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73. Die verlorenen Kinder der CHARMION
Wir wissen kaum, was wir zuerst tun sollen. Die Außenortung neustarten. Das wäre wahrscheinlich ziemlich sicher: wenn sich ein frisches Binärabbild dieses Programmes im Speicher befindet - vielleicht ist ja gar nicht der Kernel überschrieben worden, sondern eben die Außenortung - und bisher ist dieses Programm ja zuverlässig gelaufen. Aber wir entscheiden uns, auf Nummer Sicher zu gehen und uns zunächst mal um Verifikation des Kernels zu kümmern. Bis dahin soll nichts neues gestartet werden. Das Problem ist nur, daß wir erst in der Dokumentation nachwühlen müssen, um herauszufinden, wie das überhaupt geht.
Wellington begreift immerhin recht schnell, daß es im Moment keine genialen Lösungen gibt und läßt uns machen. Was sie in der Zentrale tun oder tun können, weiß ich nicht.
Das Boot selber ist derzeit noch nicht in Gefahr. Es sinkt zwar immer noch, mit einer langsamen Geschwindigkeit von jetzt einem drittel Meter pro Sekunde, aber wir sind weit von jeder Gefährdung durch zu hohen Druck und durch Kollision entfernt. Wenn unser Zustand noch lange anhält, werden wir ein paar tausend Meter tiefer irgendwo zwischen den Felsen aufsetzen. - Uns geht's gut. Wir können uns Zeit lassen.
Aber oben, auf der Wasseroberfläche, kämpft die Carola ihren letzten Kampf.
Um die Bomben, die wir gefunden haben, können wir uns jetzt überhaupt keine Gedanken machen. Und nicht um den großen Unbekannten - der sich in jeder Sekunde etwas Neues ausdenken könnte. Das einzige, was für uns arbeitet - und gegen Carola - ist die Zeit. Die Minuten auf der Dialogbox zählen weiter runter. Aber ob wir, wenn diese zwei Stunden um sind, wieder die Verfügung über das Boot kriegen, ist mehr als ungewiß.
Um 22 Uhr haben wir die Stellen in der Dokumentation, wo die Systemverifikation beschrieben wird, gefunden. Nicht auszudenken, was wäre, wenn im Moment nicht einmal die Dokumentenverwaltung funktionierte! Aber sie funktioniert, und wir können mit der Verifikation anfangen.
Es ist im Prinzip einfach. Bitweise wird das geladene Betriebssystem mit den Lademodulen auf dem Speicher verglichen. Checksummen über alle gespeicherten und alle laufenden Programme werden ausgerechnet und mit archivierten Checksummen überprüft. Dann, als sich um kurz nach 22:20 herausstellt, daß der Kernel unbeschädigt ist, wird nacheinander alles andere, was da an Anwendungen läuft, geprüft. Wir wissen, daß es gut sein kann, daß der Fehler schon längst nicht mehr auffindbar sein kann, weil die beschädigten Programmteile nicht mehr im Speicher liegen.
Da der Kernel unbeschädigt ist, wissen wir nun auch, daß das Blokadeprogramm nicht durch ein Neuladen des Kernels umgangen werden kann. Diese meine Vermutung ist nun auch Makulatur - wir werden die 120 Minuten abwarten müssen. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig.
"Diese Scheiß-Software hier an Bord!" gibt Edwin seinem Unmut irgendwann einmal Luft, "So kompliziert wie nie eine Software-Installation zuvor. Das ist wie mit der europäischen Intergration: Man hat es noch nie zuvor so kompliziert gemacht, also muß es funktionieren!"
"Ja," sage ich, "und alles im laufenden Betrieb. Ohne Test vorher."
22:30 Uhr. Die Tiefe ist 1400 Meter, die Sinkgeschwindigkeit schon seit langer Zeit gleichmäßig 33 Zentimeter pro Sekunde. Wir können die Außenortung neu starten. Das Programm initialisiert sich problemlos.
Weder die Haie noch Carola sind auffindbar.
"Da. Und? - Woran liegt's?" fragt Edwin. Darauf weiß ich auch keine Antwort. Aber wohl jeder von uns denkt das gleiche: Inzwischen war genug Zeit, daß die Haie im Vorbeiziehen Carola in Stücke gerissen und verschlungen haben und dann weitergezogen sind.
Tiefe größer als 1400 Meter und nur schwache Temperaturgradienten im Wasser - da sollte die Außenortung sogar sehr kleine Gegenstände, die im Wasser treiben, finden, jedenfalls direkt über uns. Und da in weiterer Entfernung von uns tatsächlich kleine, bewegliche Dinge nachgewiesen werden können, also vermutlich Fische von der Größe eines Fingers und darüber, ist sicher, daß die Außenortung tatsächlich wieder in vollem Umfange funktioniert. Daraus können wir also schließen, daß über uns nicht nur die Carola nicht mehr da ist, sondern auch, daß sie nicht teilweise in Stücke gerissen wurde.
"Es sei denn, daß auch die Stücke vollständig verschlungen wurden." stellt Cohäuszchen fest, als wir diesen Punkt durchsprechen, "Weiß jemand, ob Haie so gründlich sind?"
Keiner weiß es. Ich möchte es eigentlich nicht so genau wissen. Mein Wunschgedanke geht in einer anderen Richtung:
"Bis zum Wiederanfahren der Außenortung hatte sie 80 Minuten Zeit. Kann sie in der Zeit die Insel im Westen erreicht haben?" frage ich.
3600 Meter in 80 Minuten. Das sind circa 3 Stundenkilometer. Ich glaube nicht, daß die Carola das unter normalen Umständen schaffen kann. Und dann bei dieser Hitze. Außerdem wissen wir, daß sie zumindestens nicht sofort damit angefangen hat, in Richtung dieser Insel zu schwimmen. - Ich glaube deshalb nicht daran, daß sie die Insel erreicht haben könnte.
Und immer noch diese nerventötende Dialogbox auf dem Bildschirm:
SUPERVISOR CRASH PRIORITY MESSAGE: SUPERVISOR CONTROLLED MANEUVER ATTENTION! MANUAL BOAT MANEUVER CONTROL IS BEING DISABLED FOR 25 MINUTES. MAINTENANCE ACTIVITIES IN PROGRESS.
Amerlingen kommt zu uns ins vordere Oberdeck. Er erklärt uns das weitere Vorgehen:
"Wie nehmen an, daß wir in Kürze die volle Souveränität über das Boot zurückbekommen. Der Chef hat Folgendes vor: Sowie wir können, werden wir mit maximaler Geschwindigkeit auftauchen. Volle Reaktorleistung auf die Vortriebsmaschinen, steiler Anstellwinkel und Anblasen der äußeren Tauchtanks. Er empfiehlt dann Selbstsicherung für alle. Außerdem soll sich jeder intensiv mit der Außenortung beschäftigen, damit wir rechtzeitig sehen, ob uns beim Auftauchen etwas im Wege ist."
Ich bin skeptisch, daß es nach zwei Stunden etwas bringt, beim Auftauchen ein paar Sekunden einzusparen, aber ich sage nichts. Amerlingen fährt fort:
"Wir erreichen wahrscheinlich etwa 40 Knoten. Das heißt, daß wir ganz schön springen werden! - Wo immer die Frau Rau ist, das kann sie weder überhören noch übersehen."
Wenn Sie noch am Leben ist, denke ich. Cohäuszchen interessiert etwas anderes:
"In dieser Tiefe die äußeren Tanks anblasen? Haben wir denn soviel Gas vorrätig?"
"Auf dem Weg nach oben dehnt es sich ja aus." sagt Amerlingen.
"Und was machen wir, wenn wir oben sind?" frage ich.
"Suchen. In immer weiterem Umkreis. Wenn wir dabei zufällig die Haie finden sollten, dann erlegen wir diese. Mageninhaltsanalyse. Sie verstehen."
"Ich verstehe nicht," sagt Cohäuszchen, "wenn wir schon annehmen, daß die Frau Rau von den Haien vollständig gefressen wurde, dann lohnt es sich immer noch, an der Oberfläche das Wasser zu analysieren. Dabei kann es doch nicht ohne Verletzungen abgegangen sein. Und Blutspuren im Wasser können wir nachweisen."
"Bist du sicher?" frage ich, "Sie hat irgendwie erwähnt, daß sie gerade ihre Tage hatte. Wenn deine Methoden empfindlich genug sind, finden wir auf jeden Fall Blutspuren!"
"Wie lange ist denn das genau her?" fragt Cohäuszchen.
"Weiß ich nicht genau - und menstruale Blutverluste schwanken sehr stark. Dazu kommt noch, daß diese Haie sehr groß waren. Die könnten durchaus einen Menschen als Ganzes verschlingen! - Ohne Verletzungen. Wenigstens vielleicht."
"Du willst damit sagen, daß Blutspuren im Wasser überhaupt keinen Hinweis geben. Weder in die eine noch in die andere Richtung?"
"Genau das will ich damit sagen."
"Aber je länger wir mit der Wasseranalyse warten, desto schwieriger wird es!"
Amerlingen, der uns eine Zeitlang zugehört hat, mischt sich wieder ein:
"Ich glaube, wir lassen die Analyse bleiben. In erster Linie wollen wir die Frau Rau retten, wenn sie noch irgendwo am Leben sein sollte. Das wird uns eine ganze Zeitlang beschäftigen. Danach ist die Analyse sowieso sinnlos. - Tja. Würden Sie sich dann bitte fertig machen und alles einsammeln, was lose herumliegt?"
Kaum, daß Amerlingen draußen ist, fängt wieder die Diskussion über Schuld und Nichtschuld an. Ich reagiere gereizt:
"Wollen wir das vielleicht mal verschieben, ja? Der Alte wird das noch untersuchen, und niemandem stehen Vorgriffe auf das Untersuchungsergebnis zu."
"Ein Kriegsgerichtsverfahren?" fragt Solzbach.
"Das heißt hier anders - dieses ist kein Kriegsschiff. Aber in der Funktion ist so eine Verhandlung dasselbe wie ein Kriegsgericht. Ein provisorisches Gericht muß zusammengestellt werden, wenn ein ordentliches Gericht nicht verfügbar ist."
"'Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden'!" zitiert Cohäuszchen.
"Das ist auch nicht der Fall." sage ich, "Wenn ein Bordgericht zusammengestellt wird, dann werden Protokolle erstellt, die später einmal durch ein ordentliches Gericht überprüft werden. Sowie die Möglichkeit dazu besteht."
"Und würdest du auf 'nicht schuldig' plädieren?" fragt Cohäuszchen.
"Im juristischen Sinne - ja. In einem anderen Sinne geht das keinen von euch was an."
"Scheint mir doch irgendwie eine verdrehte Form der Rechtsfindung zu sein." stellt Cohäuszchen fest.
"Weißt du was besseres? In diesen Dingen gibt es hier nichts anderes als Provisorien. Nebenbei, das, was auf dieser Reise schon passiert ist, reicht aus, um eine ganze Handvoll Verfahren in die Wege zu leiten. Gerichtsverfahren und Untersuchungsverfahren. Was haben wir denn da: Sabotage, Mord, Verstoß gegen das Kriegswaffengesetz, um die wichtigsten Tatbestände zu nennen." Die Vorbereitung biologischer Kriegsführung nenne ich nicht, denn die Kenntnis um die Direktive q78q99q ist ja nicht Allgemeingut.
"Was für Kriegswaffen?"
"Ah, du weißt die neuesten Entwicklungen noch nicht!"
Mit ein paar Worten erkläre ich, was für einen merkwürdigen Torpedo wir gefunden haben. Alle im Raum werden sehr hellhörig, und mir kommt der Themawechsel gerade recht.
"Das hast du vorhin mit dem 'schlecht gewordenen Torpedo' gemeint?" fragt Gerald.
"Ja."
"Das glaube ich nicht. Wozu sollen die gut sein? - Torpedos mit Kernsprengkörpern - Quatsch!"
"Die CHARMION ist immerhin als militärisches Schiff gebaut worden!"
"Aber sie ist umgerüstet worden. Für zivile Zwecke. Dabei vergißt man doch nicht, Atombomben zu entfernen, falls wirklich welche an Bord gewesen sein sollten!"
"Du sagst es. - Ich habe ja auch nicht behauptet, daß ich es verstehe."
23:10 Uhr. Die 120 Minuten sind um. Die Dialogboxen des Blokadeprogrammes verschwinden von den Bildschirmen. Nun schnallen sich auch die letzten von uns an.
Schon neigt sich das Deck, Bug nach oben. Wellington wird die 2200 Meter Tiefe so schnell wie möglich überwinden. Wir hören aber weder etwas von den hochfahrenden Vortriebsmaschinen noch von der Preßluft, die in die äußeren Tauchtanks einströmt. Lediglich die Tiefenangabe auf dem SISC beginnt schon bald, recht schnell abzunehmen.
Der Anstellwinkel wird 45 Grad, mehr nicht. Ich rechne nach: Wenn wir tatsächlich mit Hilfe des Auftriebs der äußeren Tauchtanks 72 Kilometer pro Stunde erreichen, dann entspricht das bei einem 45-Grad-Wurf einer Wurfweite von 40 Metern und einer Wurfhöhe von 10 Metern. Die CHARMION wird also nicht wie ein Delphin aus dem Wasser herausspringen - dazu wäre mindestens die doppelte Geschwindigkeit notwendig. Aber der größte Teil des Vorschiffes wird aus dem Wasser herauskommen, und wenn das Boot dann wieder zurückfällt, wird es uns ordentlich durchschütteln.
Und es wird einen weithin sicht- und hörbaren Schwall geben, und kräftige Wellen.
Die Erwartung dieses Sprunges des Bootes legt zunächst die Diskussion bei uns im vorderen Oberdeck lahm.
Leider sind kaum Außenscheinwerfer eingeschaltet, weil jetzt jedes Watt, das der Reaktor liefert, für den Vortrieb gebraucht wird. Aber wir sehen noch genug. Es steigen Blasen auf, und die kleineren Blasen haben eine geringere Steiggeschwindigkeit als die CHARMION. Sie bleiben also relativ zu uns in der Tiefe zurück - es sieht merkwürdig und widersinnig aus, obwohl es so einfach zu erklären ist.
Auf den Anzeigen des Außenortungsprogrammes ist hingegen in der näheren Umgebung nichts zu sehen. Nichts, was unsere rasende Aufwärtsfahrt stoppen könnte. Unsere Fahrrichtung ist etwa West, so daß wir der Insel im Westen beim Auftauchen auf etwas mehr als einem Kilometer nahekommen werden. Dann werden wir, ohne Zeit zu verlieren, sofort einen Ost-West-Suchkurs einschlagen.
Immer schneller werden wir. In Wildwestfilmen ist es immer die Kavalerie, die zum Schluß die Helden heraushaut. Und immer kommen sie noch rechtzeitig.
1000 Meter Tiefe. 22 Knoten bereits, das sind schon über 40 Kilometer pro Stunde. Der Auftrieb der Luft in den äußeren Tauchtanks wird spürbarer. Schon wenige Sekunden später nebelt sich das Boot in dichten Wolken von Blasen ein. Das kommt daher, daß soviel Luft in die äußeren Tauchtanks geblasen wurde, daß diese schon bei einem wesentlich höheren Druck vollständig gefüllt sind. Bei noch weiter fallendem Druck quillt diese Luft wieder in Massen aus den äußeren Tauchtanks heraus. Die Geschwindigkeit erreicht 36 Knoten - 67 Kilometer pro Stunde. Und steigt noch. Nun wird das Wasser draußen heller. 72 Kilometer pro Stunde. Und steigt immer noch.
"Obacht - festhalten!" hören wir über die Rundspruchanlage. Einen Moment lang haben wir das Gefühl wie in einem Fahrstuhl, der beginnt, abwärts zu fahren. Gleichzeitig sehen wir auf den Außenbildschirmen zwei Sekunden lang undeutlich über das Meer, bevor alles in einem Wirbel von Gischt zusammensinkt. Die Bewegung des Deckes ist für Sekunden erratisch. Dann stabilisiert es sich aber wieder. Die Außenansichten der oberen Kameras werden nach einigen Sekunden klar.
Sofort beginnt die Auswertearbeit: Für Bruchteile einer Sekunde waren Teile des Bootes über zehn Meter über der Wasseroberfläche. Die Bilder der betreffenden Außenkameras sollte man sich genau ansehen. Bei einer stabilen Schwimmlage der CHARMION gibt es nämlich keine Möglichkeit, aus dieser Höhe Aufnahmen zu machen. Die Gelegenheit muß man also nutzen.
Es zeigt sich aber schnell, daß diese Arbeit vergeblich ist. In dieser kurzen Zeitspanne ist das Wasser nicht genügend von den Frontlinsen abgelaufen - alle Bilder sind verschliert. Praktisch unbrauchbar.
"Meine Herren - wer nichts zu tun hat, schnappt sich bitte ein Glas und geht an Deck!" Das war Amerlingen's Stimme, die da über die Rundspruchanlage kam.
"Wo haben wir denn hier Ferngläser?" fragt Cohäuszchen.
"Im zentralen Niedergang. Bei den Taucheranzügen. Glaube ich. - Was mir mehr Sorgen macht: Was, wenn der große Unbekannte das gleiche Spiel gleich noch einmal wiederholt?"
"Herwig, du machst einem richtig Mut."
"Das habe ich in diesem Tonfall schon öfter gehört!"
Bald nach diesem Zeitpunkt steht ein Drittel der Besatzung an Deck und sucht mit starken Nachtgläsern das Meer und die nahe Insel ab. Als erstes wendet sich das Boot nach Osten, um genau den Ort anzusteuern, an dem wir untergetaucht sind. Das ist mir nicht unangenehm, weil es von den Küstenfelsen, die die Pteranodone umkreisen, doch nicht mehr allzuviele Flugminuten bis hierher sind.
Die Wellen, die wir selbst beim Auftauchen gemacht haben, haben sich längst schon verlaufen. Nichts weist darauf hin, daß diese harmlos erscheinende Wasseroberfläche bereits eine der unseren verschluckt haben könnte. Wir suchen mit allem, was da ist: Ferngläser, Kameras, Außenmikrophone, die Außenortung, die mit Echolot und Radar kilometerweit im Wasser sehen kann. Wir hören das Kreischen der Tiere von der Insel im Westen, wir horchen, ob da ein menschlicher Laut drunter ist - ein Hilferuf. Man kann sich leicht ausrechnen, daß Carola nicht bis dahin gekommen sein kann, und doch horchen wir.
Und es gibt noch ein Problem: Der Aufenthalt außerhalb des Bootes ist natürlich nur erträglich, wenn wir wieder unsere kühlenden Springbrunnen wieder anschalten. Dann muß man aber verdammt aufpassen, daß die Ferngläser nicht dauernd naß werden. Ich denke mir, es muß doch eine Möglichkeit geben, ein Fernglas zu konstruieren, dessen brechende Flächen aus Wasser bestehen, das irgendwie in der richtigen Form gehalten wird. So ein Fernglas wäre immun gegen die Benutzung im Regen. Aber ich habe keine Idee zu einem machbaren Konstruktionsprinzip.
Und während wir die Wasseroberfläche absuchen, fällt mir auch ein, daß wir Colbert und Elderman noch nicht bestattet haben. Carola ist wirklich die erste. Euphemisch würde man sagen: Die erste, die in der Welthöhle ihr Haupt zur Ruhe gebettet hat. Faktisch ist sie ersoffen oder von den Haien zerrissen worden. Ein Vorgang, der nichts romantisches an sich hat.
Genausowenig wie die Kreuzigung von Charmion.
Noch ein Zitat kommt mir in den Sinn: 'Poole würde der erste Mensch sein, der den Saturn erreicht.' Arthur C. Clarke. 2001. Was hat Saturn mit der Welthöhle zu tun? Und die wirkliche Carola mit dem fiktiven Frank Poole? - Was Arthur C. Clarke wohl aus der Welthöhle gemacht hätte, wenn er sie sich ausgedacht hätte? Oder Isaak Asimov? Vielleicht tun sie's noch. Ach nein, Asimov ist ja schon lange tot. Ist Clarke schon tot? Weiß ich nicht. Nur von Asimov kenne ich das Todesdatum: Der 6. April 1992. April und seine Geburt- und Todestage. Geburtstage: Ich, Carola, Adolf Hitler. Todestag: Einstein. Der April kann ja nichts dafür. Und der Februar auch nicht. Meine Gedanken drohen, in sinnlose Kreise abzurutschen, und ich zwinge mich wieder zu mehr Aufmerksamkeit.
Die nassen Klamotten kleben am Körper. Entweder Schweiß oder unsere Kühlungsspringbrunnen. Meistens beides. Konzentrieren, denke ich, Fernglas aus der direkten Berieselung raushalten. Ein Tropfen kann genau den Teil des Bildes verschlieren, auf dem Carola zu sehen sein könnte. Ein Tropfen kann sie umbringen, wenn sie noch lebt und weit genug abgetrieben ist.
Ein paarmal sehe ich mißtrauisch zu der Insel im Westen rüber. Aber die Pteranodone - oder welche Spezies es auch immer ist, die die Felsen umkreist - machen keine Anstalten, näherzukommen, und warum sollten sie es dann getan haben, als Carola viel weiter draußen im Meer um ihr Leben schwam? Natürlich weiß ich nichts über Pteranodone, und auch Reinhardt weiß wenig über sie, denn er kennt Fossilien und nicht lebende Tiere. Reinhardt ist, seit wir in der Welthöhle angekommen sind, deutlich stiller geworden. Kollision der Wirklichkeit mit seinem paläontologischen Wissensschatz? Kann eigentlich noch nicht sein, denn wir sind noch gar nicht so vielen Tierarten nahegekommen. Auch jetzt sucht er brav das Wasser nach Carola ab und genehmigt sich kaum einen Blick in Richtung der kreisenden Urweltflieger. Und wenn er mit seinem Glas doch mal die Insel streift, dann sucht er dort nach Carola und nichts sonst.
Oder wenigstens nach einem Menschen. Natürlich könnte diese Säuleninsel schon bewohnt sein. Obwohl es unwahrscheinlich ist, denn die meisten Inseln in der Welthöhle sind nicht bewohnt. Wenn die Insel aber bewohnt sein sollte, und die Carola hat sich dahin geflüchtet, dann gibt es eine ganze Menge neuer Aspekte. Aber das ist immer so: Der 'Wenn's' sind so viele, und flächendeckend alls 'wenn's zu durchdenken ist meistens Zeitverschwendung.
Mitternacht. Es bricht der 15. Februar 1999 an. Ein Montag. Ende eines Wochenendes - Was für ein Wochenende. Und immer das gleiche, trübe Licht.
Die Suche wird weitergeführt, ohne Rücksicht auf Müdigkeit. Das Meer östlich der Insel im Westen, rund um unseren ersten Auftauchspunkt herum, wird abgegrast. Die CHARMION fährt 100 Meter breite Streifen ab, die äußeren Tauchtanks sind soweit wie möglich entleert worden, damit die CHARMION so hoch wie möglich im Wasser liegt. 20 Knoten Zickzack-Kurs. Damit können bei 100 Meter Suchstreifenbreite in jeder Stunde 3.6 Quadratkilometer abgesucht werden. Weitere flankierende Maßnahmen werden getroffen, so zum Beispiel das Ausschleusen von Kameraträgern, die wir später wieder an Bord nehmen werden. So können wir optische und akustische Signale, die in großer Entfernung vom Boot aufgezeichnet wurden, aufnehmen.
Die hohe Geschwindigkeit dieses Suchkreuzens macht noch andere Probleme. Obwohl die äußeren Tauchtanks maximal entleert wurden, wird doch ein großer Teil der die Wasseroberfläche überragenden Wölbung der CHARMION überspült. Kollisionsschienen und Laufgitter lenken dabei diese Wasserströme zur Seite, aber es spritzt trotzdem. Lästiger ist, daß so nicht alle Kühlwasserspringbrunnen funktionieren können, und da Fahrtwind und aufspritzendes Seewasser nicht im mindesten kühlen, ist die Fernrohrbeobachtungswache eigentlich nur auf dem hinteren Teil des Bootes machbar.
Eine andere Folge der hohen Geschwindigkeit ist unsere deutliche Kielwasserspur. So unauffällig die graue CHARMION selbst sein mag, aber diese Straße, die aus den auswandernden Wellen gebildet wird, dürfte besonders von erhöhtem Standpunkten aus weit zu sehen sein.
Wen oder was werden wir so anlocken?
In den frühen Morgenstunden kommen wir der Insel auch recht nahe. Wir folgen ihrem Küstenverlauf, manchmal weniger als 100 Meter vom Ufer entfernt. Wir rufen Carola's Namen. Und ich erinnere mich gut daran, wie gut die Granitbeißerinnen mit Pfeil und Bogen umgehen können - was wir jetzt machen, ist nicht ungefährlich.
In einer anderen Umgebung wäre das technisch kein Problem: Man würde Infrarotkameras einsetzen. Die Körperwärme eines Menschen entspricht der Strahlung einer klassischen Glühbirne mittlerer Leistung. Aber in einer Umgebung, die bereits eine Temperatur hat, die der Körpertemperatur eines Menschen entspricht, funktioniert das nicht so ohne weiteres. Und natürlich wäre da das Problem der anderen großen Tiere, die ja auch ein Infrarotsignal erzeugen würden.
Cohäuszchen philosophiert irgendwann einmal über DNS-Analyse: Untersuchen jeder organischen Materie, die uns in die Quere kommt. Wenn es deutliche, systematische Unterschiede der Gene zwischen der Welthöhle und unserer Welt gibt - und das halte nicht nur ich für wahrscheinlich - dann kann man schon von sehr kleinen organischen Materialmengen angeben, ob es Material aus der Welthöhle oder aus unserer Welt ist.
Aber erstens haben wir noch keinerlei genetische Daten aus der Welthöhle, und zweitens würde eine zufällig eingesammelte Probe mit immens großer Wahrscheinlichkeit aus der Welthöhle stammen. Das wäre wenig hilfreich, um Carola finden zu können. Wahrscheinlich redet der Günther nur, um sich und uns wachzuhalten.
Der undurchdringliche Dschungel, den wir so vergeblich mit unseren Blicken zu durchdringen versuchen, erinnert mich an eine Vision, die ich manchmal unterwegs beim Laufen habe, wenn ich durch regennasse Wiesen presche. Die bloße Vorstellung, man würde durch ein Zauberwort um den Faktor 1000 verkleinert werden und müßte sich dann in dieser Wiese durchschlagen und am Leben bleiben.
Alle Pflanzen dieser Wiese wäre zu mächtigen Urwaldriesen geworden, selbst kleinere Insekten zu aggressiven Ungeheuern. Kleine Wiesen hätten einen Durchmesser von Hunderten von Kilometern, bei großen ginge es in die Tausende. Sich normalgroßen Menschen bemerkbar zu machen wäre praktisch nicht möglich, im Gegenteil, man müßte man sie meiden: Schließlich wären es ja berggroße Riesen, die diesen Urwald niederwalzen würden. - Selbst, wenn man als normalgroßer Mensch wüßte, daß ein nahestehender Mensch sich so kleingezaubert irgendwo in einer solchen Wiese aufhalten würde, es wäre praktisch nicht möglich, ihn zu finden und ihm irgendwie zu helfen. Genausowenig, wie wir jetzt Carola finden und ihr helfen können.
Wir finden nichts auf der Insel. Carola nicht, und auch sonst keinen Menschen. Oder wenn dort doch welche sind, dann halten sie sich verborgen, so, wie das Volk der Sachinor es getan hat.
Pater Palmer hat die Hundswache. Da die Zentrale aber unter diesen Umständen besetzt ist, schiebt er auch seine Fernrohrschichten mit uns zusammen. Wenn ich wacher wäre, würde ich vielleicht versuchen, mich mit ihm zu streiten. Oder, wer weiß, vielleicht auch nicht.
Die Schränke mit den nuklearen Torpedos sind inzwischen untersucht worden. Ich erfahre es, als ich vorübergehend in der Zentrale bin, um mich zu erkundigen, wie der weitere Suchplan aussieht.
Es ist ja noch viel schlimmer, als wir dachten: Es gibt 64 Torpedos, die nach ihrer Aufschrift einen kleinen nuklearen Sprengkopf haben. 64 Stück! Auch, wenn das Sprengköpfe im unteren Kilotonnenbereich sind, kann die CHARMION damit einen Küstenstrich zu einer Wüste machen, oder den größten Teil der Welthandelsflotte versenken. Aber das ist ja nicht einmal das schlimmste. Weitere 192 Torpedos haben wechselnde Aufschriften, die zu interpretieren uns schwer fällt. Wir glauben, daß es sich sowohl um chemische als auch um biologische Waffen handelt.
Die CHARMION hat den vielfachen Tod im Bauch. Und wir haben bis jetzt nichts davon gewußt! - Und wir haben unser Bestes gegeben, das Zeug sicher in die Welthöhle zu transportieren.
"Wo kommen die her? Sind die vielleicht doch absichtlich an Bord?" frage ich Amerlingen. Der zuckt mit den Schultern: "Wenn die absichtlich hier wären, dann müßten wir davon wissen. Es weiß aber keiner was. Es sei denn, der Alte verstellt sich. Aber ich kenne ihn zu gut. Er ist ehrlich bestürzt." Und nach einer Weile sagt er: "Es ist doch völlig undenkbar, daß jetzt noch jemand solche Kriegswaffen bereithält!"
Ich könnte ihm jetzt etwas über die Direktive q78q99q erzählen, die jetzt auch wieder in einem anderen Licht zu sehen ist. Aber ich tue es nicht. Im Moment teile ich das Wissen über die Direktive q78q99q nur mit Edwin und Carola.
Wenn sie doch noch am Leben wäre und ich mit ihr drüber sprechen könnte!
"Vielleicht ist es nichts," sage ich, um mich schnell von diesem Gedanken abzulenken, "Zumindestens einen der vorgeblich nuklearen Sprengkörper könnte man mal untersuchen und auseinandernehmen, um rauszukriegen, ob es wirklich einer ist! - Strahlenmeßgeräte haben wir doch an ..."
"Nein." sagt Amerlingen entschieden, "die nehmen wir nicht auseinander. Die bringen wir dem Absender zurück. - Schon deshalb müssen wir diese Reise überstehen!"
"Sie haben recht." sage ich. "Aber ich werde noch einmal die Schiffsdokumentation durchgehen - unter diesem neuen Gesichtspunkt. Natürlich erst, wenn das hier vorbei ist." Wenn wir Carola aufgegeben haben, denke ich. So heißt das übersetzt. - Immerhin weiß ich jetzt aber auch, daß Amerlingen nicht jeder möglichen Zielsetzung dieser Reise vorbehaltlos gegenübersteht.
Das erste Mal kommt mir noch ein anderer Gedanke: So, wie die Direktive q78q99q eine Zielsetzung des Unternehmens definiert, die nur einer oder einige wenige an Bord ausführen sollen und die nicht allen bekannt ist, so kann es ja noch andere solche Spezialaufträge geben. Und mit einem davon können diese Bomben etwas zu tun haben. - Mir fällt aber im Moment kein denkbarer Auftrag ein, zu dem Atomwaffen notwendig sind. - Ich weiß doch, was ich in meinem Buch geschrieben habe! Natürlich kann man zu der Ansicht kommen, daß man sich in der Welthöhle vielleicht nicht ganz unbewaffnet bewegen sollte. Aber doch keine Atombomben! Auch die Direktive q78q99q, die auf das Beschaffen von virulenten Keimen aus der Welthöhle hinausläuft, macht ja noch Sinn. Aber doch nicht, welche hinzubringen!
In den Morgenstunden wird die Insel einmal umkreist. Sie hat einen Durchmesser von 7 bis 9 Kilometern und damit eine Küstenlinie von 60 bis 80 Kilometern - mit allen Winkeln und Buchten. Wir haben jetzt ein genaues, dreidimensionales Modell der Insel und glauben, von den meisten Stellen zu wissen, ob man dort schwer oder leicht vorwärtskommt. Doch diese Information ist wenig nützlich, um herauszufinden, wo sich Carola, wenn sie die Insel aus eigenem Antrieb heraus betreten hat, hinwenden würde. Ihre Kletterfähigkeiten dürften beschränkt sein, von dem Schwimmen über das Meer wäre sie erschöpft, und wegen der hohen Temperatur wäre sie auch gar nicht mehr am Leben. Sie kann es einfach nicht geschafft haben.
Was ist während der Zeit unserer Zwangstauchpause passiert?
Gegen 9 Uhr gibt es eine Durchsage von Wellington über die Rundspruchanlage:
"Bitte herhören. Herr Palmer wird in zwei Stunden einen ökumenischen Gottesdienst lesen. Dabei werden Colbert und Eldermann in der üblichen Weise bestattet. Wer will, kann anwesend sein. Die Veranstaltung findet oben, unter freiem Himmel statt. - Weil es sinnvoll ist, herauszukriegen, was mit menschlichen Leichen in diesem Meer passiert, werden die beiden ohne weitere Vorkehrungen dem Meer übergeben. Wir beobachten dann, was geschieht. Danke."
Pietätlos, denke ich - aber vielleicht richtig. Vielleicht kriegen wir ja so noch einen Hinweis.
Und auf eine Hoffnung auf Rache: Wenn es doch die Haie sind, die plötzlich wieder auftauchen, sobald die beiden Leichen im Wasser sind, werden sie nicht viel Freude an ihrer neuen Mahlzeit haben: Man kann ja nicht dauernd mit den Artenschutzrichtlinien unterm Arm herumrennen, wenn man persönliche Rechnungen zu begleichen hat. Auch, wenn es nur ein Hai ist.
Inzwischen haben wir auch Pläne entwickelt, weiter entfernte Inseln anzulaufen. Diese dürfte Carola erst recht nicht erreicht haben können. Andererseits - sie hatte ihre Brille ja nicht zum Schwimmen mitgenommen. Vielleicht ist sie genau in die falsche Richtung geschwommen? Vielleicht schwimmt sie noch? Quatsch, sage ich mir: Inzwischen sind 11 Stunden vergangen. Entweder sie hat festen Boden unter den Füßen, oder sie ist tot.
11 Uhr. 15 Februar 1999. Ein Montag. Die CHARMION ist wieder am Orte ihres ersten Auftauchens.
Die meisten sind anwesend, weniger aus einem Hang zum Religiösen, sondern wegen Colbert und Elderman. Und die meisten haben genügend Phantasie, sich auszumalen, daß durchaus noch mehr passieren kann, sodaß noch weitere Besatzungsmitglieder in dieses fremde, heiße Meer geworfen werden. Es ist also auch nicht der übliche Geschwätzpegel zu hören.
Und die meisten haben genügend Phantasie, sich vorzustellen, daß der große Unbekannte genau jetzt auf die Idee kommen könnte, das Spiel zu wiederholen. Unauffällig sind die Stehplätze in der Nähe der Einstiegsluken deutlich beliebter als die an den Enden des Bootes. Allerdings hat Garner uns versichert, daß er die Steuerleitungen für die Entlüftungsklappen manuell blockiert hat und so das Boot im Moment gar nicht in der Lage ist, zu tauchen.
Das, was Palmer so über unsere drei verblichenen Kollegen erzählt, ist so das übliche, was man bei Beerdigungen hört. Von Carola spricht er als der 'allseits beliebten Kollegin', was noch angehen mag, und von der 'aufmerksamen Zuhörerin bei den Nöten anderer', was nicht genau das ist, was ich von Carola in Erinnerung habe: Mit dem bloßen Zuhören hat sie sich nie lange aufgehalten. Und das Wort 'unentbehrlich', das er für alle drei findet, ist zwar sehr schön höflich, aber unentbehrlich ist hier niemand. Daß die drei nicht unentbehrlich waren, werden wir jetzt demonstrieren müssen, wenn wir weiterleben wollen.
Daß für Carola quasi eine Messe gelesen wird, obwohl wir die Suche nach ihr ja noch gar nicht eingestellt haben, erscheint mir ein wenig voreilig. Aber niemand protestiert ob dieses offensichtlichen Widerspruches. Und ich habe noch einen Grund, mir zu wünschen, daß wir sie doch noch finden: Ich möchte ihr von ihrer eigenen Trauerfeier erzählen. Nicht viele Menschen haben Gelegenheit, so etwa wie Tom Sawyer und Huckleberry Fin ihrem eigenen Trauergottesdienst beizuwohnen. Das liegt wohl daran, daß man in solcher Situation meistens wirklich tot ist.
Colbert und Elderman haben ihre normale Bordkleidung an und sind darüber hinaus in Tücher eingewickelt. Vermutlich hat irgendjemand protestiert, sie so einfach ins Wasser zu werfen, als seien sie eben erst lebendig von Bord gefallen. Beide Leichen versinken langsam - später erfahre ich, daß sie mit einigen Kilogramm Salz beschwert worden sind. Wenn das sich aufgelöst hat, werden sie vielleicht wieder auftauchen, wenn sie nicht vorher einem Aasfresser zum Opfer fallen.
Auch, wenn wir alle zu Umfallen müde sind - auf mich wartet noch eine Anhörung. Um 12 Uhr muß ich mich im Krankenrevier einfinden, weil Wellington, Amerlingen und Fahlenbeek mit mir unter acht Augen sprechen wollen.
Es gibt keine Vorwürfe und Vorverurteilungen. Ich muß alles, was passiert ist, aus meiner Sicht vortragen. Daß ich schneller als Carola gemerkt habe, daß das Boot im Begriff ist, zu tauchen, ist glaubhaft. Daß ich schneller aus dem Wasser heraus und in die Luke herein bin, auch. Aber die Frage, ob ich mich eventuell früher darum hätte kümmern müssen, ob Carola mitkommt oder nicht, anstatt dies erst dann zu tun, wenn ich selbst in Sicherheit bin, bleibt offen. Mir wird klargemacht, daß ich nach unserer Rückkehr in die Zivilisation wahrscheinlich mit einem Untersuchungsausschuß konfrontiert werde.
Darüber hinaus habe ich den Eindruck, daß keiner der drei mich verdächtigt, daß ich der große Unbekannte sein könnte. Möglich wäre es ja: Ich bereite das eigenmächtige Tauchen des Bootes vor, bringe Carola dazu, mit mir außerbords zu gehen und bin dann noch schnell genug, um mich selbst wieder in Sicherheit zu bringen und Carola draußen ertrinken zu lassen. Wahrscheinlicher ist aber, daß dieser Vorgang mich eher von dem Verdacht, der große Unbekannte zu sein, ausschließt. Natürlich sind wir uns darüber klar, daß dieses alles ein Abwägen von Wahrscheinlichkeiten und Unwägbarkeiten und nicht quantifizierbaren Abschätzungen gegeneinander ist. - Um 14 Uhr bin ich entlassen.
Den Rest des Tages, bis zum Abend, verbringen wir weiter mit Suchkreuzen. Die nächsten paar Inseln, die weiter entfernt sind, werden angesteuert, dann fahren wir wieder zu unserem Ausgangsort zurück. Gegen Abend ruft Wellington jeden von uns zu einem Vier-Augen-Gespräch ins Krankenrevier. Jeder soll wenigstens zwei Fragen beantworten: Besteht noch eine Chance, und sollen wir weitersuchen?
Ich beantworte beide Fragen mit ja. Auf der Schiffsversammlung, die gleich danach einberufen wird, gibt Wellington das Ergebnis bekannt: Zwei glauben, daß Carola noch am Leben sein könnte, acht wollen am nächsten Tag noch weitersuchen. Acht von jetzt 27 Besatzungsmitgliedern. Nicht einmal ein Drittel.
"Kompromißvorschlag." sagt Wellington, "Wir beginnen mit unserer eigentlichen Arbeit genau hier. Benachbarte Inseln, dieser Teil des Meeres. Geologie, Paläontologie, Meteorologie und Chemie haben genug zu tun. Auf diese Weise halten wir unsere Augen ja auch offen. - Ja, Herr Homberg?"
"Ich glaube im Namen aller zu sprechen, die die Carola - und Colbert und Elderman - näher gekannt haben. Die Insel im Westen sollte 'Carola-Insel' heißen. Die beiden mit der nächstengrößeren Entfernung von hier könnten dann 'Colbert-Insel' und 'Elderman-Insel' heißen." Ich sehe mich um: "Oder hat jemand einen besseren Vorschlag? Als Pioniere in dieser Welt können wir doch Namen geben, oder?"
Es hat keiner einen besseren Vorschlag. Aber es bricht sofort eine Diskussion darüber los, warum eine Insel nach einem Vornamen und die beiden anderen nach Nachnamen benannt werden sollen. Bis schließlich Fahlenbeek das naheliegende ausspricht:
"Was spricht gegen 'Carola-Rau-Insel', 'Sebastian-Colbert-Insel' und 'Peer-Elderman-Insel'?"
Und schon ist die Diskussion zu einem Ende gekommen. Wir erfahren dann noch, daß die Seebestattung von Colbert und Elderman keine neuen Erkenntnisse gebracht hat. Die salzbeschwerten Leichen sind in die Tiefe abgedriftet, bis sie in einigen tausend Metern Tiefe jede unserer Ortungsmöglichkeiten verlassen haben. Kein Raubtier, kein Aasfresser hat sich um sie gekümmert oder ist Ihnen auch nur nahe gekommen.
Danach hat die gesamte Besatzung, bis auf die Wachhabenden, Gelegenheit, sofort die Koje aufzusuchen.
Auf dem Weg in meine Kabine werfe ich einen Blick in Kabine 29 - Carola's Kabine. Es ist wohl nicht die schwache Hoffnung, daß sie irgendwie unbemerkt an Bord gegangen ist und sich seitdessen ausschläft. Aber als ich mein Blick über ihre paar Habseligkeiten schweifen lasse, denke ich, daß es besser gewesen wäre, wenn man sie besser gekannt hätte - da war ja immer eine fühlbare Mauer um ihre allzu privatesten Gedanken. Je besser man sie kennt, denke ich, desto besser könnte man erraten, was sie in ungewöhnlicher Umgebung tut.
Warum soll ich denn glauben, daß sie tot ist? Solange ich ihre Leiche nicht gesehen habe, kann irgend etwas Unerwartetes passiert sein. In der Welthöhle ist alles möglich. Es muß ja nicht gleich ein Vogel Greif sein, der sie während unseres Zwangstauchens gegriffen und verschleppt hat.
Nein, denke ich: Dies soll mein Glaube sein. Sie lebt noch. Es ist irgend etwas Erstaunliches passiert, und sie lebt noch. Ich muß mit Edwin drüber sprechen. Vielleicht hat er das gleiche Gefühl. Diese Kabine werden wir jedenfalls unberührt lassen. Damit sie jederzeit zurückkommen kann. Gleich morgen werde ich Wellington das vorschlagen.
Als ich schließlich in meinem Bett liege, habe ich das Gefühl, ein Problem gelöst zu haben. Dabei ist das gar nicht der Fall.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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