Voriges Kapitel
Inhaltsverzeichnis
Nächstes Kapitel
******** ********
74. High Noon
34. Projekttag, Dienstag, der 16. Februar 1999. Endlich geht es an die eigentliche Arbeit. Deshalb sind wir doch hergekommen. Es erinnert mich ein bißchen an den Anfang meines Studiums, jene Mondnacht im Oktober 1970, in der ich eine kleine Wanderung unternahm und mir bewußt war, daß von nun an eine sonnige Zeit beginnen würde: Nur noch Physik und Mathematik, und nicht mehr die vielen anderen Fächer, die, mich jedenfalls, auf der Schule so sehr gestört haben. So soll es jetzt sein: Nur noch Forschung in und an der Welthöhle, und kein Kampf ums Überleben mehr. - Keiner von uns ist wohl so naiv, anzunehmen, daß es die ganze Zeit so sein wird, aber dieses Gefühl ist jedenfalls da.
Es ist eine Landung auf der Carola-Rau-Insel beabsichtigt. Schon während des allgemeinen Frühstückens nimmt die CHARMION Kurs auf die Insel. Wir wissen ja schon von der ersten Umschiffung der Carola-Rau-Insel, daß es dort nicht soviele Möglichkeiten zum Landen gibt. Jetzt, wo wir die Insel gezielt unter diesem Gesichtspunkt begutachten, stellen wir rasch fest: es gibt noch viel weniger als kaum welche. Entweder steile Felsufer, oder undurchdringlicher Dschungel bis zum Wasser.
Das Boot wird direkt unter den mächtigen Felsen, der im Süden der Insel aufragt, gesteuert. Bei dem geringen Wellengang und der Abwesenheit von Strömungen ist das völlig gefahrlos, aber die Flugsaurier, die unablässig um diesen Felsen kreisen, könnten eine Bedrohung für jeden außerbord sein. Gerald will Gesteinsproben aus dem Felsen nehmen, und Doktor Reinhardt will endlich ein bißchen das tun, wozu er mit auf diese Reise gekommen ist: Die Lebensformen begutachten, von denen er noch vor etwas mehr als einem Monat behauptet hat, daß es sie gar nicht geben kann.
Die Pteranodone halten sich fern von uns - sie bemerken uns also, denn sonst würden sie ja überhaupt nicht reagieren. Reinhardt hätte es wohl lieber, wenn sie neugieriger oder aggressiver wären, aber sie sind es eben nicht. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als sie mit der äußersten Tele-Einstellung seines VICOMP heranzuholen.
Wir manöverieren so nahe an die Felswand heran, wie es eben möglich ist. Wieder springt das Mißverhältnis ins Auge: Dieses große, moderne, teure U-Boot mit all seinen genialen, technischen Einrichtungen und der primitiven Methode, die notwendig ist, um von dieser Felswand ein bißchen Material in das Boot zu bringen. Es wird notwendig sein, daß Gerald Amurdarjew mit einem Kleinbohrer und anderen Werkzeugen bewaffnet das Boot verläßt und in die Felswand einsteigt.
Das wäre schon schwierig genug, wenn man nicht gezwungen wäre, die übliche geologische Feldausrüstung zu transportieren. So aber scheint es nahezu unmöglich zu sein, einen Einstieg zu finden. Hier, auf dem Bootsdeck, sind wir gute fünf Meter von der Felswand entfernt und würden gute Griffe und Tritte sehen können. Das heißt, wenn welche da wären. Aber das Boot schleicht sich Meter für Meter weiter, ohne daß Gerald zufrieden ist.
"Ich glaube, man muß sich hineinklempnern!" sagt er mit wenig Begeisterung. Von technischem Alpinismus hat er kaum mehr Ahnung als das, was man eben aus einem Buch lernen kann. Wie wir anderen auch.
"Ich habe ja gesagt: Wenn wir erst in der Welthöhle sind, wird geklettert und geklettert und geklettert!" sage ich.
"Herwig, statt blöde Bemerkungen zu machen könntest du mir mal ein Vergrößerungsglas aus dem Labor holen!" sagt er, "Das habe ich nämlich vergessen."
"Hast du denn noch nicht genug zu schleppen?" frage ich.
"Ist alles halb so schlimm. Und ich muß ja nicht hoch hinein. Ist also nicht einmal gefährlich."
"Und wenn du dich auf die äußeren Tauchtanks stellst?"
"Würde ich abrutschen. - Lieber nicht."
"Ich hol dir dein Glas. Wo liegen die Dinger denn?"
"Frag Gabi. Die ist gerade im hinteren Labor beschäftigt. Die weiß es. Die weiß alles, weil sie dort mal aufgeräumt hat."
Als ich in die Luke einsteige, bedauere ich es, daß ich nicht zu sehen bekomme, wie Gerald es fertigbringt, in die Felswand einzusteigen. Vielleicht rutscht er ab und fällt ins Wasser, und bei sowas möchte man doch dabeigewesen sein!
Im hinteren Labor hockt Gabi Gohlmann vor einem der Bildschirme. Sonst ist niemand da.
"Du weißt alles, gib es zu!" sage ich mit beschwingtem Tonfall, "Gerald sagt du weißt, wo ..."
Von einer Sekunde zur anderen lerne ich, wie es ist, in die Mündung eines Revolvers zu blicken.
"Was soll das denn?" frage ich entgeistert.
Hinter Gabi's Gesichtszügen arbeitet es, aber sie sagt nichts. Aber sie nimmt die Pistole auch nicht herunter. Und dann verstehe ich: 'Du weißt alles, gib es zu!' habe ich gesagt. Das hat sie falsch verstanden. Sie glaubt, daß ich gerade hereingeplatzt bin, um sie mit meinem Wissen über das zu konfrontieren, was ich weiß. Und was ich jetzt, durch dieses Mißverständnis, tatsächlich weiß:
Gabi ist der große Unbekannte!
Vor ihr, auf dem Bildschirm, eine weiße Fläche. Reflexartig hat sie dort etwas gelöscht, als ich hereinkam. Etwas, was ich nicht sehen sollte.
Lange Sekunden vergehen. Sie hat sich definitiv veraten. Damit, daß ihr das passieren würde, hat sie nie gerechnet. Aber wenn man damit nicht rechnet, wozu hält man dann eine Pistole bereit? - Und nun weiß sie, daß sie mich nicht laufen lassen kann.
"Wir finden eine Lösung!" sage ich.
"Natürlich." sagt sie, "Du mußt weg."
"Draußen wissen sie alle, daß ich speziell zu dir wollte! - Ich sollte ein Vergrößerungsglas holen."
Sie denkt nach. "Es muß wie ein Unfall aussehen." sagt sie, mehr zu sich selbst.
"Hier kann einem kaum ein Unfall passieren. Es sei denn, du versenkst wieder das Boot! - Darin hast du ja Übung." Obwohl ich weiß, daß sie es nicht riskieren möchte, mich zu erschießen, weil man Schußwunden ja besonders schwer als Unfall darstellen kann, hypnotisiert der Revolver mich. Ich bin sicher, daß er geladen ist.
"Ich möchte wissen, wie du ..."
"Halt den Mund." befiehlt sie, "Geh an den Chemikalienschrank. - Na los, mach schon!"
Als ich langsam rüberrücke, fällt mein Blick auf die Raumüberwachungskamera. Sie bemerkt es: "Da sieht niemand zu. Die Kamera ist blockiert! - Aufmachen."
Ich öffne den Schrank.
"Die Ampullen unten rechts."
"Was ist damit?"
"Hals abschlagen und trinken."
"Das tu ich nicht. Was ist das? Salpetersäure? Warum sind die nicht beschriftet?"
"Du wirst sie trinken! Sonst verlierst du gleich eine Kniescheibe!"
"Und das willst du noch als Unfall darstellen?"
"Wenn du das getrunken hast, wird man nichts mehr erkennen können."
Ich begreife: "Ist das das ..."
"Genau. Das Viskositor."
"Warum machst du das? - War das die ganze Zeit hier?"
"Geht dich nichts an. Trinken!"
Ich erinnere mich deutlich an die plastischen Beschreibungen von Doktor Morton über die Wirkung von Viskositor. Das trinke ich nicht. Überhaupt, das ist ein Beweismittel! Aber, wenn ich nicht - meine Gedanken überschlagen sich. Gabi ist doch nicht in Nahkampfmethoden ausgebildet, oder? Habe ich eine Chance, ihr den Revolver aus der Hand zu schlagen, bevor sie mich zum Krüppel schießt? Oder mich umbringt?
"Trink!" sagt sie drohend und kommt näher.
"Wenn du mich totschießt, kriegst du das Zeug nicht in meinen Körper rein. Dann läßt sich die Schußwunde nicht mehr verbergen!" sage ich, "Außerdem kann jede Sekunde jemand hereinkommen!"
Das hat sie sich wohl auch schon gedacht. Sie ist nervös - dieser Vorfall war nicht geplant. Vielleicht ärgert sie sich auch über sich selbst - welchen Verdacht hätte ich geschöpft, wenn sie nicht die Nerven verloren und den Revolver in Anschlag gebracht hätte?
"Ich weiß, wieviel dir die körperliche Unversehrtheit bedeutet!" sagt sie, "Willst du wirklich steife Beine bekommen? Für den Rest deiner Tage Rollstuhl fahren? Nie mehr Laufen?"
Die Tür geht auf: "Was dauert das denn so lange? Amurdarjew braucht ..." Doktor Thomas Reinhardt reißt Mund und Nase auf, als er Gabi's Revolver sieht.
"Reinkommen. Tür schließen!" sagt sie.
"Tja." sage ich zu Reinhardt, "Welcome to the club!"
"Mund halten!" Gabi's Tonfall ist scharf, aber, unüberhörbar, ist da auch ein Zittern in ihrer Stimme, "Beide die Hände über den Kopf!"
Wir tun, wie uns geheißen. Reinhardt blickt von Gabi zu mir und zurück. Nun weiß er auch Bescheid. Will Gabi uns jetzt so lange gemeinsam in Schach halten? Wie lange überhaupt? Bis was geschieht?
Sie blickt von einem zum anderen, und wir fangen an, zu rechnen. Eigentlich ist es so: Meine und Reinhardt's Chancen sind schlecht. Aber Gabi's Chancen sind jetzt Null. Wenn wir uns jetzt beide auf sie stürzen, hat sie Zeit für einen Schuß. Vielleicht trifft der nicht einmal. Und dann haben wir sie. Langsam wird mir das klar. Und Reinhardt wohl auch.
"Geben Sie auf!" sagt Reinhardt, "Es ist zwecklos!"
"Sie werden das jetzt trinken!" wiederholt Gabi, "Alle beide!"
"Was?" fragt Reinhardt.
"Viskositor kann man nur injizieren!" sage ich, "Oral geht das nicht - die Magensäure zersetzt es völlig! - Und für beide reicht es sowieso nicht!" Das habe ich mir zwar ausgedacht, aber ich gehe davon aus, daß Gabi es auch nicht besser weiß. Ihre Reaktion gibt mir recht.
"Dann bereite eben eine Spritze vor!"
"Spritzen sind nur unten in der Krankenstation!"
Schon wieder stimmt ihr Konzept nicht. Sie überlegt einen Moment. Dann geht sie ans Interkom. Die Pistole bleibt auf uns gerichtet, genaugenommen auf einen unbestimmten Fleck zwischen uns.
"Zentrale? Gohlmann. Ich bin im hinteren Labor. Ich will Wellington sprechen." Nach ein paar Sekunden fährt sie fort: "Gohlmann. Hören sie zu. Ich übernehme jetzt das Kommando über das Boot. Ich habe Homberg und Reinhardt in meiner Gewalt. Unternehmen Sie nichts, oder sie werden sie nicht lebendig wiedersehen!"
Dann legt sie rasch auf, so, als ob sie Angst vor Rückfragen hätte.
Jetzt ist sie übergeschnappt, denke ich. Geiselnahme! Zu welchem Zweck? Was will sie denn mit dem Boot machen, wenn sie schon mal das Kommando über dasselbe hat? Ich versuche mir, vorzustellen, welches Gesicht Wellington jetzt macht.
Jedenfalls ist das Thema Viskositor erst einmal vom Tisch. Das hat nun keinen Zweck mehr. Jetzt ist es jedem bekannt, wer der große Unbekannte ist.
Das Interkom schlägt an. Gabi rührt sich nicht.
"Willst du nicht rangehen?" frage ich, "Vielleicht hat der Alte Rückfragen!" Ich bin versucht, sarkastisch zu werden. 'Vielleicht will der Alte wissen, wann die Krönung ist!' Aber solange Gabi mit der Pistole rumfuchtelt, bin ich vorsichtig.
Überhaupt, die Pistole: Wie kommt die denn an Bord?
Schon wieder geht die Tür auf. Da Gabi noch nicht allgemein verkündet hat, daß das Boot gekapert worden ist, kommen eben ab und zu mal Leute vorbei, um nachzusehen, wo wir bleiben. Diesmal ist es Edwin.
"Wo bleibt ihr denn?" fragt er. Dann sieht er unsere Hände über dem Kopf. Die Kinnlade fällt ihm herunter.
"Stell dich mal gleich dazu!" sage ich.
"Halt den Mund!" Gabi schreit fast. Und Edwin schreit sie an: "Dahin."
Edwin ist eine artige Geisel. Unaufgefordert nimmt er wie wir die Hände über den Kopf. Und macht den Mund wieder zu.
Gabi steht jetzt von drei Männern umringt. Alle überragen sie. Alle sind stärker als sie. Ein Paläontologe, der gewohnt ist, prähistorische Knochen aus Felsen herauszuwuchten und deshalb nicht ganz ohne Körperkräfte ist, ein früherer Welthöhlenreisender, der auch weiß, wie er seine Hände zum Töten gebrauchen kann, und Edwin ist auch nicht gerade wehrlos. An Gabi's Stelle würde ich mich jetzt eingekesselt fühlen.
"Wenn noch jemand reinkommt, wird's eng!" sagt Reinhardt.
"Mund halten!"
Also halten wir alle den Mund. Und Gabi überlegt. Die Gefahr ist jetzt eigentlich nur noch, daß sie wild um sich schießt. Wenn wir das verhindern, dann haben wir gewonnen. - Was für eine dilettantische Aktion, denke ich. Aber auch bei dilettantischen Aktionen kann sich ein Schuß lösen.
Und dann: Die hat Carola auf dem Gewissen! Und Colbert und Elderman! Und vielleicht auch Irene. Da sind einige Rechnungen zu begleichen! Langsam heize ich meine Rachegedanken an. - Aber warum hat sie das alles gemacht? Das müssen wir auf jeden Fall noch rausfinden.
Gabi's Lage ist eigentlich verzweifelt. Und sie beginnt, es zu verstehen. Trotzdem bedroht sie uns weiter.
Auf dem SISC sehe ich, daß die Einstiegsluken geschlossen worden sind. Die wenigen Außenansichten, die man in diesem Labor zu diesem Zeitpunkt auf dem Bildschirmen sehen kann, zeigen, daß das Boot sich wieder von der Felswand entfernt. Es wird wohl noch etwas dauern, bis Gerald seine ersten Gesteinsproben einbringen kann.
Sekunden später werden die Kameras überspült. Die CHARMION taucht. Gabi müßte es eigentlich auch zur Kenntnis nehmen. Es gibt keinen vernünftigen Grund, jetzt zu tauchen. Ich nehme an, daß Wellington nur erreichen will, daß Gabi wieder mit ihm Kontakt aufnimmt. Gabi tut das aber nicht. Sie ist so unsicher, seit sie ihre Anonymität selbstverschuldet aufgegeben hat, daß sie wie erstarrt ist. Kein Handlungskonzept.
"Ich habe eine Menge Veränderungen im Betriebssystem vorgenommen." sagt sie schließlich.
"Ach ja?" frage ich.
"Ja. Gegen meinen Willen funktioniert in diesem Boot nichts mehr."
"Aha." Ich warte ab, ob sie noch mehr sagt. Möglich wäre es schon. Aber es ist genauso möglich, daß es sich um eine Schutzbehauptung handelt. So wie: 'Mein großer Bruder kommt gleich und verhaut euch alle, falls ihr nicht das tut, was ich sage!'.
Andererseits, daß sie die supersuperuser-Berechtigung hat, ist ja durchaus glaubhaft. Himmel - dann ist sie die einzige, in deren Kopf das Paßwort für den supersuperuser ist!
Die CHARMION hat eine Tiefe von über 200 Metern erreicht. Sie nimmt Fahrt auf, aber der SISC läßt natürlich Wellington's Absichten nicht erkennen.
Ich schiele Edwin von der Seite her an. Er darf nicht zu Schaden kommen. Unsere beiden Informatiker brauchen wir unbedingt, wenn Gabi tatsächlich zuviele Änderungen am System gemacht hat. Und da Carola nicht mehr da ist, kommt es auf Edwin an. Hoffentlich spielt er nicht den Helden.
Wie die Ölgötzen stehen wir einander gegenüber. Die Zeit arbeitet eigentlich für uns, denke ich. Es wird zwar verdammt unangenehm werden, die Hände den Rest des Tages über dem Kopf zu halten, aber irgendwann muß Gabi auch schlafen. Oder hat sie vielleicht auch Komplizen? Sieht nicht so aus. Denn dann wäre es das naheliegenste gewesen, diesen heranzuholen. Andererseits wäre es genauso zweckmäßig, einen eventuellen Komplizen zunächst anonym zu halten. Was würde ich tun?
"Scheiß-Männer!" sagt Gabi plötzlich.
"Na klar." sagt Reinhardt. Aber Gabi spricht nicht weiter.
Mit der habe ich mal geschlafen, denke ich mir. Unfaßbar. So ist es also, mit einer Frau zu schlafen, die einem nach dem Leben trachtet. Und nichts habe ich gemerkt. Nicht das geringste. Hat die Anziehungskraft dieser feuchten, warmen Spalte soviel Gefahrenwahrnehmung kompromitiert, oder war wirklich beim besten Willen nichts zu erkennen? Wo hätte ich aufmerksam werden müssen? Ihr erster Verführungsversuch, zum Beispiel - da hat es den Wassereinbruch gegeben. Hat sie versucht, mich von etwas fernzuhalten? Und der Herwig ist prompt reingefallen. Penis, befiehl, ich folge. Allmählich verstehe ich, warum viele Männer ihrem besten Stück einen Vornamen geben: Es wäre zu entwürdigend, einen vollkommen Fremden 95 Prozent aller Entscheidungen treffen zu lassen.
Aber nein, denke ich, du hast dir nichts vorzuwerfen. Sie hat es sehr geschickt gemacht. Damals, die Sache mit dem Anmalen der Brustwarzen. Kam mir gleich bekloppt vor. Aber auch wieder logisch. Es gibt kein Gesetz dagegen, sich mit Lippenstift die Brustwarzen anzumalen. Das machen vielleicht mehr Frauen, als ich denke. Das war nicht der Knackpunkt, wo bei mir die Alarmklingel hätte schrillen müssen. Deshalb nicht. Aber wann dann? Irgendwelche definitiven Hinweise muß es gegeben haben!
Ob sie noch mehrere aus der Besatzung so manipuliert hat? Jetzt kommt sie mir überhaupt nicht attraktiv vor. Nicht nur wegen der Pistole. Sie schwitzt. Ich rieche ihre Angst. Ihre Labilität. Alles kann passieren.
Die verrücktesten Gedanken kommen mir. Sollte man versuchen, sie jetzt zu verführen? Quatsch. Mit dem Ballermann vor der Nase kann man keine wirksame Anmache inszenieren. Selbst, wenn sie da unbefriedigte Wünsche haben sollte. Was ich auch nicht glaube, denn dazu war der Sex mit ihr zu normal. Heftig und beweglich, aber normal. Nein, das ist kein Ansatzpunkt.
Lächerlich machen? Nein. Kann heftige Reaktionen erzeugen. Überhaupt, mit dieser ganzen Amateurpsychologie müssen wir vorsichtig sein, solange wir ihre Beweggründe nicht kennen. Genaugenommen wissen wir nicht einmal, ob sie für ihr Verhalten einen nachvollziehbaren Grund hat, oder ob sie in die Hände eines Psychiaters gehört.
Sie zeigt mit dem Revolver auf mich: "Setz dich mit dem Alten in Verbindung!"
"Und was soll ich ihm sagen?" frage ich.
"Wir fahren so schnell wie möglich nach Grom!"
"Wir wissen doch gar nicht, wo das liegt!"
"Dann werden wir es suchen!"
"Das haben wir doch sowieso vor!"
Einen Moment ist sie wieder still.
"Was willst du denn in Grom?" frage ich.
"Ich gehe dort von Bord."
"Ach?"
"Setz dich mit dem Alten in Verbindung!" droht sie.
Ich greife zum Interkom: "Chef? - Man wünscht hier, daß wir nach Grom fahren!"
"Sofort!" sagt Gabi.
"Sie haben es gehört - Sofort!"
"Sind Sie okay?" fragt Wellington's Stimme besorgt.
"Wir sind okay. Alle unverletzt."
"Mmh. Nach Grom?"
"So lautet die Order."
"Okay." Wellington legt auf. Er weiß natürlich genausowenig wie ich, wo Grom ist. Aber jetzt geht es erst einmal darum, Zeit zu gewinnen. Auf dem SISC erkenne ich, daß die CHARMION den Kurs ändert und beschleunigt.
"Zufrieden?" frage ich.
"Ja. Fürs erste. Alle hinsetzen!" sagt sie. Wir tun wie uns geheißen. Es ist ja schon ein großer Fortschritt, sich bloß hinsetzen zu dürfen anstatt Gift trinken zu müssen.
"Von Bord." sage ich nach einer Weile. Ich hatte gehofft, sie damit zu weiteren Erklärungen provozieren zu können. Leider läßt sie sich darauf nicht ein. Sie steht an einem Labortisch gelehnt, hält die Pistole in unsere Richtung und sagt nichts.
Was passiert eigentlich, wenn jetzt einer von uns auf's Klo muß? Bei mir ist es zwar noch nicht soweit, aber man kann es ja mal ausprobieren. "Ich muß auf den Eimer!" sage ich.
"Sag dem Alten, er soll uns einen Eimer raufbringen lassen!" befiehlt sie. Ich stehe auf.
"Halt!" Die Pistole zielt wieder definitiv auf meinen Bauchnabel.
"Ich denke, ich soll dem Alten ..." Ich zeige auf das Interkom: "Ich kann hier nicht durch den Fußboden rufen!"
Das sieht sie ein. Ich darf ans Interkom und der Zentrale unsere Wünsche mitteilen.
"Grail soll den Eimer hochbringen!" mischt Gabi sich ein. Wellington sagt, daß es genauso geschehen wird. Eine Minute später öffnet sich die Tür zum zentralen Niedergang. Vivian Grail schiebt den Eimer herein, und ich nehme ihn in Empfang. Dann stehe ich erst einmal herum.
"Nun?" fragt Gabi, "Worauf wartest du?"
"Ich kann nicht, wenn alle zugucken!"
"Dann geh da hinter den Labortisch! - Oder laß es sein."
Ich hebe den Eimer wieder auf. Ein Putzeimer - vielleicht derselbe, mit dem Natalie und ich vor langer Zeit unser 'Revierreinigen' inszeniert haben. Das ist natürlich, wie alles auf der CHARMION, kein verzinktes Stahlblech. Das ist eine Titanlegierung. Hier ist alles vom besten. Da kommt ein Revolvergeschoß nicht durch. Ich überlege.
Neben dem Labortisch bücke ich mich: "Da hat ja schon jemand hingeschissen!"
"Quatsch!" sagt Gabi, "Das hätte ich doch ..."
Sie hat sich einen Moment lang gebeugt, um dorthin zu sehen, wohin auch ich mit angeekeltem Gesicht schaue. Dabei zeigt der Revolver einen Moment lang in eine undefinierte Richtung. Jetzt oder nie ...
Der Eimer wirbelt mit der Öffnung voran auf sie zu. In der nächsten Sekunde habe ich sie - ihr Unterarm mit dem Revolver ist eingeklemmt. "Schieß doch!" zische ich, "Du reißt dir den eigenen Arm auf!" Sie schießt nicht und erspart so den Materialtest - der vielleicht ja auch ungünstig ausgegangen wäre. Sie wehrt sich praktisch kaum.
Reinhardt reagiert schnell und springt mir zur Hilfe. Gemeinsam haben wir sie blitzartig entwaffnet, denn bevor sie riskiert, daß wir ihr mit der Eimerkante den Arm abschneiden, läßt die die Pistole los, und wir können sie aus dem Eimer herausziehen. Reinhardt untersucht sie: "Geladen!" sagt er und legt die Waffe auf einen Labortisch, in sicherer Entfernung von Gabi. Edwin greift zum Interkom.
Nun kommt mir die Wut hoch, und ich drücke mit dem Eimer fester zu, als es notwendig ist: "So! Du willst also zu den Granitbeißerinnen! - Glaubst du, die können mit dir irgend etwas anfangen? Gerade mit dir? - Wo liegt hier das Klebeband?"
Gabi ist nicht kooperativ, aber Edwin findet es. Wellington betritt den Raum, gerade als wir Gabi mit provisorischen Handschellen versehen. "Zu treuen Händen!" sage ich, "Was wollen Sie mit ihr machen?"
Wellington antwortet nicht direkt darauf: "Das war nicht ganz gefahrlos, was sie da gemacht haben, Herr Homberg!"
"Ne. War es nicht. Was sie gemacht hat, war aber auch nicht gefahrlos!"
"War nicht als Kritik gemeint. Ich glaube, wir werden ihr jetzt viele, viele Fragen stellen müssen!"
Er faßt Gabi, die auf den Boden sieht, unters Kinn, so daß sie ihm ins Gesicht blicken muß. "Scheißmänner!" sagt sie.
"Ich glaube, unsere Ärztin sollte dabei sein!" sage ich. Wellington nickt: "Ich würde es nicht glauben, wenn man mir das erzählte. - Ich würde es nicht glauben."
Er hat recht. Ich würde es auch nicht glauben.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
Zurück zu meiner Hauptseite