanalyse."
"Das war ich nicht!" sagt Gabi entschieden.
"Nein?"
"Nein. - Aber ich glaube, daß es der andere supersuperuser war. Aber ich kann nichts beweisen."
"Warum sollte der das gewesen sein?"
"Um uns in Sicherheit zu wiegen."
"In Sicherheit wiegen?" fragt Wellington erstaunt.
"Ja. Derjenige, der das gemacht hatte, muß wohl gedacht haben, daß die Streßanalyse schon bald beunruhigende Werte anzeigen würde, und daß wir dann umkehren würden. Daß das Boot mit dem Druck trotzdem so gut fertiggeworden ist, konnte derjenige zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen. Für uns war es ja auch eine Überraschung."
"Also meinen Sie, jemand wollte sicherstellen, daß wir weiterfahren?"
"Ja. - Jemandem an Bord ist das sehr wichtig. Glaube ich. Und ich glaube, daß es der andere supersuperuser ist. Ich habe aber keine Beweise."
"Sie könnte rechthaben," sage ich, "Denn es gibt noch einen ähnlichen Vorfall."
Wellington sieht mich erstaunt an. Und ich sehe Doktor Morton an, weil ich nicht sicher bin, ob ich sagen darf, was ich dazu sage könnte.
"Worauf Herr Homberg hinauswill ist, daß jemand aus genau dem gleichen Grund bei Herrn Elderman's Tod nachgeholfen haben könnte!"
"Wie das?"
"Einzelheiten sind jetzt wohl nicht wichtig. Aber ich darf Sie daran erinnern, daß wir Bedenken hatten, den Druck im Boot an den hiesigen Außendruck anzugleichen, solange Herr Elderman in seinem sehr ernsten Zustand war. Sowie er tot war, ist dieses Argument weggefallen."
"Haben Sie jemanden Bestimmten in Verdacht?"
"Nein. Jeder kann in der Krankenstation gewesen sein."
"Und wie ist er umgebracht worden?" will Wellington noch einmal wissen.
"Das werde ich Ihnen nicht sagen."
"Warum nicht? Sie stehen hier als Zeuge vor einem Gericht, Doktor Morton!"
"Außer mir weiß nur der Täter die Methode. Es gibt da noch eine Möglichkeit, ihn zu überführen."
Wellington sieht die Ärztin zweifelnd an. Aber die macht nicht den Eindruck, als ob sie ihre Haltung modifizieren würde, ganz gleich, mit welchem Nachdruck man sie dazu zu bewegen versuchte. - Warum argumentiert sie eigentlich nicht mit ihrer ärztlichen Schweigepflicht? Gilt die vor Gericht nicht? Noch ein Punkt, den ich nicht weiß. Oder, wer weiß, vielleicht ist die ärztliche Schweigepflicht EG-weit aufgeweicht worden, und ich weiß es nur nicht, weil niemand darum ein großes Aufheben gemacht hat.
Außerdem hat die Ärztin eine Art Autorität an sich, die schwer anzugreifen ist - auch für Wellington. Er geht deshalb der Sache nicht weiter nach - Allerdings bin ich sicher, daß er sie nicht vergißt.
"Gut." sagt er und wendet sich wieder an Gabi, "kommen wir zur Streßanalyse zurück. Über diesen anderen Gesichtspunkt reden wir später. Wir sammeln ja erst einmal Ihre Behauptungen auf, und in diesem Fall behaupten Sie, daß Sie es nicht waren. Alles andere ist aber auch nur Vermutung. Ist das so richtig?"
"Ja."
"Ist Ihnen selber die Manipulation der Streßanalyse aufgefallen, bevor sie jemandem anderen aufgefallen ist?"
"Nein."
Einer der nächsten, schwerwiegenden Vorfälle auf seiner Liste ist die 120 Minuten lange Blockierung der Schiffststeuerung in der Jungfrauen-Spalte.
"Ja." sagt Gabi nach einigem Überlegen, "Das war ich. Ich fand eine Möglichkeit, wie man das Schiff für einen vorherbestimmbaren Zeitraum von jeder Einflußnahme durch die Rudergänger trennen konnte. Es juckte mich in den Fingern, es auszuprobieren - es hatte ja auch eine ganze Menge Arbeit gekostet, und ich mußte einen großen Teil der Schiffssteuerung recompilieren und wiedereinbinden. - Ich wollte wissen, wozu ich in der Lage bin."
"Das hätte uns fast das Leben gekostet!" sagt Wellington, "denn genau da ..."
"Einspruch!" sage ich, "Dieser Aufenthaltsort war sowieso extrem gefährlich. Unsere Chance, daß wir das überstehen würden, war sehr klein und wurde durch das Blockieren der Steuerung nicht kleiner. Während dieser heftigen Strömungsvorgänge war das Schiff sowieso steuerlos. Das können wir ihr nicht in die Schuhe schieben!"
"Gut." nickt Wellington nach einer Weile, "Niemand wußte, daß es so kommen würde, und sie wollten das Schiff nur einfach für eine gewisse Zeit steuerlos machen, um uns zu beunruhigen, ja?"
Komische Verhandlungsführung, denke ich - er zerlegt ihr die Behauptungen mundgerecht und gar nicht einmal ungünstig für sie formuliert. Wahrscheinlich will er schnell durch die Verhandlung kommen, oder wenigstens schnell die Liste der Geständnisse hinter sich bringen. Naja, ist ja seine Sache. Besser, als wenn er hinter allem und jeden die schlimmstmögliche Absicht vermuten würde. Als Verteidiger kann man es wahrscheinlich mit unangenehmeren Richtern zu tun bekommen haben.
Aber wie soll man diese Motivation bewerten - wenn das wahr ist, was Gabi sagt? Rauskriegen, wozu man den Rechner bringen kann. Die eigene Intelligenz gegen alle Sicherheitsschranken des Betriebssystems zu testen. Motiv vieler Hacker - die Phase macht jeder einmal durch, wenn man in die Informatik und die praktische Arbeit mit Computersystemen einsteigt. Uns zu schaden hat sie nicht beabsichtigt, wohl aber in Kauf genommen. 'Billigend in Kauf genommen', wie die Juristen sagen. Das wird noch kommentiert werden, denke ich.
"Und warum haben Sie sich nach diesem Vorfall nicht zu erkennen gegeben? Nachdem das Boot in die Welthöhle transportiert worden war?"
"Warum sollte ich? Ich habe überhaupt nicht mehr daran gedacht! Der Übertritt in die Welthöhle war doch aufregend genug!"
"Das Boot lag auf dem Kopf, wenn ich mich recht erinnere. Wir hätten es vielleicht früher wenden können."
"Als ich daran dachte, die Blockierung aufzuheben, waren sowieso nur noch ein paar Minuten übrig."
"Mmh."
Wellington blättert durch die Notizen, die er sich gemacht hat. "Wissen Sie eigentlich etwas von den Bomben?" fragt er, "Von den nuklearen Torpedos, die wir an Bord haben?"
"Ich weiß seit kurzem, daß wir sowas an Bord haben. So, wie alle anderen auch."
"Könnten Sie sich vorstellen, warum wir sowas an Bord haben?"
"Warum sollte gerade ich mir das vorstellen können?"
"Ich möchte es gerne hören!" Wellington läßt nicht locker.
"Übriggeblieben von der Umrüstung des Schiffes auf zivile Zwecke. Versehentlich. - Das ist aber nicht meine Idee."
"Mmh." sagt Wellington und sieht sie scharf an. Ich denke, der Zweck dieser Frage ist einfach der, sie zu einem Punkt zu befragen, von dem er aus irgendeinem Grunde überzeugt ist, daß sie damit ganz gewiß nichts zu tun hat. Dann weiß er, wie sie bei solchen Fragen reagiert. Für Vergleiche bei anderen Themen. - So stelle ich mir das jedenfalls vor. Wellington weiß, daß Gabi mit uns zusammen in München für das Projekt ausgebildet wurde. Sie kann gar keinen Einfluß auf den Prozeß der Bootsumrüstung gehabt haben.
"Der nächste Vorfall, bei dem Sie die Hände im Spiel hatten, war am 14. Februar. Der Vorfall, bei dem Frau Rau umgekommen ist. Würden Sie uns die Reihenfolge schildern?"
"Tja." sagt Gabi zögernd.
"Oder wollen Sie behaupten, daß Sie damit nichts zu tun haben? - Es erschien dieselbe Messagebox auf allen Bildschirmen wie bei dem Vorfall in der Jungfrauen-Spalte. Warum haben Sie es noch einmal getan?"
"Schwer zu erklären." sagt Gabi.
"Probieren Sie's! Wir werden uns alle Mühe geben, es zu verstehen."
"Ich wollte, daß niemand zu Schaden kommt - deshalb habe ich es noch einmal gemacht."
"Was?"
"Ja, ich meine das so: Das Blokadeprogramm hatte ich ja. Aber ich war nicht sicher, ob es unter allen Umständen funktioniert. - Ich wollte es als Mittel behalten, um die Besatzungsmitglieder eventuell mal wieder zu - erschrecken. Aber ich wollte auch, daß dabei nichts wesentliches kaputtgeht. Und deshalb schrieb ich eine Erweiterung. Diese sollte das Boot in einen Nullzustand versetzen. Vortrieb aus, Regelzellenfüllung neutral und so weiter. Also nicht einfaches Beibehalten der bisherigen Maschineneinstellungen, sondern aktives Erreichen eines Zustandes des Bootes, der beliebig lange und ohne Gefahr beibehalten werden kann."
"Aha."
"Ja, und ein neutraler Bootszustand kann eigentlich nur im getauchten Zustand definiert werden. Wenn das Boot an der Oberfläche ist, dann wird der Aufruf des Blokadeprogrammes den Tauchvorgang einleiten. Luken schließen und äußere Tauchzellen entlüften, danach auspendeln und ausregeln. So habe ich es gemacht."
"Ist das der Grund, daß die Messagebox gleichzeitig mit dem Entlüften der äußeren Tauchzellen auf allen Bildschirmen auftauchte?"
"Ja."
"Wollen Sie vielleicht sagen, daß sie Ihr modifiziertes Programm zu diesem Zeitpunkt getestet haben?"
"Ja. Irgendwann mußte ich es testen. Ich wollte ja wissen ..."
"Wußten Sie, daß Rau und Homberg draußen waren?"
Gabi sagt nichts. Dafür sagt Serpinski etwas: "Ich glaube, das wußte jeder an Bord!"
Natürlich wußte es jeder an Bord, einschließlich Wellington, Amerlingen und Fahlenbeek. Nach dem, was mir brühwarm erzählt wurde, nachdem es mir gelungen war, mich selbst ins Schiff zu retten, hatten Carola und ich ja viel Publikum.
"Ich möchte es von Frau Gohlmann wissen!" sagt Wellington, "Wußten Sie es?"
"Ja."
"Und wie lange wußten Sie es?"
"Eine ganze Weile."
"Was ist 'eine ganze Weile?'"
"Ich glaube, es war über eine Stunde."
"Und Sie wußten es die ganze Zeit?"
"Ja."
"Und dann kamen Sie plötzlich auf die Idee, Ihr Blokadeprogramm noch einmal auszuprobieren?"
Gabi antwortet nicht.
"Ich möchte, daß Sie mir genau erzählen, was in dieser Stunde passiert ist, und was sie gesehen haben! Mit Ihren eigenen Worten."
"Ich möchte nicht. Ich habe das Programm noch einmal gestartet. Mit der Modifikation. Das muß doch genügen."
"Dann müssen wir annehmen, daß sie Frau Rau und Herrn Homberg vorsätzlich umbringen wollten! Und im Falle von Frau Rau ist Ihnen das ja auch gelungen."
"Nein, so war es nicht!" Gabi ist einen Moment heftig, fängt sich aber gleich wieder.
"Wie war es denn?"
"Wir haben gesehen, daß sie nicht weit rausgeschwommen sind. War Ihnen wohl zu heiß, das Wasser. Sie haben sich dann vorne steuerbord an die Kollisionsschienen gehängt und nur noch Wasser getreten. Wahrscheinlich haben Sie sich zuerst nur unterhalten."
"Woher konnten Sie das wissen?"
"Sie haben sich genau vor einer der Außenkameras aufgehalten."
"Weiter."
"Dann bin ich erst aufmerksam geworden, weil Herr Cohausz laut etwas dazu gesagt hat."
"Was hat er gesagt?"
"Daß der Homberg sich dauernd an den Eiern kratzt!"
Aus der Richtung des vorderen Oberdecks kommt ein lautes Lachen.
"Was soll ich getan haben?" frage ich.
"Herr Homberg, nicht jetzt! Wir befragen Frau Gohlmann."
Da sieht man mal wieder, was man so tut, wenn man nicht drauf achtet und überzeugt ist, daß es auch sonst niemanden interessiert.
"Ja, er hat gesagt, er hat sich in zehn Minuten schon 80 mal an die Eier gefaßt."
"Und das war so interessant, daß da alle zugesehen haben?" Wellington läßt sich nichts anmerken.
"Herr Cohausz fing irgendwann an, laut mitzuzählen. Die meisten fanden das lustig. Und dann fing Herr Homberg an, an Frau Rau rumzufummeln."
"Das stimmt nicht!" werfe ich ein.
"Naja, es hat eine Weile gedauert, aber dann fing er damit an!" Gabi läßt sich nicht beirren, "Da kam ich auf die Idee, daß es die beiden vielleicht ordentlich erschrecken würde, wenn das Boot tauchen würde."
"Und das haben Sie dann getan?"
"Nein. Nicht gleich. Erst, als sie sich, - äh - irgendwie umklammert ..."
"Und deshalb wollten Sie sie erschrecken?"
"In dem Moment fiel mir ein, daß mein verändertes Blokadeprogramm inzwischen genau das leisten würde - nämlich, das Boot tauchen zu lassen. - Und da tat ich's. - Es war ganz spontan. Ein ganz spontaner Entschluß."
"Hatten Sie vor Ihrer Einstellung in dieses Projekt einen psychologischen Test?"
"Nein. Warum?" fragt Gabi.
Wellington macht wieder Notizen. "Bleiben wir dabei, daß wir fragen und Sie antworten, ja? - Was geschah dann?"
"Erst genau das, was ich beabsichtigt hatte. Tauchalarm. Die beiden lösten sich wieder voneinander, aber ich habe dann nicht mehr hingesehen. Und die anderen auch nicht. - Später erfuhr ich dann, daß Homberg es noch ins Schiff geschafft hatte."
"Weiter."
"Dann ging etwas schief mit meinem Programm. Es hätte das Boot zum Stillstand bringen sollen, und dieses hätte sich dann unbeweglich 120 Minuten lang an derselben Stelle aufgehalten."
"Zweifellos zu lange für die Frau Rau!"
"Ich hatte ja die Absicht, das Programm vorzeitig zu unterbrechen. - Das müssen Sie mir glauben! - Aber es ging nicht mehr. Irgend etwas im Betriebssystem wurde überschrieben. Dann haben Herr Daum und Herr Homberg versucht, das wieder hinzukriegen. Dabei sank das Boot immer weiter, und die Außenortung stürzte auch noch ab."
"Warum haben Sie spätestens da kein Wort gesagt?"
"Ich glaube, es hätte nichts mehr genützt. Es war zu spät. - Ich hoffte die ganze Zeit, daß wenigstens das Blokadeprogramm sich wie vorgesehen selbst beenden würde. Ich war nicht sicher. Es war die Hölle, die ganze Zeit!"
"Für die Frau Rau war es die Hölle." stellt Wellington fest.
"Ja."
"Was mich interessiert - wieso sind sie auf die Idee mit dem Tauchen genau dann gekommen, als Homberg und Rau anfingen, vor der Außenkamera zu coitieren?"
Ich zucke zusammen, wie er es so klar ausspricht. Aber dieses ist eine Untersuchung, und es wird ein Mord untersucht. Da müssen die Dinge beim Namen genannt werden.
"Ich wollte den beiden eins auswischen!"
"Waren Sie eifersüchtig?"
"Nein!" sagt Gabi mit etwas zuviel Nachdruck.
"Wollten Sie sie umbringen?"
"Natürlich nicht."
"Dafür haben Sie ziemlich entschlossen gehandelt!"
"Ich habe es nicht gewollt!" sagt Gabi. Ich habe gewußt, daß ich diese Ausrede noch mal zu hören bekomme. Wellington kommentiert das gar nicht.
"Es war ein Streich!" fügt Gabi hinzu, "Nichts weiter."
"Ein Streich also. - Dieses Blokadeprogramm - Sie geben ja zu, daß nicht alles so funktioniert hat, wie Sie es beabsichtigt haben?"
"Ja."
"Haben Sie besondere Vorkehrungen getroffen, daß die 'Nullstellung des Schiffes', wie Sie es nennen, nicht wesentliche Beeinträchtigungen anderer Vorgänge an Bord bedeutet?"
"Nein - eigentlich nicht. Da waren ja keine weiteren Beeinträchtigungen zu erwarten."
"So? Wieso sind Sie so sicher, daß ein Eingriff in die Steuerung des Schiffes, der ja einem Eingriff in den Energieverbrauch des Schiffes gleichkommt, nicht irgendwelche Rückwirkungen auf zum Beispiel den Reaktor hat?"
"Ich denke es!"
"Warum denken Sie es?"
"Der Reaktor muß doch seine Energieproduktion irgendwie an der Energienachfrage ausrichten! - Ist das nicht plausibel?"
"Haben Sie sich genau diese Gedanken gemacht, als Sie ihr Blokadeprogramm schrieben und modifizierten?"
"Ja - so ungefähr."
"Nicht genau?"
"Ich weiß nicht mehr."
"Sie wußten nicht mit letzter Sicherheit, welche Rückwirkungen das Programm auf den Reaktor hat, nicht wahr?"
"Mit letzter Sicherheit weiß man bei diesem Rechnersystem ja überhaupt nichts!"
"Ach! Dessen waren Sie sich bewußt! Und trotzdem haben Sie in Kauf genommen, daß Ihr Programm unerwartete Ergebnisse produzieren könnte!" Wellingten scheint leicht aufgebracht.
"Das ist doch bei jeder Handlung im Leben so!"
"Sind wir jetzt unter die Philosophen gegangen?"
Gabi weiß nicht genau, was sie darauf antworten soll. Ich halte das für eine überflüssige Polemik, die Wellington da mit unbewegtem Gesicht geäußert hat, aber vielleicht ist das seine Art, sich Luft zu machen. Er fährt fort:
"'Nullstellung des Schiffes' - was bedeutet das bei der Trimmung? Einfrieren der momentanen Trimmungsparameter oder neutrale Trimmsollstellung?"
"Ich habe mich nicht um die Trimmung gekümmert."
"Sie haben sich nicht um die Trimmung gekümmert? - Wer bei einem U-Boot in die Steuerung eingreift, wie auch immer, kümmert sich um alles! Wie kann man ein U-Boot unter Wasser steuern, ohne sich um die Trimmung zu kümmern? - Wissen Sie, daß wir es dann wohl nur einem Zufall zu verdanken haben, daß das Boot auf ebenem Kiel geblieben ist?"
Ganz so ist es nicht, wie ich weiß: all diese Regelvorgänge werden unter PRO-UNIX durch parallele Prozesse verwaltet. Wenn man davon einen manipuliert, ist die Chance, daß die anderen ihre Arbeit weitermachen, immer noch recht gut. Aber ich sage dazu nichts, um nicht Wellingtons's Unwillen auf mich zu ziehen.
"Sie haben also leichtfertig das Leben aller an Bord aufs Spiel gesetzt. Zum wiederholten Male."
Gabi macht eine Kopfbewegung, die man als Nicken, als auch als Kopfschütteln auffassen könnte, aber sie sagt nichts.
"Kommen wir zu dem Vorfall heute Mittag." setzt Wellington die Verhandlung fort. Zunächst erfragt er die Umstände, die Gabi dazu gebracht haben, mich mit einem Revolver zu bedrohen. Es ist so, wie ich gedacht habe: Sie hatte sich entdeckt gefühlt und ist in Panik geraten. Und dann war sie es ja auch.
"Gut." sagt Wellington, "Sie hätten den Revolver hinlegen und alles als ein Mißverständnis erklären können. Warum haben Sie das nicht getan?"
"Inzwischen war ich mir klar darüber, daß ich wegen Frau Rau unter Mordverdacht stehen würde. - Es war schon alles so verfahren!"
"Und dann haben Sie alles noch schlimmer gemacht. Geiselnahme, Piraterie ..."
"Piraterie?"
"So heißt das, wenn man ein Schiff widerrechtlich in seine Gewalt bringt."
"Sie war verwirrt und wußte nicht, was sie tat!" werfe ich ein.
"Wir werden der Verteidigung noch Gelegenheit geben, sich zu äußern!" ranzt Wellington mich an. Ungerecht: Einerseits halten wir uns nicht so richtig an die Strafprozeßordnung, andererseits werde ich gerügt, wenn ich die Reihenfolge auch nicht einhalte.
"Was haben Sie sich bei der 'Kommandoübernahme' gedacht?"
"Nichts. - Ich weiß nicht mehr."
"Nichts." Wellington stützt seinen Kopf auf: "Nichts haben Sie sich gedacht. - Was sollen wir bloß mit Ihnen machen?"
So eine Frage wird einem Angeklagten vor Gericht eigentlich nicht gestellt.
"Sie können doch sowieso mit mir machen, was Sie wollen!" sagt Gabi trotzig. Das habe ich von ihr schon gehört.
"Das würden wir, wenn wir Sie wären."
Gegen so eine rudimentär beleidigende Bemerkung müßte ich eigentlich Protest einlegen - aber ich halte schon wieder den Mund.
Wellington wendet sich an Amerlingen: "Sollten wir eigentlich die Unprofessionalität dieses Blokadeprogrammes weiter verfolgen? Man müßte es untersuchen, und das könnte langwierig werden!"
Amerlingen zuckt die Schulter: "Ich glaube, man kann sich auf die Hauptstraftatbestände beschränken und die anderen nur soweit berücksichtigen, wie das zur Beweisaufnahme erforderlich ist. - Außerdem wäre zur Analyse des Blokadeprogrammes Frau Rau am befähigsten gewesen ..."
"Der Herr Daum ist auch Informatiker!" werfe ich ein. Daß ich das auch kann, erwähne ich nicht, weil ich absolut keine Lust habe, die Programme von anderen Leuten zu lesen, wenn ich es nicht muß.
"Was haben wir den jetzt?" Wellington geht seine Aufzeichnungen durch: "Sabotage, fahrlässige Tötung bis Mord - ist meiner Meinung nach noch unklar, Störung des Betriebes einer kerntechnischen Anlage - nach welchem Recht müssen wir das eigentlich behandeln?"
Interessante Frage. Sollte man sich das nicht vorher überlegen?
"Nach deutschem Recht - sie ist Deutsche. Außer in den Dingen, wo europäisches Recht deutsches Recht bricht." überlegt Amerlingen laut.
"Ach ja. - Und welche Fälle sind das?"
"Äh - ich weiß nicht."
"Und welches Gericht überprüft das, was wir hier machen? - Ein deutsches?"
"Steht sicher in den Dienstvorschriften drin."
"Dieses Schiff läuft aber unter britischer Flagge!" stellt Wellington fest.
"Das weiß ich! - Das ist aber auch das Einzige, was ich sicher weiß." gibt Amerlingen zu.
Ohne Zeugen würde ich mir an den Kopf schlagen. Gabi's Hack- und Sabotageversuche, ihre 'Streiche' waren dilettantisch. Aber diese Verhandlung und ihre Vorbereitung auch. Nicht nur, daß keiner die Strafprozeßordnung kennt - wir wissen auch nicht, welche Strafprozeßordnung es nun ist, die wir eigentlich kennen müßten! - Wie weit ist es von da noch bis zum Rechtssystem der Granitbeißerinnen? Die Kommandantin eines Saurierfängers hat immer recht, und die ausführende Gewalt ist ihr Schwert. So war es doch, oder? Wäre jetzt auch viel einfacher. Gabi wäre dann allerdings schon längst tot. Und in der Speisekammer, wie bei den Granitbeißerinnen üblich. Ich hoffe, sie weiß das zu würdigen.
"Also, ich sehe das so," sagt Fahlenbeek, "daß wir sowieso nur provisorische Maßnahmen treffen können. Beweissicherung, Zeugenaussagen, Geständnisse aufzeichnen, und dann Maßnahmen zur Sicherung des weiteren Projektverlaufes. Wir brauchen uns keine Gedanken darüber zu machen, nach welchem Recht wir hier entscheiden!"
"Ich fürchte, in diesem Punkte sind Sie im Irrtum!" widerspricht Wellington, "Vielleicht ist es so, daß wir uns nicht auf ein bestimmtes Rechtssystem berufen müssen, um zu entscheiden. Aber entscheiden müssen wir, und solange wir unterwegs sind, ist die Entscheidung eines Bordgerichtes bindendes Recht - auch wenn sie falsch war, sei es nun grundsätzlich oder bezüglich einer bestimmten Rechtsanwendung."
"Ja, dann entscheiden wir halt!"
"Diese Entscheidung, so grundsätzlich sie für den Rest der Dauer des Unternehmens ist, wird nichtsdestoweniger nach unserer Rückkehr überprüft! - Wir müssen für unsere Entscheidungen juristisch geradestehen, in vollem Umfange!"
"Wir haben doch auch nicht die Absicht, Unrechtsentscheidungen zu treffen." wendet Amerlingen ein.
"Natürlich nicht. Aber Maßnahmen, die aufgrund eines strafrechtlichen Prozesses an Bord eingeleitet werden, bedeuten für einen Angeklagten unter Umständen eine einschneidende Beschneidung seiner persönlichen Rechte und seiner Bewegungsfreiheit. Und wessen Rechte und Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind, der lebt gefährlicher als andere, sowohl an Bord eines U-Bootes als auch in der Welthöhle, wie wir aus Homberg's Beschreibungen wissen. Wir gefährden also das Leben des Angeklagten. Und dafür müssen wir gute Gründe haben!"
"Gut, aber müssen wir denn unter den gegenwärtigen Umständen so schwerwiegende Maßnahmen treffen?"
"Die Umstände, über deren Beurteilung wir befinden müssen, sind doch klar! Ich habe sie schon aufgezählt: Sabotage und Tötungsdelikt, im wesentlichen. Wiederholung nicht restlos ausgeschlossen - auch wenn die Angeklagte sich noch dazu durchringen sollte, einen hinreichend zerknirschten Eindruck zu machen - was sie nicht tut! Die Faktenlage schließt Wiederholungen nicht aus. Oder sind Sie anderer Meinung?"
"Auf welche Entscheidung wollen Sie denn hinaus?"
"Auf die, die für die Gesamtheit der an Bord Lebenden und den Projektfortschritt am günstigsten ist. - Wir sollten das jetzt unter sechs Augen besprechen. Am besten wir ziehen uns in die Zentrale zurück."
"Moment," sage ich, "soll die Verteidigung denn gar nicht gehört werden?"
"Wieso? Haben Sie denn noch etwas zu sagen?" fragt Wellington.
"Selbst, wenn ich nichts zu sagen hätte, wäre es meine Pflicht, etwas zu sagen! Ich bin zum Verteidiger berufen worden! Da darf man sich nicht einfach ausruhen - wir sind doch hier nicht vor dem Volkgerichtshof!"
"Da hat er recht!" sagt Amerlingen.
"Gut, Herr Homberg. Bitte. Ihr Plädoyer!"
Mit dieser Aufforderung nimmt er mir wieder den Wind aus den Segeln. Ich muß ein paar Sekunden auf und abgehen, bis ich meine ersten Sätze formuliert habe.
"Ein paar Dinge, über die ich mit meiner Mandantin gesprochen habe, sind jetzt nicht gefragt worden. Da diese Verhandlung bis jetzt nicht den genauen Spielregeln eines Strafprozesses folgt, wie Sie selbst zugegeben haben, werden Sie mir gestatten, daß ich im Rahmen des Plädoyers auch noch einige Fragen an Anwesende richte!"
Die Redeweise 'meine Mandantin' kommt mir geschraubt vor. Aber offenbar ist die Eröffnung gar nicht so schlecht angekommen - Doktor Morton lächelt mir ermutigend zu, Eugen grinst und sogar Gabi zeigt Interesse.
Zuerst gehe ich darauf ein, daß Gabi dieses supersuperuser-Paßwort durch Zufall erfuhr, und daß sie ohne das wahrscheinlich gar nicht auf die Idee gekommen wäre, diese wenn auch gefährlichen Streiche zu machen. Das scheint Wellington aber nicht zu beeindrucken, soweit ich es beurteilen kann. Also probiere ich etwas anderes:
"Gabi, du hast in letzter Zeit mehrfach den Ausdruck 'Scheißmänner' gebraucht. Würdest du uns erläutern, warum?"
"Ich habe das nur einmal von ihr gehört." sagt Wellington.
"Ich glaube, ich habe die Frage an meine Mandantin gerichtet!" sage ich.
Gabi druckst rum.
"Du hast es in einem Tonfall gesagt, als ob du wirklich meintest, was du sagtest!" ermuntere ich sie.
"Ich habe daran gedacht, wie anders dieser Vorfall beurteilt worden wäre, wenn es ein Mann gewesen wäre - ich meine, diese Vorfälle, aber ohne die gefährlichen Auswirkungen."
"Du meinst, wenn jemand erfolgreich Teile am Betriebssystem manipuliert, dadurch aber niemand zu Schaden kommt und die Sache dann entdeckt wird?"
"Ja. So ungefähr. Derjenige würde mit seiner Gerissenheit und seiner Kenntnis des Betriebssystems ganz schön protzen können!"
"Mag sein," sagt Wellington, "Aber wenn Sie keinerlei Schaden angerichtet hätten, dann würden wir das doch auch ganz anders beurteilen! - Wahrscheinlich würden wir uns nicht die Mühe machen, diese Verhandlung durchzuziehen!"
"Sie würden es anders beurteilen, in Abhängigkeit davon, wer es gemacht hat. Ja. vielleicht würden Sie sogar genau denselben Tatbestand bei einem Mann anders beurteilen."
"Wie kommst du darauf, daß es so sein könnte?" frage ich.
"Es war immer so!"
"Wann war es immer so?"
"Bisher - in meinem bisherigen Beruf."
"Du meinst, du bist in deinem bisherigen Beruf benachteiligt worden, weil du eine Frau bist?" frage ich.
"Ja."
"Sind Sie hier an Bord benachteiligt worden, weil Sie eine Frau sind?" fragt Wellington.
"Nein."
"Sonst irgendwann, im Verlaufe des Projektes? In der Vorbereitungsphase vielleicht?"
"Nein. Nicht."
"Dann werden Sie uns doch sicher von der Verantwortung für Ihre früheren diesbezüglichen Erfahrungen freisprechen?"
"Mmh. - Ja."
"Ich glaube, man muß das jetzt anders sehen," sage ich, "Wegen dieser früheren Erfahrungen befindet Sie sich in einer permanenten Verteidigungsstellung, auch wenn dieses im Projekt nicht notwendig und nicht gerechtfertigt war. Die erfolgreichen Manipulationen an der Bordsoftware waren dafür eine gewisse Kompensation. Deshalb ..."
"Spielen Sie jetzt den Amateurpsychologen, Herr Homberg?" fragt Wellington bissig.
"Nein, ich möchte nur die Beweggründe ..."
"Die möchten wir von Frau Gohlmann hören."
Was für eine weise Entscheidung, denke ich, daß ich nicht Jura studiert habe und Anwalt geworden bin. Dann müßte man sich wohl dauernd von Staatsanwälten und Richtern so zusammenstauchen lassen.
"Ab und zu will ich wissen, was ich kann, und ich will es mir beweisen!" sagt Gabi. Das ist eigentlich genau das, was ich andeuten wollte.
"Das brauchst du hier an Bord nicht! - Schon die bloße Tatsache, daß du hier an Bord bist, zeigt, daß man deine Qualifikationen so hoch einschätzt, daß du dir eigentlich nichts beweisen mußt! Alle hier an Bord sind überdurchschnittlich qualifiziert, auch du!"
"Herr Homberg!" wird Wellington laut.
"Ja?"
"Was glauben Sie eigentlich, was ein Verteidigungsplädoyer sein soll?"
"Ich weiß nicht. Ich lerne es gerade."
"Sind Sie jetzt fertig?"
"Nur noch eine Frage hätte ich!"
"Und?"
An Gabi gewendet frage ich: "Was würdest du tun, wenn du dich weiter frei an Bord bewegen dürftest? Würdest du es noch einmal ausprobieren, wenn du könntest?"
Vielleicht kann sie ja, denke ich, denn wir wissen immer noch nicht, wie es sich mit dem neuen supersuperuser-Paßwort verhält.
"Ich würde nichts mehr tun." sagt sie. Wenigstens versucht sie keinen Augenaufschlag.
Ertapptes Schulmädchen verspricht Besserung, denke ich.
"Versprochen?"
"Versprochen."
"Okay. Ich glaube dir. Ob diese Herren dir glauben, darauf habe ich keinen Einfluß." Und zu den drei Schiffsoffizieren gewandt sage ich: "Ich beantrage Aussetzung jeder Maßnahme zur Bewährung. Plädoyer Ende."
Wellington steht auf, und die anderen beiden folgen ihm in Richtung Zentrale. Gabi sieht mich an:
"Und? Was meinst du, was wird?"
"Ich würde dich am liebsten übers Knie legen." sage ich ganz undiplomatisch.
Das darf ein Anwalt laut Strafprozeßordnung natürlich nicht.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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