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68. Gruppenunterricht
Wenn ich gedacht habe, ich kann mich einen ganzen Tag lang ungestört dem Nichtstun hingeben, dann habe ich mich getäuscht. Um 16:40 Uhr werde ich in die Zentrale gerufen. Günther Cohausz hat vor kurzem seine Wache angetreten, und ich nehme an, daß er irgendetwas über Unstimmigkeiten innerhalb der Besatzung weitergegeben hat. Wellington will uns wohl beschäftigen:
"Herr Homberg, da wir im Zielgebiet angekommen sind, wider manche Erwartungen, müssen wir weitere Vorbereitungen treffen, die vorher nicht so dringend waren."
"Ja?" frage ich.
"Sie haben in München doch schon Unterricht in Xonchen gehalten, ja?"
"Ja. Ich und meine Frau."
"Gut. Es könnte sein, daß das bald akut wird. Wir richten Wiederauffrischungskurse ein. Zum Einen."
"Und zum Anderen?"
"Das nautische Personal erhielt keinen Unterricht. Es wurde nicht für nötig befunden. Ich denke, daß diese Entscheidung nicht richtig war, aber, andererseits, die beiden einzigen Lehrer für Xonchen waren ja in München. Es ging also gar nicht anders. Wir müssen damit rechnen, daß wir alle diese Sprache können müssen. Ich möchte, daß Sie, beginnend mit morgen, Kurse in Xonchen machen. Geht das?"
"Ja, natürlich."
"Können Anfänger und Fortgeschrittene zusammen unterrichtet werden?"
"Bei einer Sprache schon."
"Gut. Ab morgen also. Von 9 bis 12 und von 14 bis 16 Uhr. Bis auf Widerruf. Nehmen Sie die Kantine. - Sie können ja Rollenspiele machen, damit niemand einschläft. Oder irgend so etwas."
"Es wird ein bißchen eng in der Kantine." wende ich ein.
"Nicht sehr. Ein paar haben ja immer etwas anderes zu tun. Machen Sie's bitte bekannt."
Damit ist das Thema abgehakt. Und ich habe die Möglichkeit, mich mit dieser neuen Information beim Abendessen unbeliebt zu machen.
Der nächste Tag verläuft genauso, wie ich es unter diesen Umständen vorhergesehen habe: Langweilig, und für mich stressig. Streß, weil ich gleichzeitig mit sehr unterschiedlichem Kenntnistand bei meinen Schülern umzugehen habe. Und natürlich, auch Natalie und Carola sitzen im Auditorium. Ich nehme sie nie dran, bei keiner Frage. Lediglich bei den Rollenspielen müssen sie involviert werden.
Häufig schweift mein Blick zum SISC und zu den Bildschirmen, die Außenansichten zeigen. Die Außentemperaturen sind inzwischen weit abgesunken: Wasser 41 Grad und Luft 39 Grad. Wenn sie noch ein bißchen weiter sinken, dann wird der Aufenthalt außerhalb des Bootes für Menschen immerhin möglich, wenn auch alles andere als angenehm.
Die Theorie jedoch, daß es die vorübergehend hohen Außentemperaturen sind, die die Tierwelt fernhalten, hat sich nicht bestätigt. Die Haiherde ist nun doch weitergezogen und befindet sich nicht mehr in der Reichweite unserer Ortungsmethoden, und andere interessante Tiere sind nicht in unsere Nähe gekommen. Die Fernortung jedoch zeigt immer noch und ständig Bewegungen in Landnähe.
Sprachunterricht ist praktisch niemals die große intellektuelle Herausforderung. Das habe ich schon in früher Jugend so empfunden. Eine Sprache muß man gebrauchen, dann lernt sie sich fast von selbst. Deshalb sind die Gespräche und die Rollenspiele eigentlich noch das sinnvollste, was wir uns jetzt zusammenimprovosieren können. Trotzdem finden immer mehr Mitglieder der Besatzung einen Grund, ganz dringend irgend etwas anderes tun zu müssen.
Doktor Morton ist zum Beispiel überhaupt nicht anwesend. Sie fährt mit ihren Reihenuntersuchungen fort. Dabei kommt eigentlich immer nur einer zur Zeit dran - nach dem Abwesenheitsmuster sind es aber immer zwei bis drei gleichzeitig.
Das hätten wir uns in unserer Schulzeit mal leisten sollen!
Am Abend dieses 12. Februar taucht Wellington auf, so, als wolle er während des Unterrichtes hospitieren - wie man die Tätigkeit nennt, mit der Schulräte junge, in der Ausbildung befindliche Lehrer zu ärgern pflegen. Das ist aber nicht sein Anliegen. Als ich den Unterricht für den heutigen Tag beschließe, verkündet er einen neuen Wachplanalgorithmus, der der Tatsache möglicher Behinderungen und Ausfälle Rechnung tragen soll.
Es ist ganz einfach, sagt er. Wie bisher ist er selber und die beiden Offiziere sowie die Ärztin vom Wachdienst ausgenommen. Er wird sich, auch wie bisher, mit seinen beiden Offizieren die Mittelwache von 8 bis 16 Uhr teilen. Da ändert sich also gar nichts.
Beginnend mit übermorgen, dem 14. Februar, dem Tag, an dem wir vermutlich die Luken öffnen werden, weil der Druckangleich beendet ist, werden die Hundswache und die Abendwache aber anders verteilt. Es geht nach Kabinennummern. Die werden einfach durchgezählt, Besatzungsmitglieder, die von der Wache ausgenommen sind und leere Kabinen werden dabei übersprungen. Die nächsten zwei Kabinennummern übernehmen jeweils die Hundswache und die Abendwache. Wenn einer verhindert ist, verschiebt sich das Ganze. So einfach und übersichtlich ist das.
Wegen der unvorhersehbaren Ausfälle wird es nicht so sein, daß man immer nur die Hundswache oder die Abendwache bekommt. Das wird dann einfach statistisch variieren. Also, sagt er, am 14 Febuar sind Kabinennummer 4 und 5 dran - 1 bis 3 ist er selber mit seinen beiden Offizieren. Die Hundswache hat Garner, die Abendwache Chapman. Am 15. Februar hat Palmer die Hundswache und Grail die Abendwache.
"Irgendwelche Fragen?" will er dann wissen, "Hat jemand etwas nicht verstanden?"
Als das nicht der Fall ist, fährt er fort: "Dann möchte ich auch, daß nicht mehr, wie bisher, Wachen getauscht werden, ohne daß ich oder meine beiden Offiziere davon etwas erfahren. Diese heimliche Tauscherei mag ich nicht. In Zukunft lassen Sie sich das bitte bei einem von uns genehmigen. Okay?"
Wellington verläßt die Kantine, und alle wissen, wer gemeint war. Bürokrat, denke ich, sage aber nichts.
Auch an diesem Abend rede ich nicht mit Natalie. Am nächsten Tag bekomme ich sie überhaupt nicht zu sehen, weil sie dem Unterricht fernbleibt. Da ist sie allerdings nicht die Einzige. Als am Abend nur noch Edwin, Cohäuszchen, Gabi, Solzbach und Palmer in der Kantine sitzen, gebe ich auf:
"Wozu mache ich das eigentlich? Wenn ich das hochrechne, rede ich schon morgen mittag vor leerem Haus."
"Du machst das, weil Wellington es dir gesagt hat!" klärt Cohäuszchen mich auf.
"Danke für den Hinweis! Die Anweisung ging an alle. Die Mehrheit hat bereits die Mitarbeit verweigert. - So können wir uns ebensogut Witze erzählen."
"Machen wir doch sowieso, die meiste Zeit?" fragt Edwin, "Aber für heute ist Schluß, ja?"
"Für morgen auch. Ich glaube, nach Dienstbeginn machen wir die Luken auf. Wir haben ja schon fast den Enddruck."
Edwin deutet auf die Bildschirme: "Hoffentlich lichtet sich der Nebel bis dahin wieder. Man sieht ja rein gar nichts!"
"Du wirst keine Muße haben, die Aussicht zu bewundern. Dein erster Gedanke wird sein: Bloß wieder rein ins Boot! - Wetten?"
"Einen Blick werde ich aber schon in die Runde werfen wollen."
"Sehr viel mehr als auf diesen Bildschirmen wirst du nicht sehen. Von der Insel da, im Westen, sind wir noch 3600 Meter entfernt - zu weit für Einzelheiten."
"Woher weißt du eigentlich, daß das Westen ist?" fragt Ulrich Solzbach.
"Steht doch auf dem SISC!"
"Nein, ich meine, wenn man draußen ist, im Freien. Woran erkennt man die Himmelsrichtungen?"
"Gar nicht. Damals hatten wir einen Kompaß mit, und solange ich den nicht zur Verfügung hatte, habe ich das mehr oder weniger geschätzt. Oder schätzend fortgerechnet - wie du das auch immer nennen willst. Das kann natürlich beliebig falsch werden, im Laufe der Zeit."
"Ach so."
"Tja. So ist das. Die Navigatorinnen der Granitbeißerinnen brauchen ein gutes Ortsgedächtnis. Je mehr sie rumkommen im Laufe des Lebens, desto besser wird ihre Navigation. Aber ihr geistiges Abbild der Gegenden, die sie kennen, hat vermutlich mit einem geometrischen Bild sehr wenig zu tun - wie das ja meistens bei geistigen Abbildern der Fall ist. - Himmelsrichtung ist bei den Völkern der Welthöhle kein nützliches Konzept."
"Also, wenn du auf einer Insel bist, baust du ein Urteil - oder ein Vorurteil - auf, und in diesem Koordinatensystem bewegt man sich orientierungsmäßig dann, ja?"
"Ja. Aber hier an Bord haben wir ja bessere Navigationsmittel. Deshalb können wir Himmelsrichtungen benutzen."
Als ein längeres Schweigen einsetzt, sage ich: "Jedenfalls ist Navigation in der Welthöhle einfacher als Navigation in der Seele einer Frau!"
Dünner Scherz, aber er erfüllt sein Zweck als Navigation in Sachen Gesprächsthema.
"Ich kann das nicht glauben, daß du und Carola ..." fängt Edwin an.
"Brauchst du auch nicht. Wir haben nicht. Sie hat sich auf eine ungewöhnliche Weise in etwas eingemischt, das sie nichts angeht."
"Und warum hat sie das?"
"Ich weiß nicht. Sie ist schon die ganze letzte Zeit so komisch. Meine persönliche Theorie ist, daß sie irgendwelche Schwierigkeiten hat, hier an Bord. Ich weiß nicht, welche. Sie kann nichts dagegen, und so hat sie einen Stellvertreterkrieg angefangen. Da kam ich gerade recht."
"Oder sie hat sich grundsätzlich gegen die Abtreibung an sich äußern wollen!" schlägt Palmer vor.
"Grundsätzlich? Wo wir aktuelle Fälle haben? Glaube ich nicht. - Und ich glaube es auch nicht, daß Carola sich grundsätzlich gegen die Abtreibung aussprechen würde. Ich kenne sie doch schon länger. Oder, was meinst du, Edwin?"
"Wie Carola zur Abtreibung steht?"
"Ja."
"Sie würde auf jeden Fall alle Entscheidungen selbst treffen wollen. Ob für oder gegen Abtreibung, das weiß ich nicht. Aber gegen jeden, der ihr Vorschriften machen will. Komisch ist nur, daß sie sich bei euch so einmischt."
"Mmh." sage ich, "Von mir bekommt sie zwar keins, aber vielleicht, daß jemand anders? - Weiß jemand etwas?"
Wir stellen schnell fest, daß die Gerüchteküche an Bord keinerlei Kenntnis davon genommen hat. Carola hat keine Herrenbekanntschaften. Nicht hier.
"Also genuine Streitlust. - Naja, Frauen ..." sage ich. Hätte ich ihr aber auch nicht zugetraut."
"Könnte Frau Yay sie um Hilfe gebeten haben?" fragt der Pater.
"Vielleicht. Aber ich glaube, daß Natalie sich selbst noch gar nicht schlüssig ist. Ich weiß es nicht. Ich erfahre ja nichts."
"Ihr habt ja eine tolle Kommunikation miteinander!" sagt Cohäuszchen.
"Wenn sie doch mit mir nicht reden will!"
"Woher weißt du das?"
"Das ist das einzige, was sie mir deutlich genug zu verstehen gegeben hat!"
"Also reden wir hier um des Kaisers Bart!"
"So ist es."
"Kann denn hier an Bord eine Abtreibung durchgeführt werden?" fragt der Pater.
"Na, Sie sind gut!" sage ich, "Das ist doch noch einfacher als eine Appendektomie! Geht sogar medikamentös. Und die andere Frage, die Sie sicher auch gleich stellen - ein Baby kann auch großgezogen werden. Medizinisch sind wir bestens ausgerüstet. Abtreibung oder Entbindung, Kinderkrankheiten, alles. Von da gibt's keine Probleme."
"Aha."
"Und taufen können Sie sicher auch ambulant, wenn Frau Yay das will!" sage ich zum Pater.
"Da ist sicher der Vater dagegen!" sagt Cohäuszchen.
"Hat sich das noch nicht rumgesprochen, daß nicht nur ich in Frage komme?"
"Naja, das wird sich rausstellen. Aber du bist doch gegen das Taufen?"
"Allerdings. Und ob ein Evolutionär soviel mit einer Religion am Hut hat, muß sich auch noch herausstellen!"
"Man kann doch taufen und das Kind später, wenn es größer ist, selber über seine Religionszugehörigkeit entscheiden lassen!" schlägt der Pater vor.
"Bitte die Reihenfolge beachten! Erst die Entscheidung! Keine Vorwegnahme irgendwelcher Rituale! Genauso gut könnte man es präventiv in die islamische Religionsgemeinschaft aufnehmen - ich weiß nicht, haben die eine Taufe?"
Es stellt sich heraus, daß niemand das weiß. Nun ist die Abwesenheit von Faktenkenntnis einer hitzigen Diskussion nie abträglich, und wir würden noch weiter darüber reden, wenn sich die Kantine nicht allmählich wieder füllen würde. Zeit zum Abendessen.
Trotzdem spüre ich, daß da irgendwie noch weitere hitzige Diskussionen folgen werden - insbesondere, da die Hauptbeteiligte ja noch gar nicht mitgemacht hat.
Beim Abendessen setze ich mich mit Palmer zusammen, weil ich ihn noch einiges über diese Nachfolgebehörde der heiligen Inquisition, deren Mitglied er ist, fragen will. Dazu kommt es nicht. Carola setzt sich zu uns.
"Also, es war dumm von mir." sagt sie.
"Du hast sicher recht," sage ich versöhnlich, "aber was meinst du jetzt genau?"
"Zu behaupten, implizit zu behaupten, ich wäre auch schwanger. Ich glaube, das glaubt niemand."
"Da hast du in der Tat auch recht. - Aber warum hast du's dann gemacht?"
"Mir tut die Natalie leid. Ich habe ein paar Worte mit ihr gewechselt, vorhin. Mit allem möglichen hat sie gerechnet. Nur damit nicht."
"Du sagst das in einem vorwurfsvollen Ton!"
"Tu ich nicht, aber du darfst es gerne so auffassen!"
"Fühlt sie sich denn unwohl?" fragt der Pater.
"Körperlich nicht. Es ist wohl mehr eine Krise der Lebensplanung." behauptet Carola. Ich könnte jetzt sagen, daß ich vor einiger Zeit noch angenommen haben, daß Natalie zu so etwas weitreichendem wie 'Lebensplanung' gar nicht in der Lage wäre, aber ich sage jetzt nichts.
"Lebensplanung. Muß man denn alles im Leben planen?"
"Ja." sage ich, "Wenn man das möchte: Ja."
Ausnahmsweise nickt Carola. "So sehe ich das auch."
"Aber es gibt eben Schicksalsschläge!"
"Verstehe ich das richtig, daß Sie ein ungewolltes Kind als 'Schicksalsschlag' bezeichnen, Pater?" frage ich.
"Nein, das habe ich nicht gemeint!"
Natürlich hat er das nicht so gemeint. Aber wenn er auf die Nuancen seiner Wortwahl nicht aufpaßt, ist er ja selber schuld. Nach einigem Hin- und Her beschuldigt er mich: "Sie würden es also auf jeden Fall als 'Schicksalsschlag' bezeichnen, ja?"
"Das kommt doch immer auf die Umstände an! Und zwar auf die materiellen Umstände! - Ein Kind ist immer ein Klotz am Bein, und diesen Klotz kann man entweder tragen, oder man kann es nicht. Und man will es tragen, oder man will es nicht. Einschließlich aller Zwischenfärbungen. Wie dies jetzt bei Natalie aussieht, weiß ich nicht. Das ist ihre Privatsache!"
"Nanana," sagt Carola, "Das ist jetzt auch deine Privatsache!"
"Jaja. - Gut. - Gut, wenn es meine Privatsache auch ist, dann gestehst du mir also auch das Recht auf eine Meinung zu, ja?"
"Deine Meinung kennen wir ja!"
"Ist das ein Grund, meine Meinung gleich a priori zu verurteilen, weil ihr sie schon kennt?"
"Wie ist denn nun ihre Meinung?" fragt der Pater.
"Ganz allgemein und akademisch? So kann ich es am besten ausdrücken!"
"Bitte!"
"Also." Ich hole Luft. "Einem Landtier unserer Größe - also erwachsen 70 Kilogramm und 70 Watt Grundumsatz - steht im freien Spiel des Existenzkampfes in der Natur eine Gesamtbevölkerung auf dem ganzen Planeten von einigen Dutzend Millionen zu. Wir sind aber fast sieben Milliarden. Nicht nur das: Vermöge unserer technischen Zivilisation gelingt es uns, pro Bewohner dieses Planeten das Gleichgewicht der Ökosphäre wesentlich massiver zu schädigen als das den Mitgliedern einer anderen Spezies möglich wäre. Das hat dazu geführt, daß wir momentan eine immense Rate an Spezies haben, die aussterben - für immer von diesem Planeten verschwinden. Täglich sind es einige. Einschließlich der Möglichkeit - der sehr wahrscheinlichen Möglichkeit - das wir selbst eines Tages eine dieser aussterbenden Spezies sein werden."
"Ja. Und?"
"Damit, mit diesem massiven Genozid, haben wir als Rasse unser Lebensrecht längst verwirkt. Genauso verwirkt wie etwa jemand, der hier an Bord anfangen würde, einen nach dem anderen umzubringen."
"Nanana! Das ist aber eine radikale Sicht!"
"Das ist eine radikale Sicht, weil es keine übergeordnete Instanz gibt, die zwischen den Rassen dieser Erde Recht spricht. Gäbe es die, würden wir verurteilt werden. Das mildeste denkbare Urteil wäre die Reduktion auf eine ökologisch vertretbare weltweite Zahl von Menschen. Das strengste Urteil wäre die Extinktion."
"Sie reden von den Menschen, als ob es irgend eine x-beliebige Tierrasse wäre!"
"Wir SIND irgendeine x-beliebige Tierrasse! Und wir sind, vermöge unserer Fruchtbarkeit und unserer Technologie, die stärkste Tierrasse, die es jemals auf diesem Planeten gegeben hat! - Deshalb gehören wir in Sicherheitsverwahrung!"
Der Pater lehnt sich zurück. Er ist überhaupt nicht einverstanden. Aber er ist ja selber schuld - warum fragt er mich?
"Wenn wir als Rasse schon kein Lebensrecht mehr für uns beanspruchen können, weil eine übergeordnete Instanz, wenn es sie denn gäbe, uns bereits kollektiv auf den Abfallhaufen der Evolution geworfen hätte, dann kann es auch kein Recht zur individuellen Existenz geben. Für keinen von uns. Und auch nicht für die, die gerade noch ungeboren sind. - Sehen Sie, Pater: Es wird immer gesagt: Abtreibung ist Mord. Das stimmt auch. Aber man kann nicht daraus folgern, daß 'keine Abtreibung' gleichbedeutend ist mit 'kein Mord'. Ein Kind in die Welt zu setzen heißt, einen weiteren Zerstörer dieser Welt auf seinen Weg zu bringen. - Rechnen Sie nur zusammen, was ein normaler Mensch im Laufe seines Lebens an Resourcen verbraucht! Ein Kind in die Welt zu setzen heißt, das Lebensrecht anderer Spezies zu beschneiden, und da wir eines Tages auch zu den Spezies auf der Abschußliste gehören werden, auch das Beschneiden des Lebensrechtes zukünftiger Generationen."
"Diese Argumentation würde jeden Mörder entlasten! Wenn sie so weiterreden, haben sie sogar Massenmörder entschuldigt."
"Ja. Das weiß ich. Früher hat mich das auch selbst gestört. Ein Fehler in der Argumentationskette. Aber es ist keiner: Ein Mord ist, wenn man nur die Beziehungen der Menschen untereinander betrachtet und die Ökosphäre als unerschöpfliche Resource betrachtet, die so gar nicht mit berücksichtigt werden muß, ein Verbrechen. Wenn man die Ökosphäre jedoch berücksichtigt, und auf diese Weise auch das Leben zukünftiger Generationen der eigenen Spezies, dann sieht das plötzlich ganz anders aus."
"Es kann nicht zweierlei Recht geben." widerspricht der Pater.
"Wieso nicht? Recht ist ein Kunstprodukt. In der Natur gibt es kein Recht. Keine Ethik. Nur die Zweckmäßigkeit des Überlebens. Und je nachdem, wie weit man den Begriff des Überlebens faßt - und das ist im wesentlichen davon abhängig, welchen Einblick und welches Verständnis man von ökologischen und evolutionären Zusammenhängen hat - je nachdem kann man ein Recht formulieren. Da kommen ganz unterschiedliche ethische Axiome heraus!"
"Es wäre eine sehr trostlose Welt, wenn Sie recht hätten!"
"Vielleicht ist diese Welt trostlos! Haben wir Anspruch auf eine Welt, die nicht trostlos ist? Wo können wir denn diesen Anspruch einklagen? - Pater, ich bin nicht der einzige, der so denkt, und beileibe nicht der erste. Da hat es mal ein Gedicht von Erich Kästner gegeben, über eine Weltregierung, die eingesehen hat, daß der Mensch für seinesgleichen einfach nicht zuträglich ist, und daß es deshalb das Beste wäre, die gesamte Menschheit zu vergiften. Kästner hatte dabei allerdings weniger ökologisches als politisches Fehlverhalten im Auge."
"Ich kenne das Gedicht," sagt der Pater und zitiert:
"... Die Tiere im Zoo schrien schrecklich, bevor sie starben und langsam löschten die großen Hochöfen aus. Da hatte die Menschheit nun endlich erreicht, was sie wollte Zwar war die Methode nicht ausgesprochen human. Die Erde aber war nun friedlich, und still, und rollte ihre bekannte eliptische Bahn."
"Genau. Das meine ich."
"Blanker Zynismus!"
"Ja. Zynismus. Das bleibt. Die Form der Weltanschauung, die Dauer hat!"
"Ihr werdet euch nicht bekehren!" mischt Carola sich nun wieder ein.
"Das werden wir nicht. Das ist umso bedauerlicher, weil sich jetzt die ganze Sache ein zweites Mal zu wiederholen droht. Hier, in der Welthöhle."
"Und du willst es verhindern?"
"Habe ich schon längst aufgegeben."
"Dann brauchst du ja nicht gegen eine Abtreibung zu sein!"
"Ich möchte mal wissen, Carola, wie du reden würdest, wenn du ein Kind von mir hättest!"
"Vielleicht sollten wir uns anderen Themen zuwenden," versucht der Pater zu vermitteln, "was machen wir, wenn morgen die Luken aufgehen?"
"Wir fangen an, zu kreuzen. Und bringen alles über die Welthöhle in Erfahrung. Alles, was wir können. Dazu sind wir hier."
"Hätten wir das nicht schon längst tun können? So liegen wir hier schon einige Tage am selben Ort fest!"
"Es hat wohl irgend einen Grund. Ich werde bei Gelegenheit mal nachfragen."
"Ich weiß, was ich machen möchte!" sagt Carola.
"Nämlich?"
"Schwimmen!"
"Da sieh dir mal die Temperaturen an! Ich glaube, das ist noch etwas zu heiß! Außerdem - hast du die Haie vergessen?"
"Die sind doch weg. Und das Boot ortet alles in kilometerweitem Umkreis!"
"Frag mal lieber Wellington. - Aber zu heiß ist es trotzdem: 38 Grad im Wasser und 37 in der Luft!"
"Wir werden sehen." sagt Carola. Ihre ganze Aggressivität ist jetzt wie weggeblasen. Hat sie sich eventuell nur königlich amüsiert, während wir uns gestritten haben? Sie hat mich doch ermutigt, meine Meinung zu erläutern, oder etwa nicht?
Eigentlich kennt sie mich ja schon so lange. Schon im alten Ada-Compiler-Projekt war sie einmal Zeuge, als ich einem Außenstehenden die Vorteile der Programmiersprache Ada erläutern sollte. Da erwartet man im allgemeinen Erläuterungen über Methoden des Software-Engineering, und wie diese durch Ada unterstützt werden. Ich weiß nicht mehr, wem ich damals etwas erklären sollte. Aber sie und mein damaliger Chef müssen ganz entsetzt gewesen sein, als ich meine Erläuterungen damit begonnen habe, festzustellen, daß man mit Ada wesentlich mehr Menschen umbringen könne als etwa mit COBOL, weil Ada für Waffensysteme ja so geeignet sei, und daß das ein ökologisch wichtiger Punkt sei, weil die Beseitigung von Menschen sich immer günstig auf die Umwelt auswirke. Dann erst fing ich mit dem Stoff an, den man von mir erwartete. Die Aufmerksamkeit der Zuhörer war auf diese Weise zunächst einmal gesichert.
In der Zeit darauf hat mein Vorgesetzter sich das zweimal überlegt, bevor ich einen Kunden von dieser Sprache überzeugen oder einen Vortrag halten sollte. Carola muß wissen, daß bei mir manchmal ungewöhnliche Argumentationsketten zu erwarten sind. War es das, was sie eigentlich erwartet hat?
Versteh einer die Frauen.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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