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65. Untersuchungsrichterin

Im backbordseitigen Krankenrevier hinter der Zentrale soll ich mich auf eine Liege setzen - diejenige, auf der der arme Peer gelegen hat, erinnere ich mich. Sie ist jetzt wieder frisch bezogen. Doktor Morton macht all die üblichen Tests: Blutentnahme für Laboruntersuchungen, Blutdruck und Puls, liegend und stehend und bei Kniebeugen. Temperatur. Urinprobe. Fragen nach Beschwerden und Konsistenz und Häufigkeit des Stuhlganges. Alles mit Behendigkeit und effizienter Routine.

"Liebesleben?" fragt sie dann.

"Normal." sage ich, "Soweit man hier an Bord von 'normal' reden kann."

"Was heißt 'normal'?"

"Ja, wissen Sie, Frau Doktor, ich bin jetzt 48 Jahre alt. Da ist die Sexualität nicht mehr so dringend."

"Wie oft haben Sie denn Geschlechtsverkehr oder onanieren Sie?"

"Vielleicht ein- oder zweimal pro Woche. Ich führe keine Strichliste."

"Mehr Geschlechtsverkehr oder mehr Onanieren?"

"Ist doch medizinisch kein Unterschied! - Gut, also - in letzter Zeit - das hängt von der Gelegenheit ab, wissen Sie!"

Frau Morton weiß es nicht. Sie will es genauer wissen:

"Sie haben mit unseren Damen in der letzten Zeit also keinen sexuellen Kontakt?"

"In den letzten Tagen nicht. Davor - na, das wissen Sie ja. Ich kann nicht gerade von 'grassierender Keuschheit' reden. - Ist das wichtig?"

"Vielleicht." sagt Doktor Morton. "Meinen Sie, daß Sie ein gesundes, normales Sexualleben haben?"

"Sofern man diese Definition nicht an der Häufigkeit von sexuellen Kontakten aufhängt, ja."

"Trauen Sie sich zu, zu beurteilen, ob eine Frau, mit der Sie sexuelle Kontakte haben, ein gesundes Verhältnis zu ihrer eigenen Sexualität hat?"

"Was verstehen Sie unter einem gesunden Verhältnis? - Meinen Sie die Abwesenheit von 'Perversionen'?"

"Vielleicht auch das. Ich weiß, daß das ein sehr ungenaues Konzept ist."

Ich schüttele den Kopf: "Ich habe im Laufe meines Lebens gemerkt, daß die Hauptbeschäftigung aller Menschen ist, sich gegenseitig etwas vorzumachen. Und sich selbst auch. Das gilt auch für die Sexualität - vielleicht sogar ganz besonders da. Wenn ein Mädchen, mit dem ich schlafe, zufällig auf Bumsen mit Mantelpavianen steht, und sie will mich das nicht merken lassen, dann glaube ich nicht, daß ich das herauskriege. - Ist es das, was Sie wissen wollten?"

Doktor Morton hat sich Aufzeichnungen gemacht und scheint jetzt damit fertig zu sein. Sie setzt sich auf die Liege mir gegenüber. Mir einem Blick vergewissert Sie sich, daß die Türen der Krankenstation wirklich geschlossen ist.

"Was halten Sie von Frau Yay?"

"Sie stellen aber Fragen!" sage ich.

"Ich habe meine Gründe."

"Tja. - Nun, sie sieht sehr gut aus und sie weiß das. Und sie kann es anwenden. Wenn sie will. Sie will aber nicht übermäßig häufig. Sie ..."

"Mich interessiert natürlich der Punkt 'Normalität'!" unterbricht Doktor Morton mich, "Haben Sie irgendwelche Auffälligkeiten bemerkt?"

"Nein. - Mein Verhältnis zu ihr ist auch etwas abgekühlt - nein, das ist falsch, es war ja eigentlich nie 'heiß', wenn Sie wissen, was ich meine."

Frau Morton nickt, sagt aber nichts. Also fahre ich fort:

"Sie genießt Sex, sie ist nicht gerade monogam - Tja, was noch? Am Anfang habe ich sie für unintressiert gehalten und mich gewundert, wie sie zu dieser Expedition gekommen ist. Da habe ich sie vielleicht unterschätzt. Ja, und zum Schluß gab es mal Streit."

"Streit?"

"Nicht richtig Streit. Sie deutete an, daß ich mich an dem Waschen ihrer Textilien beteiligen könnte, und ich deutete daraufhin an, daß ich das auch ebensogut bleiben lassen könnte. Ja, und das war eigentlich schon alles. Das Verhältnis ist dann weiter abgekühlt."

"Aggressionen?"

"Nein, überhaupt nicht, weder von mir noch von ihr. Es ist, als ob wir niemals miteinander geschlafen hätten und dieses auch niemals gewollt hätten. Es ist praktisch ungeschehen!"

"Mmh." Eine lange Zeit sagt Doktor Morton nichts. Sie verschränkt die Finger, so daß die Knöchel weiß hervortreten.

"Herr Elderman hat vor seinem Tode ejakuliert." sagt sie unvermittelt.

"Ach, wirklich?" Mehr fällt mir dazu nicht ein.

"Vielleicht sogar mehrmals."

"Was schließen Sie daraus?"

"Er hat nicht onaniert. Und es würde mich sehr wundern, wenn er, in seinem Zustand, von selbst auf diese Idee gekommen wäre."

"Woher wollen Sie denn das wissen?"

"Seinen Zustand kannte ich schließlich am allerbesten. Und da er ja nachweißlich ejakuliert hat, muß das Sperma irgendwo geblieben sein. Das ist es aber nicht. Keine Flecken im Bettbezug, keine Papiertaschentücher - ich habe überall nachgesucht."

Allmählich begreife ich, worauf sie hinauswill: "Sie glauben, daß Frau Yay mit ihm geschlafen hat?"

"Es ist jetzt zumindest das plausibelste. - Und wenn sie das getan hat, bei seinem Zustand, dann ging die Initiative von ihr aus. Dann war es wenigstens Totschlag. Ich habe ihr jenseits von aller Mißverständlichkeit erläutert, daß jede Art Streß von Herrn Elderman ferngehalten werden muß."

"Haben Sie sie gefragt?"

"Nein. Und das werde ich auch nicht tun. Denn wenn es so ist, dann hat sie etwas damit bezweckt, und dann sollten wir das herausfinden."

"Tja. - Wenn sie es war und nicht von selbst damit herausrückt - warum machen Sie bei ihr keinen Scheidenabstrich?"

"Frau Yay ist Biologin. Sie weiß, wie man solche Spuren am eigenen Körper verwischt. Vielleicht hat sie auch ein Kondom benutzt. Oder was weiß ich für eine Technik."

"Trotzdem - es kann ja nicht schaden."

"Ich werde es machen - was glauben Sie, warum ich gerade jetzt mit Reihenuntersuchungen anfange? Aber ich bin sicher, der Befund wird negativ sein."

"Also, ich weiß nicht," sage ich, "vielleicht sehen Sie Gespenster. Sie wollen Frau Yay unterstellen, daß sie die große Unbekannte ist. Aber warum sollte sie auf diese Weise Unruhe verbreiten? Das war doch bis jetzt die wesentliche Wirkung des Treibens des großen Unbekannten, nicht wahr? - Wenn Sie hingeht, in die Krankenstation, und einen Schwerkranken vorsätzlich 'totfickt', dann ist das zwar Mord - nicht nur Totschlag, sondern tatsächlich Mord - aber es paßt nicht mit dem zusammen, was der große Unbekannte bisher gemacht hat. Dieser Mord hätte ja ganz unbemerkt ablaufen können."

"An den großen Unbekannten dachte ich auch weniger."

"Sondern?"

"Nichts sondern. Ich dachte - ja, ich dachte daran, daß sie eventuell abnormal sein könnte. Sex mit Wehrlosen. Ist bei Frauen sehr selten, aber es könnte ja sein. Außerdem war Elderman in ihrer alleinigen Obhut. Jetzt sagen Sie aber, daß die Yay bezüglich ihrer Sexualität unauffällig ist."

"Soweit ich das beurteilen kann."

"Tja. - Was ist dann passiert? Und warum? Wie sollte das Unternehmen geschädigt werden?"

"Das Unternehmen wurde nicht geschädigt," sage ich, "im Gegenteil. Wir hätten den Innendruck nicht erhöhen können, wenn Elderman am Leben geblieben wäre. Auf lange Zeit nicht. Es hätte massive Verzögerungen gegeben, gerade jetzt, wo wir unser Operationsgebiet erreicht haben und anfangen können, die Welthöhle zu untersuchen."

"Ja, meinen Sie denn," fragt Doktor Morton ungläubig, "daß der Yay die Zielsetzung des Unternehmens so am Herzen liegt, daß sie dazu einen Mord begeht?"

Bingo, denke ich - die Direktive q78q99q! Jemand an Bord ist in besonderem Maße daran interessiert, in der Welthöhle Untersuchungen anzustellen. Ist es das? Ist die Direktive q78q99q an Natalie gerichtet?

Aber nein, denke ich mir. Dann hätte sie andere Möglichkeiten gehabt, Peer Elderman umzubringen. Unauffälligere Möglichkeiten. Nicht Sex. Dazu muß man sich ja ein bißchen freimachen. Jeden Moment könnte jemand reinkommen. Oder? Nein, diese Sicht ist auch zu eingeengt. Plötzlich habe ich die Idee, wie es gemacht worden sein kann: Sie hat ein Papiertuch genommen und ihm mit den Händen einen runtergeholt. Das geht ganz unauffällig unter der Bettdecke. Jeden Moment hätte jemand reinkommen dürfen - dann hätte sie eben an den Kanülen etwas nachgesehen. Daß Elderman außer Atem ist, das soll ja bei einem Kranken auch vorkommen. War es so? Ist er dann zum Orgasmus gekommen, und hat dann der Kreislauf versagt, so, wie sie es beabsichtigt hat? Oder mußte sie noch ein bißchen nachhelfen? Ist er dann schon von der Liege gefallen? Sie rennt, sowie sie sich sicher ist, daß er tot ist, raus, zur Toilette, entsorgt das Papiertaschentuch, kommt wieder und schlägt Alarm. - War es etwa so?

Wenn diese ganze Handlungskette so war - eigentlich eine sehr sichere Sache. Zu jedem Zeitpunkt hätte eine Störung eintreten dürfen - dann hätte man es später eben noch einmal versucht. Peer hätte sich bei niemandem darüber beschwert, daß Natalie ihn verführen wollte. Nicht nur das - wenn jemand hinzugekommen wäre und gleich klar gesehen hätte, was vor sich geht, selbst das wäre für Natalie ungefährlich gewesen. Die Tötungsabsicht hätte man ihr nie beweisen können - man wäre nicht einmal auf die Idee gekommen.

Andererseits - es gibt noch eine ganze Menge Methoden, die viel unauffälliger gewesen wären. Deshalb glaube ich eigentlich doch nicht daran. Denn wie sieht die Bilanz aus: Hier die Gefahr des Entdecktwerdens und damit die Gefahr, die Direktive nicht mehr ausführen zu können. Und dort die Verzögerung, die Peers Krankheit uns aufgezwungen hätte. Wenn die Direktive an mich gerichtet gewesen wäre, denke ich, und ich skrupellos genug gewesen wäre, auch einen Mord zu begehen, und wenn dieser Mord für mich völlig sicher gewesen wäre, ohne jede Gefahr der Entdeckung, dann hätte ich es doch nicht getan, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Um die Direktive q78q99q erfolgreich zuende führen zu können, braucht man bis zum Schluß ein funktionsfähiges Boot mit einer einsatzbereiten Besatzung. Wir sind nicht so viele. Jeder hinterläßt eine Lücke, nicht nur menschlich, sondern auch, was die Aufgabenverteilung an Bord betrifft. Jeder Mord würde die Erfolgswahrscheinlichkeit der Direktive q78q99q vermindern.

"Nein." sage ich zu Frau Morton, "Ich glaube, das ist zuweit hergeholt. - Ich kann mir überhaupt keine vernünftige Motivation für einen Mord vorstellen."

Die Ärztin nickt. "War ja auch nur eine Theorie. Könnten Sie jetzt Frau Yay herbitten? - Natürlich, ohne ihr etwas von unserem Gespräch zu sagen?"

"Natürlich." sage ich und springe von der Liege runter, "Gleich ist sie da - sie hat im Moment nichts zu tun."

Auf dem Weg zum vorderen Oberdeck denke ich noch an andere Konsequenzen, die sich daraus ergäben, wenn die Direktive q78q99q an Natalie gerichtet wäre: Dann hätte sie nämlich, wenigstens mittelbar, auch mit dem Tod von Irene etwas zu tun.

Wenn das so wäre, dann wäre es an mir, noch eine Rechnung zu begleichen.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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