Voriges Kapitel
Inhaltsverzeichnis
Nächstes Kapitel
******** ********
66. Die Schule der Haie
Als ich das vordere Oberdeck betrete, merke ich sofort, daß etwas geschieht. Alle kleben mit großer Aufmerksamkeit an den Bildschirmen.
"Was ist denn los?" frage ich, "Natalie, du sollst ins Krankenrevier kommen!"
"Immer, wenn es am spannendsten wird!" murrt sie, geht aber sofort los.
"Was ist denn los?" frage ich noch einmal.
"Sieh die Echos!" Gerald Amurdarjew zeigt sie mir, "Keine 900 Meter entfernt, westlich von uns!"
"Die Zentrale hat uns drauf aufmerksam gemacht, wir hätten es sonst wahrscheinlich gar nicht bemerkt." sagt Cohäuszchen.
"Was ist es?"
"Etwa fünf Meter lang, schwimmt dicht unter der Wasseroberfläche, sehr schnell. Ein Rudel von etwa dreißig Tieren." sagt Gerald.
"Wie schnell?"
"75 Kilometer pro Stunde - mehr als doppelt so schnell wie wir es können! - Im Moment sind sie stationär, aber als sie von Süden kamen, da waren sie eine Zeitlang so schnell."
"Die CHARMION ist kein Rennboot." sage ich, "Was ist es denn?"
"Vielleicht eine Art Hai. Aber sie müßten näher rankommen, um das festzustellen. Wenn wir keinen Kameraträger ausschleusen und hinschicken."
"Das ist eigentlich nicht nötig," sage ich, "Dieses Boot hat Antriebsmaschinen. Und es kann sehr leise sein!"
Wir bereden uns mit der Zentrale. Dort ist man einverstanden. Langsam wendet die CHARMION ihren Bug nach Westen. Mit langsamer Schrittgeschwindigkeit, eher Schlendergeschwindigkeit, pirschen wir uns heran. Das hätte etwa eine halbe Stunde gedauert, aber bevor diese Zeit um ist, zieht die ganze Gruppe in unsere Richtung. Alle Maschinen werden gestoppt, und in der Tat scheinen die Tiere unser Boot für eine Art Felsen zu halten. Wir geraten tatsächlich mitten in die Gruppe hinein, ohne daß diese Tiere besondere Notiz von uns nehmen.
Es sind tatsächlich Haie. Oder eine Lebensform, die den Haien ähnlich genug sieht, um so bezeichnet werden zu können. Außerdem weiß ich, daß es Haie erdgeschichtlich schon früh gegeben hat - es ist also gar nicht so unplausibel, daß es hier, in der Welthöhle, solche Tiere gibt. Damit liegen allerdings auch ähnliche Verhaltensmuster nahe: Diese stromlinienförmigen Körper, die beeindruckenden Gebisse - das sind Raubtiere.
Alfred Seltsam ist im Moment im hinteren Labor - sonst würde er wahrscheinlich anfangen, sich mit Doktor Reinhardt zu streiten. So haben wir Muße, die wendigen Tiere einfach nur zu betrachten.
"Müssen Jungtiere sein - so ziellos, wie die umeinander schwimmen!" meint Ulrich Solzbach. Von unseren Biologen ist keiner anwesend, den man fragen könnte - ich weiß aber nicht, wer sich gut in Verhaltensforschung auskennt.
"Also eine Haischule? Sagt man das: 'Haischule'?" frage ich.
"Ich weiß nicht."
Wir beobachten weiter, um in den Bewegungen der Tiere System zu erkennen. Das ist nicht ganz einfach, weil die Tiere, die nahe genug dran sind, um gut von den Außenkameras erfaßt werden zu können, dauernd von einem Bildschirm zum nächsten wechseln. Dabei verliert man die Übersicht, welches der Tiere welches ist.
"Hat jemand gesehen, wie sie springen? So wie Delphine?" frage ich.
"Nein. Sollten sie das?" fragt Cohäuszchen.
"Das weiß ich nicht. Haie sind wohl schneller als Delphine, also sollten sie besser springen können - aus dynamischen Gründen. Aber ich habe noch nie von springenden Haien gehört."
"Also, da würde ich mir jetzt keine Sorgen drüber machen, Herwig." sagt Cohäuszchen, "Weil es vielleicht sowieso nichts miteinander zu tun hat, ob unsere Haie in unseren Ozeanen da oben springen und ob diese es tun."
"Ob unsere Haie oben springen interessiert mich im Moment wenig. Wenn diese es tun, dann bekommen wir vielleicht Schwierigkeiten bei dem Versuch, das Boot zu verlassen!"
"Also erstens dauert das noch einige Tage, und zweitens - selbst wenn sie springen, dann müssen sie ja nicht über das Boot hinweg springen! - Und drittens - sieh sie dir doch an: Das ist eine Schule! Jungtiere! Die sind nicht auf Beutezug."
"Das ist mir egal." erwidere ich, "Und euch wäre es auch egal, wenn man von einem dieser Riesentiere getroffen wird, egal, ob es nun aus Spieltrieb springt, oder aus einem anderen Grunde."
"Seit wir darüber streiten ist noch keiner gesprungen." stellt Gerald fest, "Seht doch - sie ignorieren das Boot völlig."
"Noch ist ja auch niemand von uns oben!"
"Unser Problem, wenn wir jetzt da oben auf Deck wären, wäre sowieso die Hitze und nicht die Haie. Sehr euch die Werte an. Herwig, ich glaube einfach nicht, daß ihr damals so lange bei diesen Temperaturen hier habt leben können!" Ulrich zeigt auf den SISC: "Wasser immer noch 48 und Luft 42 Grad. Das würden wir nicht lange aushalten. - Sagenhaft, daß diese Tiere das aushalten - die müssen einen ganz anderen Stoffwechsel haben!"
"Ganz so heiß war es damals nicht. Kann es nicht gewesen sein." sage ich, "Ich nehme an, daß das auch eine lokale Auswirkung der Kohlensäureexplosion ist. Ihr seht ja, daß die Temperatur schon etwas gesunken ist, seit wir hier angekommen sind. Vielleicht ist die Hitze, wenn sie eine vorübergehende ist, auch ein Grund, warum sich hier im Moment wenig Tiere herumtreiben - aber nein, das war in Kladde gedacht: Ich erinnere mich, daß es auf dem offenen Meer sowieso nicht so viele Tiere gegeben hat. - Diese Viecher sind zufällig hier. - Da bin ich sicher."
"Jedenfalls scheinen sie sich wohlzufühlen." meint Gabi, "Keine Anzeichen von Hitzeschlag!"
"Urteile nicht zu früh! Wem die Evolution keinen Sinn für die eigene Körpertemperatur mitgegeben hat, der würde eine gefähliche Steigerung derselben gar nicht bemerken! Der Tanz da draußen kann durchaus bereits ein Symptom eines Überhitzungsdeliriums sein! - Haie sind wechselwarme Tiere, wenn ich richtig informiert bin. Und im Moment haben sie dieselbe Temperatur wie das Wasser!"
"Wie könnte man denn feststellen, ob das der Fall ist? - Ich meine, ob sie sich anormal verhalten?"
"Eine Möglichkeit wäre, ihnen ein Beutetier vorzusetzen. Leider sind wir nicht in der Lage, ihnen etwas vorzuwerfen!"
Wir diskutieren noch länger über diese Tiere, ohne daß diese sich davon beeindruckt zeigen. Jetzt, wo das Boot wieder still liegt, könnte es ja sein, daß diese Haischule sich von uns auf einer ihrer zufällig erscheinenden Bewegungen wieder von uns entfernt. Tun sie aber nicht. Ich überlege mir, ob das vielleicht an den organischen Abfällen liegt, die das Boot auspreßt. Wir haben aber keine Möglichkeit, das herauszukriegen.
Stephen Spaliter kommt aus der Kantine zu uns rauf. Er trägt immer noch sein Zahnarztbesteck spazieren. "Wen habe ich noch nicht angesehen?" fragt er.
"Was hälst du davon, eine Liste zu führen?" fragt Cohäuszchen.
"Gar nichts. Ich bin unter anderem deshalb hier an Bord, weil ich hier den Papierkram eines Praxisbetriebes vermeiden kann. Weitgehend jedenfalls. Wenn ich jemanden behandle, muß ich das allerdings schon festhalten. - Sind das Haie?"
"Du bist doch Biologe!" sage ich.
"Ja. - Vielleicht habe ich ja auch nur rhetorisch gefragt!"
"Können Haie springen? Weißt du etwas darüber?"
"Ob sie können, weiß ich nicht. Sie tun's nicht."
"Delphine tun's doch auch!"
"Delphine sind in der Evolution sehr viel weiter fortgeschritten. Leistungsfähiges Gehirn. Deshalb pflegen sie zu spielen. Das Springen gehört dazu. Einen anderen Zweck hat es gar nicht. Jedenfalls nicht, daß ich es wüßte. - Delphine pflegen auch ohne besonderen Grund auf dem Schwanz das Wassertreten zu üben, und manchmal kommen sie bei ihren Spielen Segelbooten recht nahe - ohne sich jedoch zu verletzen."
"Woher weißt du das?"
"Ich habe mal einen längeren Segeltörn in der Karibik mitgemacht. - Dabei habe ich mehr Delphine als Haie gesehen. Haie eigentlich gar nicht. - Und die Delphine spielen eigentlich dauernd."
"Dieses Umeinanderschwimmen sieht aber so aus, als ob diese Haie auch spielen!"
"Sie müssen ständig schwimmen. Haie können kein Wasser in die Kiemen einziehen. Sie sind dafür auf den Staudruck angewiesen, und deshalb müssen sie ständig schwimmen." Stephen Spaliter kratzt seinen kahlen Schädel. "Ich glaube, es hat auch noch einen anderen Grund: Haie haben keine Schwimmblasen. Das ist bei Fischen das, was bei unserem Boot die Regelzellen sind. Sie können eine bestimmte Tiefe im Wasser nur dynamisch halten. Auch deshalb müssen sie dauernd schwimmen."
"Und wie schlafen sie dann?" frage ich.
"Ich weiß nicht, ob sie überhaupt schlafen. Vielleicht schläft man als Hai überhaupt nicht! - Ich weiß nicht viel über Haie!"
"Jedenfalls mehr als wir!" sagt Cohäuszchen, "Siehst du, Herwig, deine Befürchtung, daß sie uns beim Springen vom Boot wegschnappen können, ist unbegründet!"
"Trotzdem sind sie mir unsympathisch." sage ich, "Ich habe gehört, daß sie alles fressen. Ziemlich unterschiedslos. Das war wohl über viele Jahrmillionen eine ausreichende Strategie, um sich zu ernähren. Nur heute soll es so sein, daß die Haie bedroht sind, weil in den Ozeanen inzwischen zuviel Zeug rumschwimmt, was für einen Hai einfach nicht verdaulich ist!"
"Da hast du richtig gehört." sagt Stephen, "Wenn man einen Ziegelstein mit einem Tuch umwickelt und einem Hai vorwirft, dann ist es sehr wahrscheinlich, daß er den hinunterschluckt."
"Da wird er aber Darmbeschwerden bekommen! Und Zahnschmerzen, falls er ihn vorher kauen will."
"Apropos Zahnschmerzen," sagt Stephen, "hier habe ich wohl alle durch. Also gehen wir weiter." Und er verläßt mit seinem Untersuchungsbesteck unseren Raum in Richtung zentralem Niedergang.
"Jedenfalls sollten wir nicht ins Wasser." sagt Cohäuszchen, "Herwig, in deinem Buch habe ich gelesen, daß du vom Saurierfänger aus geschwommen bist. Das war aber ganz schön mutig!"
"Das war noch ziemlich am Anfang. Da wußte ich noch nicht, was es alles an Tieren in der Welthöhle gibt. - Ja, ich glaube, daran lag es."
16:00 Uhr. Doktor Reinhardt geht in die Zentrale, um seine Wache anzutreten. Kurze Zeit darauf kommt Natalie wieder von ihrer medizinischen Untersuchung zurück. Sie sieht verstimmt aus, ärgerlich. Sie läßt sich in ihren Sitz fallen.
"Man müßte mal eine der Lampen anmachen, um zu sehen, wie sie darauf reagieren!" schlägt Solzbach vor.
"Könnte ihnen schaden." sage ich, "Weil unsere Lampen wesentlich intensiver sind als die Lichtquellen, die es hier gibt. Jedes Tier hier hat sich im Laufe der Evolution an diesen geringen Beleuchtungspegel angepaßt. Seht doch die großen Augen! - Wir sind richtlinienmäßig gehalten, keine derartigen Schäden bei irgendwelchen Lebewesen zu erzeugen, wenn es nicht im Interesse der Zielsetzung der Expedition ist."
"Scheiße." sagt Natalie.
"Wie bitte?" fragt Ulrich.
"Scheiße." wiederholt sie mit Nachdruck und fixiert ihren Bildschirm, ohne ihn wirklich anzusehen. Dann steht sie abrupt auf und verschwindet in Richtung Kantine, ohne jemanden anzusehen - vermutlich geht sie in ihre Kabine.
"Habe ich was Falsches gesagt?" erkundigt sich Ulrich, und Cohäuszchen fragt ganz entgeistert: "Was hat sie denn? Den Tonfall habe ich noch nie von ihr gehört!"
"Ich auch nicht." sage ich. Ich verstehe es auch nicht: Hat Doktor Morton sie mit ihrem Verdacht konfrontiert? Dafür paßt aber diese Reaktion nicht.
"Ist sie krank?" vermutet Cohäuszchen weiter, "Herwig, du kennst sie doch besser als wir. Finde mal raus, was sie hat!"
"Was? Wieso ich?"
"Weil - naja - du kennst sie halt besser!"
"So würde ich das nicht sehen."
"Das kannst du aber mal machen," meldet sich jetzt auch Ulrich Solzbach zu Wort, "wenn hier jemand an Bord Kummer hat, dann müssen die anderen etwas tun. - Sie hat sich doch auch eben untersuchen lassen, oder? Vielleicht ist sie krank? Vielleicht hat sie Krebs?"
"Wieso? Sie raucht doch nicht!"
"Soll auch bei Nichtrauchern vorkommen! - Los, geh schon."
Ich merke, daß die Meinung, daß ich in Erfahrung bringen sollte, was mit Natalie los ist, mehrheitlich verteilt ist. Also mache ich mich auf den Weg.
Verdammt kitzlig. Was hat die Morton ihr gesagt? Müßte ich vorher zu ihr hin und fragen? Egal - Selbstbewußtsein trainieren. Was kann mir schon passieren, außer daß Natalie mir unsere üblen Verdächtigungen vorwirft.
Ich schiebe ihre Kabinentür einen Spalt weit auf und klopfe gleichzeitig. "Können wir etwas für dich tun?" frage ich hinein.
"Nein." kommt es heraus, "Verschwinde!"
Merkwürdig. Ich höre einen verweinten Unterton. Das paßt nicht zu Natalie.
"Wirklich nicht?" frage ich.
"Hau ab!"
Also haue ich ab. Schnurstracks zu Doktor Morton. Sie ist alleine im Revier und räumt schon wieder ihre Schränke um.
"Haben Sie mit Natalie geschimpft? Die ist ja ganz durcheinander!" frage ich.
"Ich habe ihr nichts von unserem Gespräch und unserem Verdacht gesagt. - Aber durcheinander werden Sie auch gleich sein!"
"Ich? Wieso?"
"Sie ist schwanger."
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
Zurück zu meiner Hauptseite