Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


******** ********

72. Tod am Valentinstag

Einen Moment lang bin ich vor Schreck erstarrt. Dann schreie ich: "Carola! Ins Boot! Schnell!"

Ihr Kopf rollt verständnislos hin und her. Schlafzimmeraugen, denke ich. Habe ich bei Carola noch nie gesehen. Aber sie begreift nicht - Sie begreift einfach nicht!

Als ich mich aus ihr zurückziehe, macht sie einen kleinen Laut. Ein Protest. Ein kleines Mädchen, dem man etwas wegnimmt. Und ich greife an die Kollisionschiene und ziehe mich kraftvoll hinauf. Konzentriert bewegen - bloß nicht stolpern!

160 Kubikmeter Luft machen ein ganz schönen Krach, wenn sie so plötzlich aus den Tauchtanks entweichen können. Innerhalb des Bootes hört man von dem Lärm ja nichts, aber hier draußen jagt einem das Tosen ganz schön der Adrenalinspiegel in die Höhe. Das fördert Entschlußfreudigkeit und Mobilität: Bloß die Beine in die Hand nehmen und ins Schiff zurück!

Die offenstehenden Lukendeckel bewegen sich. Klar, der Schiffsrechner wird nicht zulassen, mit offenen Luken zu tauchen. Wie im Traum arbeite ich mich vor, meine Bewegung gegen die des Lukendeckels, ein Wettlauf. Wo bleibt die Carola?

Oben auf dem Boot sehe ich den Schaum und den Gischt an beiden Seiten des Bootes. Das Deck sinkt bereits tiefer. Kein Irrtum möglich. Und die Luke schließt sich immer noch. Mit ein paar Schritten bin ich dort, schmeiße mich durch, ergreife die oberen Sprossen - Die Aussicht, von dem Lukendeckel zerschnitten zu werden, war eine sehr theoretische: Ich hatte noch genug Zeit.

Ich kann noch einen Moment über den Lukenrand gucken. Scharf fährt mir das Gas ins Gesicht, das beim Schließen der Luken automatisch die Dichtungen säubert: Carola ist nicht direkt hinter mir. Ich sehe sie überhaupt nicht! Erst, als der Spalt nur noch 30 Zentimeter weit offen ist, taucht sie über dem Bug auf.

Entsetzen auf ihrem Gesicht. Rechts und links der Gischt, der immer höher auf den Rumpf der CHARMION hinaufleckt. Das Vorderdeck ist schon überspült. Noch 25 Zentimeter Öffnung der Luke. Sie kann es nicht mehr schaffen. Sie sieht mich an und sie weiß es. Warum hat sie nur solange gebraucht?

"Carola, Schwimmen! - Wir tauchen gleich wieder auf!" rufe ich mit überschlagender Stimme. Der Lukendeckel drückt meinen Kopf nach unten. Vor meinen Augen ist nurmehr Stahl in wenigen Zentimetern Entfernung. Die Welt draußen ist von der Welt drinnen abgetrennt.

Ich sehe die Carola nicht mehr.

Nur ein paar Meter sind zwischen uns, immer noch, jetzt, in dieser Sekunde. Und wie unterschiedlich sind unsere weiteren Lebensaussichten geworden!

Wie der Blitz bin ich die Sprossen runter. Irgendwie weiß ich, daß ich nackt bin, aber das interessiert mich nicht. Ich renne runter in die Zentrale:

"Seid ihr verrückt! - Die Carola ist noch draußen!"

Dann erst sehe ich, daß auch den Leuten in der Zentrale der Schrecken im Gesicht steht. Wegen Carola? Nein. Und ich begreife. Gleichzeitig bestätigt Amerlingen es mir:

"Wir wissen. - Sie haben es geschafft? - Wenigstens einer. - Das Boot taucht von selbst!"

"Was?"

"Ja. Sehen Sie da!"

Ich sehe auf die Bildschirme. Auf allen Bildschirmen die gleiche Mitteilungsbox:


        SUPERVISOR CRASH PRIORITY MESSAGE:

        SUPERVISOR CONTROLLED MANEUVER

        ATTENTION!

        MANUAL BOAT MANEUVER CONTROL IS

        BEING DISABLED FOR 120 MINUTES.

        MAINTENANCE ACTIVITIES IN PROGRESS.

Das hatten wir doch schon, denke ich. In der Jungfrauen-Spalte. Wir haben es damals nicht rausgekriegt. Und jetzt probiert der große Unbekannte schon wieder dasselbe Spiel. Weil's so einfach ging.

Und unsere beste Waffe dagegen, die, die eine Chance gehabt hätte, den großen Unbekannten zu überführen, unsere beste Informatikerin, ist noch draußen! Scheiße!

"Gehen Sie nach vorne und sichern Sie sich!" ruft Amerlingen, "Wie wissen nicht, ob das Boot auf ebenem Kiel bleibt!"

Ich renne zuerst rüber in meine Kabine. Innerhalb von Sekunden werden wir das Problem nicht lösen, also kann es nicht schaden, wenn ich mir wieder etwas anziehe. Schon eine Minute bin ich wieder im vorderen Oberdeck - ohne Probleme, denn das Boot bleibt tatsächlich auf ebenem Kiel. Wenigstens etwas.

Hektik unter meinen Mitarbeitern. Auch Angst. Ich sehe die Außenaufnahmen. Eine, direkt nach oben, zeigt die Silhouette einer nackten Schwimmerin. Carola. Leben tut sie noch. Aber wie lange? Ich sehe das Bild wie gebannt an, sehe die Wolken von Blasen, die jetzt noch vom Boot nach oben steigen. Sie muß sich in einem Tümpel von kochendem Gischt befinden, aber so langsam, wie das Boot sinkt, dürfte sie wenigstens keine Probleme mit Wirbeln haben. Aber Angst wird sie haben, denke ich, wenn sie erst ihre Situation begreift. - Im Moment macht sie wenigstens noch koordinierte Schwimmbewegungen.

Edwin hackt auf seiner Konsole herum, aber man sieht ihm die Frustration an: "Es ist nicht zu schaffen!" sagt er, "Die Bootsteuerung ist wieder völlig abgekoppelt!"

"Wir müssen es schnell schaffen!" sage ich, "Sie kann vielleicht stundenlang schwimmen, aber nur, wenn das Wasser kühler wäre!"

Erst gute zwei Minuten seit Unterschneiden der Einstiegsluken. Das Boot sinkt mit 15 Zentimetern pro Sekunde und scheint diese Geschwindigkeit beizubehalten. Gerade 20 Meter Tiefe haben wir jetzt. Das Manöver ist nicht geeignet, um schnell Tiefe zu gewinnen, denn dann würde man die vorderen Tauchtanks zuerst entlüften, um das Boot mit dem Bug nach unten zu neigen, und dann erst, wenn man mit Maschinenunterstützung anfängt, Fahrt aufzunehmen, werden die hinteren äußeren Tauchtanks restlos entlüftet.

"Macht das Boot irgendwelche Manöver von sich aus?"

"Nein." sagt Edwin nur.

"Jedenfalls weniger als ihr draußen!" sagt Cohäuszchen, "Warum hast du sie nicht mit reingenommen?"

"Sie hat nicht gleich begriffen, was los war! - Und ich habe nicht gleich begriffen, daß sie nicht gleich begriffen hat."

"Kann man ja verstehen. Ihr wart ja sehr beschäftigt."

"Wieso? Was weißt ..."

"Ihr wart direkt vor einer unserer Außenkameras!"

"Tja, Herwig." sagt nun auch Solzbach, "Wir haben alle zugesehen. Erst hast du sie gefickt, und dann bist du wie ein Wiesel aus dem Wasser raus und hast dich nicht mehr um sie gekümmert! - Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?"

"Verdammt noch mal, ich habe nicht ..."

"Streitet euch später!" sagt Edwin, "Wir müssen sehen, was wir machen. - Zwei Stunden hält die nicht durch. Herwig, tu auch mal was!"

Ich setze mich auf meinen Platz und melde mich am Schiffsrechner an. Jetzt erst nehme ich wahr, daß Natalie neben mir sitzt. Ich sehe sie mit keinem Blick an. Sie mich vielleicht auch nicht, aber das kann ich so ja nicht wissen.

5 Minuten nach Untertauchen, 50 Meter Tiefe. Wir können Carola immer noch sehen. Vielleicht sie sogar uns, als etwas Undeutliches in der Tiefe unter sich. Was wird sie denken? Daß wir sie absichtlich ausgesetzt haben, das kann sie ja wohl nicht denken. Sie wird wissen, daß irgendetwas schiefgegangen ist, und daß wir versuchen, es zu beheben. Also wird sie warten und um ihr Leben schwimmen.

"Die Sinkgeschwindigkeit wird größer." sagt Gerald, "wir hatten wohl etwas Untertrieb, ohne die äußeren Tauchzellen. - Sieht nicht so aus, als ob die in der Zentrale das Boot wieder in ihre Gewalt kriegen."

"Vielleicht schafft sie es ja doch!" murmelt Solzbach, "einfach treiben lassen - sowenig Schwimmbewegungen wie möglich."

Und dann sagt er noch völlig überflüssiger Weise: "Für den Homberg müssen wir uns irgend etwas einfallen lassen. Der ist zu gefährlich für unsere weiblichen Besatzungsmitglieder."

"Halt die Schnauze." sage ich.

"Nana." Cohäuszchen ist sauer: "Diesen Ton wollen wir hier doch nicht einreißen lassen!"

"Wenn hier der Eindruck propagiert wird, daß ich Carola absichtlich ..."

"Das sagt ja niemand!"

Einen Moment überlege ich. Das, was ich sagen wollte, läuft auf die dümmste Ausrede hinaus, auf das notorisch bekannte 'Das habe ich nicht gewollt'. Wenn man trotzdem ein Unglück zustande gebracht hat, ist das überhaupt keine Entschuldigung. Aber habe ich dieses Unglück denn zustande gebracht? Was habe ich falsch gemacht? Ich habe eine Wut im Bauch:

"Wenn ich rauskriege, wer dieser große Unbekannte ist, den ..."

Das Interkom meldet sich. Gerald geht ran. "Oh Gott." sagt er, während er mit der Zentrale spricht, und "Ich versuche es."

"Was ist?" fragt Cohäuszchen.

"Seht mal auf die Fernortung! Die Haie sind wieder da. Und sie kommen näher!"

Wir können uns rasch informieren, daß er recht hat. 2500 Meter nördlich von uns. Wenn sie ihre maximale Geschwindigkeit einschlagen würden, dann wären sie in zwei bis drei Minuten hier. Oder besser: Über uns. Wo Carola um ihr Leben schwimmt.

"Wellington hat gesagt, ich soll sie mit einem seismischen Torpedo stoppen, wenn sie zu nahe kommen."

"Geht das noch?" frage ich.

"Die seismischen Torpedos ausschleusen, das ist eines der wenigen Dinge, die noch gehen. Treffen ist eine andere Sache."

"Die dürfen nicht in zu großer Nähe zu Carola explodieren - das zerreißt ihr die Lunge!"

"Weiß ich doch. - ich denke, je früher, desto besser - dann sind sie noch weiter weg. Wenn es einen ihrer Artgenossen zerreißt, dann sind sie erst einmal mit dem beschäftigt."

"Gute Idee," sage ich, "Haie kennen da keine Pietät." - Wenn sie sich tatsächlich wie Haie verhalten, denke ich.

10 Minuten nach Tauchen. 100 Meter Tiefe. Das Boot liegt ruhig wie ein Brett, und das Ganze könnte durchaus ein ganz normales, beabsichtigtes Manöver sein. Ist es aber nicht, und das Gefühl, das der große Unbekannte sich jede Sekunde etwas Neues ausdenken kann, zehrt an den Nerven. - Wir haben uns nicht genug angestrengt, denke ich - wir hätten ihn schon längst zur Strecke bringen können - und müssen. Aber wir haben uns nicht genug angestrengt.

Und dann sehe ich plötzlich Carola vor mir, wie sie vor 15 Jahren zu uns gekommen ist - eine schlanke Maid, frisch von der Uni weg, noch reserviert und höflich gegen jedermann. Ich habe ihr die ersten Innereien des Ada-Compilers erläutert. An welche Zukunft hat sie wohl gedacht? Jedenfalls nicht daran, 15 Jahre später in einem heißen, unterirdischen Meer von prähistorischen Haien zerrissen zu werden.

"Okay." sagt Gerald, "Ich bin fertig. Ich kann." Er nimmt wieder Verbindung mit der Zentrale auf.

"Feuerbereitschaft, Feuerverbot?" frage ich, als er mit seinem Gespräch mit der Zentrale fertig ist. Diese Redewendung ist mir irgendwie von der Bundeswehr her noch in Erinnerung.

"Feuerbereitschaft, Feuererlaubnis, Feuer frei." sagt er, "Wir sollen keine Zeit verlieren." Er hat das Kontrollprogramm für die seismischen Torpedos schon aufgerufen.

"Worauf wartest du?" frage ich.

"Na, es wäre schon empfehlenswert, wenn tatsächlich ein Torpedo im Rohr drin ist. Aldingborg bringt gerade eins hin."

"Ach so."

Wir warten einige Minuten. Es trifft keine Bereitmeldung ein. Als die Zentrale sich meldet, werde ich gewünscht: "Herr Homberg, bitte sofort ins hintere Unterdeck! Bitte gleich, ja?" Wellington's Stimme klingt dringend.

Eine Minute später bin ich in dem Raum unter der Zentrale. Aldingborg und Amerlingen erwarten mich. Zwischen ihnen liegt am Boden der Torpedo.

"Sehen Sie sich das Ding mal genau an, Herr Homberg." sagt Amerlingen.

"Was ist damit?" frage ich, "Ich habe mir noch nie eines aus der Nähe angesehen. Wenn mit diesem Torpedo etwas ist, dann können wir doch ein anderes nehmen, oder?"

Ich knie mich hin. Die meisten technischen Details sagen mir wenig. Dieser 8 Zentimeter durchmessende und 1.20 Meter lange, zylindrische Körper mag sich von seinesgleichen unterscheiden - aber ich kann es nicht herausfinden.

"Ich habe einen anderen Schrank aufgemacht - wegen der Balance." sagt David Aldingborg, "dann habe ich aber gemerkt, das die Torpedos in diesem Schrank etwas anders aussahen als die, die wir bisher verwendet haben."

Vorne, an dem sich stumpf verjüngenden Kopf des Zylinders sehe ich viele eingeprägte Schriften. Eine davon springt mir plötzlich ins Auge:


        NUCLEAR WARHEAD

        HANDLE WITH CARE

"Nein." sage ich entgeistert.

"Doch." sagt Amerlingen.

"Das ist doch verrückt!"

"Sie sehen es doch!"

"Das heißt - heißt das - wir haben ATOMWAFFEN an Bord?"

"Jedenfalls steht's drauf. Homberg, Sie haben sich doch auch mal mit Reaktorphysik beschäftigt, ja? - Können wir das verifizieren, was das für Sprengkörper sind? - Ob nuklear oder nicht?"

"Ich verstehe nicht mehr darüber als jeder andere Physiker an Bord. Wellington ist doch auch Physiker, oder?" Ich überlege mir, ob ich damit herausrücken sollte, daß vielleicht Priest auch etwas davon versteht, entscheide mich aber zunächst dagegen.

"Ja. Aber er hat sich jahrelang mit anderen Dingen beschäftigt - jedenfalls nicht mit Reaktorphysik."

"Ich auch nicht."

"Was würden Sie denn tun, um es herauszufinden?"

"Ob da wirklich eine Atombombe drin ist?" sage ich, "Ich würde ..."

"Wo bleibt ihr denn" fragt Edwin, der plötzlich in der Tür steht, "Die Haie kommen näher! - Was ist mit 'Atombombe'?"

"Ich fürchte, jetzt können wir's kaum noch geheimhalten." sagt Amerlingen.

"Was geheimhalten? - Wir müssen der Carola helfen!"

"Okay. Ich weiß nicht, ob es sinnvoll ist, 'Atombombe' auf etwas draufzuschreiben, das keine Atombombe ist. Diesen Torpedo werden wir jedenfalls nicht nehmen. David, was spricht dagegen, ein ganz normales seismisches Torpedo zu holen und dieses zurückzubringen?"

"Nichts." sagt Aldingborg, "Ich habe gesagt, ich habe ihn nur wegen den Balance ausgewählt."

"Dann tun Sie's! Es eilt. - Unsere Kollegin ..."

Edwin und ich hasten wieder über den zentralen Niedergang zum vorderen Oberdeck hinauf. "Was soll das gewesen sein? Eine Atombombe?" fragt Edwin mich.

"Frag mich was Leichtes."

"Aber die sind doch viel größer?"

"Nein. Nicht unbedingt. - Wir kümmern uns später darum!"

Gerald ist sauer: "Was dauert das so lange? - Je tiefer wir kommen, desto schwieriger wird es!"

"Du bekommst dein Torpedo." sage ich, "Es dauert noch. Da war eines schlecht geworden."

"Was?"

Ich bin im Moment mundfaul und verschiebe die Erklärung auf später. Geheimhalten kann man es sowieso nicht mehr.

Was wird eigentlich noch alles passieren? Eine verbrecherische Direktive an ein bislang unbekanntes Besatzungsmitglied, ein ebenfalls unbekanntes Besatzungsmitglied, das sich nach Kräften bemüht, uns alle umzubringen, bis jetzt zwei Tote, wenn wir uns in den nächsten Stunden nicht sehr anstrengen, werden es drei sein, und jetzt stellt sich auch noch heraus, daß wir vielleicht Atomwaffen an Bord haben. Ich denke, die CHARMION ist auf zivile Zwecke umgerüstet worden? Was ist das bloß für eine Schlamperei? - Es gibt viele Dinge, die man 'verlegen' oder 'vergessen' kann, aber Atombomben gehören meinem Dafürhalten nach nicht dazu.

Andererseits - damals, als die Sowjetunion aufhörte, zu existieren, sind ihre Waffen, einschließlich der nuklearen, einige Jahre später auch in den unerwartesten Winkeln der Welt aufgetaucht. Wenn die ganze Infrastruktur, die diese Waffen aufbewahrt und in Bereitschaft gehalten hat, zusammenbricht, dann finden sich für so etwas Interessenten. Und dann sind die Bomben eben plötzlich weg. Aber daß so etwas bei uns passieren sollte, in der EG? Daß, im Rahmen der politischen Umorganisationen der letzten Jahre, nicht mehr der Verbleib aller Waffen verfolgt werden konnte? - Außerdem haben diese Bomben einen neuen Eindruck gemacht - soweit man das von diesen Dingern äußerlich sagen kann. So neu, als seien sie erst nach dem kalten Krieg hergestellt worden. Frisch produziert, und dann hier an Bord 'vergessen'? Ich kann es nicht glauben.

"Temperatur fällt." sagt Gerald.

"Ist doch nicht schlimm!" sagt Edwin.

"Vielleicht doch." sage ich, "Wir könnten die Haie eventuell nicht mehr akustisch orten, wenn dazwischen Schichten mit unterschiedlicher Temperatur sind."

"Dann nehmen wir eben Radar! Ich denke, wir haben mehrere Ortungsverfahren?"

"Im Prinzip ja," sage ich, "aber man möchte natürlich mehrere Verfahren gleichzeitig einsetzen - wegen der Redundanz. - Schwimmt die Carola noch?"

Wir sind inzwischen 400 Meter tief, und ein direkter Sichtkontakt nach oben ist nicht mehr möglich. Aber ziemlich genau über dem Boot an der Wasseroberfläche ist noch etwas, was sich bewegt. Es ist also noch Hoffnung.

"Jetzt habe ich eins." sagt Gerald.

"Was?"

"Ein Torpedo im Bilgenrohr. Also - stört mich nicht!"

Wir stören ihn nicht. Aber jemand anderes tut es. Eine neue Dialogbox taucht auf allen Bildschirmen auf:


        SUPERVISOR CRASH PRIORITY MESSAGE:

        APPLICATION OVERWRITING SYSTEM KERNEL

        RESTART PRO-UNIX (Y/N) ?

"Um Gottes willen!" sage ich, "Bloß jetzt kein Systemabsturz!"

"Er läßt uns noch die Wahl, ob wir das System weiterfahren oder nicht!" sagt Edwin, "Was sollen wir tun?"

"Das weißt du ganz genau. Wenn wir das System ganz neu hochfahren, dauert das so lange, daß die Carola bis dahin auf jeden Fall ertrunken ist. Wenn es uns überhaupt gelingt - bei sowas sollte nämlich gerade die Carola dabei sein! - Außerdem müssen wir auch an den ungestörten Reaktorbetrieb denken - den brauchen wir genauso dringend."

"Und wenn wir es nicht neu starten, und es stürzt ab?"

"Sind wir nicht schlechter dran als wenn wir es gleich neu einspielen. Es gibt nur die beiden Möglichkeiten: Wir müssen im laufenden Betrieb den Kernel neu einspielen oder diese Warnung ignorieren!"

"Du bist wahnsinnig!" sagt Edwin.

"Weißt du was besseres?"

"Kann ich jetzt das Torpedo losschicken?" fragt Gerald.

"Hast du noch nicht?" frage ich zurück.

"Nein."

"Dann tust du es auch nicht!"

"Herwig, willst du Carola umbringen?" Edwin schreit mich fast an.

"Will ich das? Hast du's nicht gesehen? Eine Application will oder hat den Kernel überschrieben! Da steht es, auf jedem Bildschirm. Weißt du, um welche Application es sich da handelt? - Siehst du. Ich auch nicht. Kann sein, daß das Boot tot ist, wenn er sein Torpedo losschickt. Es dauert Stunden, bis wir wieder flott sind, bestenfalls, oder sogar Tage. Oder wir schaffen es überhaupt nicht."

"Es ist doch nicht sicher! Es gibt doch Speicherschutzmechanismen! Normalerweise kann eine Anwendung gar nicht ..."

"In dem Moment, wo Gerald sein Steuerprogramm für die seismischen Torpedos aufgerufen hat, in genau dem Moment hat es diese Warnung gegeben!"

"Früher hat das Programm doch auch funktioniert!"

"Funktioniert in diesem System etwa noch etwas deterministisch? Edwin! Wir können Carola nicht helfen, wenn wir selbst drauf gehen! Denk doch daran: wenn wir die weniger als zwei Stunden durchhalten, dann haben wir die Bootskontrolle wieder! Dann können wir auftauchen und sie an Bord nehmen! Das können wir schaffen! - Und das könnte sie schaffen!"

"Hast du die Haie vergessen?"

"Die habe ich nicht vergessen."

"Und die Hitze?"

"Die schon gar nicht. Ist für sie vielleicht sogar ein größeres Problem als die Haie - vielleicht mögen die Carola nicht."

"Und wenn sie das erst feststellen, nachdem sie ein Stück von ihr abgebissen haben?"

"Tiere fressen nicht wahllos alles, was ihnen vor die Schnauze kommt!" Blödsinn, was ich da sage, denke ich - gerade noch ist uns erläutert worden, wie wahllos Haie zuzuschnappen pflegen. Aber das ist nicht unser Problem. Im Moment ist der Rechner unser Problem. Und denn möchte ich in konsistentem Zustand haben: "Außerdem: Die Box da sagt, daß der Kernel nicht vielleicht überschrieben wird, sondern daß er wirklich jetzt schon überschrieben worden ist!"

"Das sehe ich! Aber erstens ist das eine Speicherverletzung, und die kann noch abgefangen worden sein, wie ich eben schon gesagt habe ..."

"Steht da aber nicht!"

"... Und zweitens kann ein Teil des Kernels, der im Moment nicht gebraucht wird, beschädigt worden sein. - Du siehst doch: Im Moment läuft noch alles!"

Irgendwie ist unsere ganze Diskussion komisch, fällt mir auf: Teilweise argumentieren wir damit, daß der Rechner nicht mehr richtig funktioniert oder nicht mehr richtig funktionieren könnte, teilweise damit, daß er es doch noch tut. Es muß andere, vielleicht tiefenpsychologische Gründe haben, daß ich den Kernel neu einspielen will und Edwin sich lieber darauf verlassen möchte, daß er noch unbeschädigt ist, weil es ja so extrem unwahrscheinlich ist, daß tatsächlich eine Anwendung im Kernel herumschreibt.

Ich probiere noch ein Argument, das mir jetzt erst einfällt: "Und dann noch etwas, Edwin!"

"Was?"

"Wenn du den Kernel neu einspielst, dann kann diese Blockade des Steuerprogrammes wegfallen."

"Warum sollte sie das?"

"So ein Gefühl von mir. Unser großer Unbekannter arbeitet ziemlich systemnah. Ziemlich maschinennah. So könnten wir ihm eventuell ein Schnippchen schlagen! - Jedenfalls ist es einen Versuch wert."

"Du verlangst viel von mir! Ich weiß nicht, wie ich das machen soll."

"Ich habe es irgendwo in der Dokumentation gesehen, Edwin: Es gibt eine Option, im laufenden Betrieb die Integrität des geladenen Codes des Kernels zu überprüfen. Und aller anderen Programme. Das müssen wir bloß finden, und dann müssen wir es tun. Edwin! Integrität prüfen und den Kernel eventuell neu einspielen. Oder auch nicht einspielen, wenn er noch unbeschädigt ist. Versteh doch: Ich will sie doch auch retten! Wir müssen es tun, und zwar schnell. Anstatt hier rumzudiskutieren!"

"Also soll ich nicht?" fragt Gerald dazwischen.

"Nein." sage ich entschieden, "Du sollst nicht."

"Aber die Haie kommen jetzt schnell näher!"

"Gleich kannst du Wellington noch einmal erläutern, was du vorhast." sagt Edwin, "Der fragt bestimmt, wo das Torpedo bleibt. Ich wundere mich, warum er nicht schon längst ..."

"Ich kann gar kein Torpedo mehr abschicken. Selbst, wenn ich wollte." sagt Gerald plötzlich.

"Warum?" frage ich. Aus dem Augenwinkeln habe ich gesehen, wie auf seinem Bildschirm spontan mehrere Fenster verschwunden sind.

"Die Außenortung ist abgestürzt. Wir sehen nichts mehr. Radar, Echolot - alles weg. Das war also die Applikation, die vielleicht im Kernel herumgeschrieben hat. Das Torpedosteuerprogramm war in Ordnung."

"Scheiße." sage ich.

Eine peinliche Pause von ein paar Sekunden Länge entsteht. Dann sagt Edwin: "Herwig. Wenn wir nicht soviel geredet hätten, dann hätte Gerald die Haie inzwischen gestoppt. Jetzt können wir nicht einmal mehr das."

Ich wende mich an Gerald: "Wirklich alles weg? Keine Ortungen mehr?"

"Nein." sagt Gerald, "Keine. Keine Haie. Und keine Carola."

Und nach ein paar Sekunden: "Wann fangt ihr endlich mit eurer Systemkonfigurierung an?"


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


Zurück zu meiner Hauptseite