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64. Welthöhle!
Langsam steigt das Boot weiter. Nur noch wenige Minuten. Die Wasseroberfläche sieht von unten genauso aus wie die Wasseroberfläche in einem Schwimmbad, nachdem man ins Wasser gesprungen und mit dem Kopf unter Wasser geraten ist - Kunststück, es handelt sich ja um denselben Stoff und um dieselben Naturgesetze.
In der Tat ist mir schon vor langer Zeit klargeworden, daß die Frage, wie es wohl auf anderen Welten aussieht, Lichtjahre oder Lichtjahrmillionen weit entfernt, zumindestens teilweise beantwortbar ist. Die Biosphäre, so denn eine vorhanden ist, wird sich von der unseren unterscheiden, bedingt durch die Zufälligkeiten der Evolution und der sie steuernden Randbedingungen. Aber ein Ozean, der an irgendwelche Küsten brandet, Steilküsten ausschneidet und Sandstrände aufschwemmt, wird immer und überall vertraut aussehen. Ein Berg, seine fraktale Form, ein Tal, Wellen und Brandung, Wasserfälle - alles schon gesehen. Am anderen Ende des Universums.
Oder auch nicht. Gerade die Welthöhle hat ja gezeigt, daß es in der Natur doch noch einige Formen gibt, die zu sehen wir nicht vorbereitet waren.
Die letzten Meter. Es ist 2:14 Uhr, als die oberen Kollisionsschienen der CHARMION die Oberfläche durchstoßen. Ein fremdes Stahltier in einem fremden Ozean. Etwas in der Welthöhle noch nie dagewesenes. Nun wird es Wirklichkeit, nach all den vielen Jahrmillionen, wo es nicht Wirklichkeit war. Es ist wie die erste Mondlandung.
Wir hören nicht, wie die gespeicherten Gase in die äußeren Tauchtanks fauchen. Aber wir können es sehen. Die oberen Kameras schieben sich mit der Scheitelwölbung des Bootes über das Wasser. Der Blick reißt auf - schäumendes Wasser fließt aus dem Bild ab, wir sehen den aufgewühlten Schaum rund um das Boot herum aus der Froschperspektive. Das Bild wird klar. Und dann:
Da sind sie. Wie oft in den letzten zwei Jahren träumte ich davon, wie von einer Welt, deren reale Existenz ich glaubte und dann wieder doch nicht. Die mächtigen Felssäulen, die den graubewölkten Himmel zu tragen scheinen. Zwei- bis dreitausend Meter stark, bis zu den Wolken sind es 5000 Meter. Ein gewaltiger Wald aus Felsen, gewachsen in der Ewigkeit und für die Ewigkeit.
Es regnet im Moment nicht, die Sicht ist klar, der Blick geht weit, bis zu Säulen, die in einigen Dutzend Kilometern Entfernung sein müssen. Wir sind mitten in einem der Meere der Welthöhle aufgetaucht.
Die Basis der nächsten Säulen - noch einige tausend Meter von uns entfernt - steht in bewaldetem Hochgebirgen. Enge, steile, wilde Inseln. Atemberaubende Bergformen, unerreichbare Wälder auf Simsen zwischen den Wolken und dem Meer, unerreichbar für den kühnsten Kletterer, sowohl von unten als auch von oben.
Es ist still hier im vorderen Oberdeck. Ganz still. Alle sehen auf die Bilder auf den Bildschirmen wie auf eine Erscheinung. Es ist eine Erscheinung: Eine neue Welt erscheint. Man hätte sie sich nie ausdenken können. Und doch ist sie da, dieses fremde Meer ist da, tatsächlich da, bloß 10.5 Kilometer unter unseren Füßen, nein, es sind 12 Kilometer, wie wir inzwischen wissen. Zwölf Kilometer über uns ist die Nordsee. Eine ganz andere Welt. Die Nordsee - Wassertemperatur sechs bis zehn Grad oder so. Hier sind es 51 Grad. 44 Grad Lufttemperatur, wie wir ablesen können. Die ersten Luftproben werden inzwischen an Bord genommen. Die ersten Meßwerte erscheinen auf dem SISC: 100% Luftfeuchtigkeit. 5 Bar - wie ich es vorhin errechnet habe. Die Partialdrucke: Viel CO2, eigentlich viel zu viel. Mehr Sauerstoff als in unserer vertrauten Atmosphäre, aber prozentual ist es weniger. Stickstoff, überraschend viel freier Wasserstoff. Ein bißchen Ozon und Spuren von Stickoxiden. Kohlenmonoxid auch, aber nicht in gefährlichen Konzentrationen. Und Helium, etliche Prozent!
Das Licht. Schwach, wie an einem trüben Tag. Das wußte ich schon, aber nun kriegen wir Zahlen. Weniger als eineinhalb Watt pro Quadratmeter. Ein Tausendstel der direkten Sonneneinstrahlung. UV fast nicht nachweisbar - für das H2O2 im Wasser, das Ozon in der Luft und für die Stickoxide in Luft und Wasser werden wir uns eine andere Erklärung ausdenken müssen.
"Es ist unheimlich." sagt Gabi. Vivian und Gabi schwatzen nun nicht mehr über sonnige Urlaubsziele.
"Unheimlich leer. Wo sind deine Saurier, Herwig?" fragt Cohäuszchen. Der Bann ist gebrochen. Da steht Ulrich Solzbach auf und fängt an zu klatschen. Warum denn nun das? Dann verstehe ich: Bei manchen Landungen mit Verkehrsmaschinen pflegt man zu klatschen, wenn der Pilot das besonders gut hingekriegt hat. Ich schalte über das Interkom eine Verbindung zur Zentrale: "Jetzt alle!" sage ich: Wollen wir dem Alten auf diese Weise mal was Nettes sagen.
Als sich das 'Klappklapp' gelegt hat, kommt Wellington's Stimme über die Rundsprechanlage: "Danke. Aber ich denke, das haben wir uns alle verdient. Jeder hat seinen Teil dazu beigetragen. Jede und Jeder."
Als es ganz ruhig geworden ist, fährt Wellington fort: "Wir werden zunächst an genau diesem Platz bleiben und den Druckangleich durchführen. Genaugenommen hat er schon begonnen, aber wir lassen den Druck so langsam steigen, daß die meisten von Ihnen nicht einmal ein Knacken der Trommelfelle verspüren werden. Morgen wird Doktor Morton ein Medikament verteilen, das die Druckanpassung und die Anpassung an die Luftzusammensetzung unterstützen soll. Das werden wir einige Wochen regelmäßig nehmen müssen. Trotzdem werden die meisten von Ihnen im Laufe der Zeit gewisse Beschwerden bekommen, und wundern Sie sich nicht, wenn alltägliche Dinge wie das Atmen sich anders anfühlen. - Wir werden uns im Schiff vollständig an die Außenbedingungen angleichen, mit Ausnahme von Luftfeuchtigkeit und Temperatur. - Nachdem der Druckangleich durchgeführt worden ist, was etwa 48 Stunden erfordern wird, werden wir die Luken öffnen, Colbert und Elderman bestatten und das Boot von außen untersuchen. Danach werden wir kreuzen. - Wecken morgen - sagen wir, zehn Uhr. - Ich danke Ihnen. Gute Nacht, meine Damen und Herren. Nachtwache bitte in die Zentrale!"
"Das gilt dir, Carola!" sage ich, "Du hast jetzt noch mehr als fünf Stunden die Welthöhle ganz für dich allein!"
Ausnahmsweise gibt es diesmal keine giftige Antwort von Carola. Sie steht einfach auf und geht zum zentralen Niedergang. Ich habe nicht die Spur einer Ahnung, was sie jetzt denkt - Wenn jetzt alle schlafen, dann wird sie die erste sein, die tatsächlich für eine Weile allein in der Welthöhle ist - in einem gewissen Sinne.
"Es ist verdammt spät geworden," sage ich, "für meinen Teil kann ich die Welthöhle auch morgen noch lange genug ansehen! Ich war schließlich schon mal da."
Trotz der späten Stunde liege ich in meiner Koje noch lange wach. Der schwache Wellengang bewegt das Boot gerade eben spürbar. Das ist ein ganz anderes Gefühl als draußen in den Außenhöhlen. Man kommt sich gleich viel mehr auf einem Schiff befindlich vor. Aber natürlich - so etwas wie das Geräusch der an den Rumpf plätschernden Wellen kann man in der CHARMION nicht hören. Das sachte Wiegen an der Grenze der Wahrnehmbarkeit ist alles.
Ob das Wissen um die Funktion eines Oberflächenschiffes, um die Bewegungen eines schwimmenden Gegenstandes in den Jahrtausenden schon irgendwie seinen Weg in unsere Gene gefunden hat?
10. Februar 1999, Mittwoch. Der 28. Projekttag - der Morgen danach. Kein besonderer Dienstplan. Wellington's humane Weckzeit ist von den meisten deutlich überzogen worden. Frühstück und Mittagessen ist dasselbe. Im Moment keine Pflichten außer der, dem Körper Gelegenheit zu geben, sich an die Drucksteigerung zu gewöhnen.
Carola bekomme ich an diesem Morgen nicht zu sehen, weil sie wohl gleich nach ihrer Wache ins Bett gefallen ist.
Doktor Morton fängt an, die Epeditionsteilnehmer nacheinander zu sich ins Krankenrevier zu bitten - jeden Tag sollen es ein paar sein. Erstens handelt es sich um eine allgemeine gesundheitliche Bestandsaufnahme, zweitens meint sie, daß sie auf diese Weise die Auswirkungen der Drucksteigerung im Boot gut verfolgen kann, ohne daß sie alle Expeditionsteilnehmer jede Viertelstunde untersucht.
Sämtliche Bildschirme und sämtliche SISCs in der Kantine zeigen Außenansichten. Die haben sich seit gestern wenig verändert. Das Boot ist nicht versetzt worden, da es hier kaum Strömungen gibt, und die, die es gibt, scheinen unregelmäßig in Stärke und Richtung zu sein, so daß es sich vielleicht um Nachwirkungen der Kohlensäureexplosion handeln könnte. Wir wissen es nicht. Der schwache Südwind ist nicht in der Lage, die CHARMION zu bewegen, weil sie sowenig Fläche über dem Wasserspiegel zeigt.
So, wie ich mich erinnere, sind die Leuchtenden Wolken über diesem Meer beständig in Höhe und Leuchtkraft. Während unserer kurzen Schlafperiode hat es, wie wir den Aufzeichnungen entnehmen können, zweimal eine Bildung und Wiederauflösung von Nebelbänken gegeben. Jetzt haben wir treibende Wolkenfetzen in 1700 Meter bis 2000 Meter über dem Meer, so daß gelegentlich die Sicht auf entferntere Säulen teilweise verdeckt wird.
Abgesehen davon ist in den letzten acht Stunden nicht viel passiert. Kein prähistorisches Großtier ist in unserer Nähe aufgetaucht, um dieses neue, seltsame Stahltier zu beschnuppern. Die Echolotung kann ferne Bewegungen nachweisen, die offenbar durch größere, schwimmende Tiere zu erklären sind. Aber die scheinen sich in Landnähe aufzuhalten.
Die Säuleninsel im Westen von uns, deren Küste vielleicht 4000 Meter von uns entfernt ist, können wir am besten beobachten. Um eines ihrer südlichen Vorgebirge, daß einem steilen, 800 Meter hohen Zahn ähnelt, der inselseitig bewaldet ist, kreisen Punkte - seit gestern schon. Gelegentlich stürzen diese Punkte ins Meer, um dann gleich wieder nach oben zu schießen. Man kann sie mit den Außenkameras näher heranholen, und dann sind die Pteranodon - ähnlichen Formen unverkennbar. Das ist für Doktor Reinhardt natürlich das interessanteste.
Doktor Reinhardt's Haltung hat sich mir gegenüber nun völlig verändert. Da der Homberg sich nun definitiv die Welthöhle nicht ausgedacht hat, ist es sogar entschuldbar, daß er von Paläontologie keine Ahnung hat. Und da sowohl der Rochen, mit dem wir gestern aneinander geraten sind, als auch diese Pteranodons dahinten nicht in sein durch Fossilien geprägtes Weltbild passen, ist er zu der Annahme gelangt, daß ich doch einige Beobachtungen in meinem Buch korrekt wiedergegeben habe. Nun beobachtet er, richtet seine Bilddateien ein, um systematisch Bobachtungen zusammenfassen und mit den jeweils besten Aufnahmen archivieren zu können.
Interessant ist, daß Reinhardt sich nicht so sehr für das Plankton interessiert, für die Mikrolebewesen in dem Wasser um uns herum. Diese genauer zu untersuchen würde auch viel neues für Biologie und Paläontologie bringen - auch bei dem kleinsten Lebewesen kann man schließlich einen vollständigen Genomsatz aufzeichnen. Aber wie die meisten Menschen ist er in der Bewertung eines Lebewesens durch dessen bloße Körpergröße beeinflußt. Wären die Saurier der Erdgeschichte nicht größer als Hunde gewesen - niemals hätten sie dieses weite Interesse von Wissenschaftlern und Laien gefunden.
Günther Cohausz beschäftigt sich, sobald er mit seinem ausgedehnten Frühstück-Mittagessen fertig ist, noch eingehender mit der Chemie des Wassers und der Luft. Das bringt aber zunächst keine neuen Erkenntnisse - Die Zusammensetzung hatten wir ja schnell ermittelt, und dabei bleibt es dann. Lediglich die Änderung einiger Komponenten ist interessant.
Eugen Serpinski verbringt viel Zeit damit, die Außenaufnahmen zu beobachten. Noch sind wir nicht nahe genug an irgendwelchen Tieren dran, um Feinheiten von Knochenbau und Muskulatur zu studieren - das aber ist ja sein wissenschaftliches Hauptinteresse.
Stephen Spaliter verschwindet, kurz bevor die meisten anderen das Mittagessen vollendet haben, und taucht wenig später wieder mit einigen Geräten auf. Er setzt sich an einen frei gewordenen Platz in der Kantine, und ich erkenne Zahnarztspiegel und Sondenhaken und einigen anderen Dingen, die man als Zahnarzt so braucht.
"Der Schulzahnarzt ist da!" ruft er, "Bitte Zähneputzen, und dann alle nacheinander zu mir kommen, irgendwann im Laufe des Tages, ja?"
"Wie das?" frage ich, "Idee von Alten?"
"Nein. Es gehört eigentlich sowieso zu meinen vertraglichen Pflichten. Einmal im Monat sollte ich bei jedem nachsehen. Die ganze Besatzung durchchecken, soweit sich das mit dem normalen Bordbetrieb vereinbaren läßt. Und wir sind jetzt fast einen Monat lang unterwegs."
"Aha." sage ich und bleibe noch ein bißchen. Das Wort 'Schulzahnarzt' erinnert mich an glückliche Kindheitstage, von denen man damals noch nicht gewußt hat, wie glücklich sie waren. Unser Schulzahnarzt, der alte Doktor Biermann, hatte da eine ganz eigene Art, mit den Kindern umzugehen - wer auffiel, bekam vor der ganzen Klasse sein Fett weg. Und so war man immer im Streß, wenn er kam, bis man selbst drangewesen war. Danach kam der angenehme Teil, weil man sich dann der Schadenfreude hingeben konnte, wenn der Doktor jemanden anders herunterputze. 'Was?' rief er da manchmal, und der Tonfall war unheilschwanger wie ein Gewitter am Horizont, 'Ruin, Ruin, Ruin!' oder 'Da ist ja noch ein Rest der Weihnachtsgans - von vor zwei Jahren!' oder 'Da ist ja schon wieder Zahnschmelz unter dem Dreck zu sehen!'.
Nachdem alle Kinder drangewesen waren, erinnere ich mich, stand der alte Biermann auf und gab noch einen Vortrag über die Folgen mangelnder Zahnpflege zum Besten. Das konnte er gut - er malte dann im allgemeinen Fälle mit Komplikationen auf das anschaulichste aus. Manche von uns sahen sich dann schon hospitalisiert und künstlich ernährt, weil man wegen einer Kiefervereiterung die Klappe nicht mehr aufkriegen konnte. - Der gute, alte Biermann - ein Leben lang ungeputzte Kindermäuler durchchecken, zehntausende vielleicht, und was ist bei diesen Bemühungen von ihm und von seinen Berufkollegen herausgekommen? Zahnärzten geht es immer noch überdurchschnittlich gut. Die Mahnungen der Schulzahnärzte müssen wohl nicht auf so besonders fruchtbaren Boden gefallen sein.
Während ich Stephen Spaliter bei seiner Arbeit zusehe, denke ich auch daran, daß meine Klasse privilegiert war - der Sohn des Schulzahnarztes war viele Jahre lang bei uns. Da gab es dann schon mal einen versteckten Hinweis, an welchem Tag man sich die Zähne putzen sollte, um den 'Überraschungsangriff' des Schulzahnarztes kontern zu können.
Stephen Spaliter geht nicht mit so spektakulärer Rhetorik vor. Einigen schlägt er vor, sich mit ihm auf einen Termin in der Krankenstation zu einigen - am besten gleich. Aber im wesentlichen scheint er mit dem Zustand unserer Zähne zufrieden zu sein. Bei mir findet er auch nichts.
Gerald Amurdarjew hält sich meistens im vorderen Oberdeck bei seinen Computersimulationen auf. Am liebsten würde er die alten Modelle, die er schon vor der Welthöhlenexpedition bearbeitet hat, so aktualisieren, daß tatsächlich das rauskommt, was wir jetzt sehen, und damit ist er vollauf beschäftigt.
Natalie ist auch die meiste Zeit im vorderen Oberdeck zu finden, da sie ja in der Krankenstation nach Peer's Tod nichts mehr zu tun hat, aber als ich hinter ihr vorbeigehe, habe ich den Eindruck, daß sie irgend etwas auf den Bildschirmen ließt, was mit der Expedition gar nichts zu tun hat.
Gabi ist im hinteren Labor tätig, ich weiß nicht, womit. Vielleicht muß das hintere Labor auf die baldige Analyse von irgendwelchen mineralischen oder biologischen Proben vorbereitet werden.
Der Pater ist unruhig. Er geht auf und ab, mal im vorderen Oberdeck, mal in der Kantine, mal in den Kabinengängen.
"Jetzt, wo draußen soviel Platz ist, merkt man erst, wie wenig man sich in dieser kleinen Blechkiste die Beine vertreten kann, nicht wahr?" frage ich ihn.
"Ja, das auch. Aber ich bin in Gedanken." sagt er.
"Schwere Gedanken?" frage ich.
"Ich weiß es nicht. Das naheliegende ist - unsere beiden Toten. Die sollen doch einfach über Bord gehen, oder? - Es ist so würdelos!"
"Das ist das übliche Seemannsgrab-Ritual!"
"Könnten wir sie nicht an Bord belassen? Wir haben doch Tiefkühltruhen. Da liegen sie doch jetzt auch."
"Aber Pater!" protestiere ich, "Das erscheint mir genauso würdelos! Außerdem, stellen Sie sich die Probleme vor, wenn einmal die Kühltruhe kaputtgehen sollte, oder die Energie zu lange ausfallen sollte. Das ist ja soweit nicht hergeholt, wie wir wissen. Dann haben wir nicht nur die Lebensmittel, die allmählich vergammeln, sondern dazwischen auch noch die Leichen. Stellen Sie sich das einmal plastisch vor!"
"Da haben Sie natürlich recht. - Ja. Aber könnte man sie nicht an Land bringen, um sie zu beerdigen?"
"Wo wäre denn da der prinzipielle Unterschied?"
"Sie hätten einen Platz, der ..."
"Den haben sie. Die ganze Welthöhle!"
"Wenn sie über Bord gehen, werden sie wahrscheinlich gefressen."
"Das werden Sie sowieso, Pater! Denken Sie an die biologischen Fakten: Unser Körper ist voll von Mikrolebewesen, die sich in jeder Sekunde in einem erbitterten Kampf mit unserem Immunsystem befinden. In dem Moment, wo wir sterben, gewinnen sie diesen. Also, wo ist der Unterschied?"
"Ein Grab ist ein Fokus der Erinnerung. Ihre Charmion hat ja auch ein Grab!"
"Ja, das hat sie. Wir waren damals aber auch nicht in einem beengten U-Boot, wo sie länger aufbewahrt werden mußte. - Natürlich, wenn wir es uns zeitlich leisten können - man könnte an Land gehen, um sie zu beerdigen. Aber das heißt, daß die Leichen noch länger an Bord bleiben müßten, und das heißt auch, daß wir während dieses Beerdigens ziemlich verletzlich sind. - Es braucht eine Zeit, bis man sicher ist, wo man unter freiem Himmel ungefährdet eine Versammlung abhalten kann. - Also, 'unter freiem Himmel' - was man hier drunter versteht."
"Vielleicht haben Sie recht." gibt Palmer zu, "Mir ist es nicht angenehm, aber vielleicht haben Sie recht."
"Folgender Gedanke, Pater," fahre ich mit dem Thema weiter fort, "folgender Gedanke, der gar nicht unseren Gegensatz zwischen Glauben und Nichtglauben berührt: Der Körper ist doch nicht das Wesentliche, jedenfalls, wenn er nicht mehr lebt. Das ist unser beider Ansicht, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Unsere Körper sind das, was wir an materiellen Dingen hinterlassen, nicht? 50 oder 70 oder 90 Kilogramm Materie, die eine Zeitlang nach dem Tode natürlich sehr unangenehm aussehen. Aber wir hinterlassen im Laufe unseres Lebens noch mehr Materie, die auch Bestandteil unseres Körpers war, jedenfalls teilweise! Wir atmen aus, wir pissen und wir scheißen. Niemand käme auf die Idee, einer Klärgrube eine spiritistische Bedeutung zu verleihen. Und ebenso die Versorgungsseite, denken Sie einmal an die! Die Materieströme, die unseren Körper aufbauen und erhalten! Die Wasserleitung und der Supermarkt. - Ja, der Supermarkt! Das, was da auf den Regalen steht, sofern es sich um Lebensmittel handelt, das werden einmal menschliche Körper werden!"
"Sie stellen immer merkwürdige Verbindungen her, Herr Homberg!"
"Habe ich nicht recht?"
"In einem gewissen Sinne - ja. Ich habe in Ihrem Buch diese Sache mit den markierten Atomen gelesen - sie wissen schon, dieses Gedankenexperiment: Alle Atome, die einmal Bestandteil eines gewissen Menschen waren, zu markieren. Ich habe lange drüber nachgedacht. Es macht uns in einem sehr materiellen Sinne alle zu Teilen derselben Welt."
"Ist für Sie das Wort und der Begriff 'materiell' denn immer so abwertend?"
"In der Tradition, in der ich - und vielleicht auch Sie - aufgewachsen sind, ja. Aber man muß es wohl noch einmal durchdenken. Die spiritistische Welt hat eine materielle Basis. Das ist die Welt, so wie Sie sie sehen, Herr Homberg."
"Ja. So kann man es wohl ausdrücken."
"Ich glaube an eine spiritistische Welt jenseits einer materiellen Basis."
"Wäre der Unterschied denn so groß?"
"Ich glaube, da müssen wir noch drüber nachdenken. Ich habe keine endgültigen Antworten - aber Sie auch nicht, Herr Homberg!"
"Nein. Habe ich nicht. Aber in manchen Winkeln des Seins suche ich nicht mehr nach Antworten. Aber was eine spiritistische oder metaphysische Welt jenseits der materiellen betrifft, Pater - ich erinnere mich so dumpf an einige Dinge, die im Kontext dieser Qumran-Rollen aufgetaucht sind! Diese beschreiben doch das historische Frühchristentum, daß durchaus nicht so jenseitig ausgerichtet war! War es nicht so? Es ist nicht mein Hauptinteressengebiet, Pater - ich kann mir historische Fakten nie merken. Sie können mir Fehlinformiertheit vorwerfen, ungenaues Recherchieren! Alles berechtigt! Aber das, woran ich mich zu erinnern glaube ist, daß es das in diesen Rollen beschriebene Frühchristentum interessanterweise schon vor Christus gegeben hat! Und es unterscheidet sich in Einzelheiten durchaus von dem, was für Sie Christentum ist! Was ich darüber gehört habe ist, daß unsere vertraute Version des Christentums eine exportierte, von jüdischen merkmalen befreite Version dieser Qumran-Texte gewesen ist. Oder irre ich mich?"
Der Pater scheint unangenehm berührt zu sein. Da er nichts sagt, rede ich weiter:
"Einzelheiten waren dort völlig anders. Eine strenge Hierarchie dieser frühen Glaubensgemeinschaft, zum Beispiel, und keine Feindesliebe, im Gegenteil - naja, damit wird die Kirche ja nicht allzuviel Schwierigkeiten haben, wie die Geschichte gezeigt hat!"
Palmer kommt immer noch nicht aus der Reserve.
"Und das Ganze ist offenbar für die Kirche so bedrohlich, daß sie die Dokumente, die sie besitzt, streng unter Verschluß hält. Das müssen Sie doch besser wissen als ich, Pater: Da gibt es doch eine kirchliche Behörde, die die 'Reinheit des Glaubens', oder wie man das nennt, überwachen soll - und diese Behörde ist aus der früheren Heiligen Inquisition hervorgegangen. Wie heißt die noch?"
"Das ist die Glaubenskongregation." sagt Palmer.
"Genau. Ich kam nicht auf dieses Wort. Die Nachfolger der Heiligen Inquisition!"
"So kann man das nicht sagen ... sie haben sich geändert!"
"Weil sie mußten, nicht aus Einsicht. Wieso nehmen Sie die in Schutz? - Moment mal ... ich verstehe." Ich sehe den Pater von oben bis unten an: "Sind Sie etwa ..."
"Ja." sagt Palmer, "Ich bin Mitglied der Glaubenskongregation."
Jetzt muß ich schlucken. Natürlich - das ist das logische - wenn die Kirche es schon durchgesetzt hat, daß jemanden von ihnen auf diese Mission mitkommt. Immerhin habe ich auf diese Weise das Vergnügen, mal einem leibhaftigen Inquisitor gegenüber zu stehen. Ich sage das aber nicht. Keine unnötigen Konfrontationen an Bord.
"Gehen wir mal wieder zum konkreten Ausgangspunkt, Pater: Wollen Sie etwas sprechen, wenn wir die beiden - dem Meer übergeben?"
Gerade noch habe ich meine Wortwahl geändert. 'Über Bord werfen' wollte ich jetzt nicht sagen.
"Wenn es gewünscht wird. - Waren die beiden Christen?"
"Wellington kann die Personalakten einsehen, und die Eins und Zwei WO auch. Fragen Sie doch einen von denen!"
Doktor Morton ist hereingekommen und steht schon eine Weile neben uns. Ich wende mich ihr zu: "Ja?"
"Haben Sie Zeit für eine Untersuchung?"
"Jetzt gleich? Ja." Ich nicke dem Pater zu und folge der Ärztin in Richtung Krankenstation.
Ich kann es immer noch nicht glauben: Wir haben einen Inquisitor an Bord - wie im finstersten Mittelalter!
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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