Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


******** ********

63. Schockzustand

Wir alle stehen wie erstarrt. Einen Moment lang. Was ist denn nun passiert? Vor einer Sekunde noch zeigte sich keine Gefahr, aus keiner Richtung.

Die Klaxone schweigen. Stattdessen kommt eine Frauenstimme über die Rundspruchanlage: "Hilfe! Dem Eldermann ist etwas passiert!"

Augenblicklich bin ich auf dem Weg in die Krankenstation. Andere kommen hinter mir her, aber ich sehe mich nicht um.

In der Krankenstation sind die Leute aus der Zentrale natürlich eher angekommen - sie brauchen ja nur durch eine oder zwei Türen hindurch. Trotzdem sehe ich mit einem Blick, daß etwas nicht stimmt: Peer Elderman liegt nackt auf dem Boden. Augen weit aufgerissen, in unnatürlicher Stellung. Er bewegt sich nicht.

Und der Anblick ist obszön: Zum einen wegen der Kanülen, die noch teilweise an seinem Körper befestigt sind, und wegen des Verbandes um seinen Brustkorb, zum anderen wegen einer voll entwickelten Erektion. Trotzdem scheint er tot zu sein.

Natalie steht daneben, ein Bild der Hilflosigkeit. "Ich war doch nur kurz weg!" sagt sie, "Als ich eben wiederkam, lag er so da!"

"Wer hier nichts zu suchen hat, raus!" sagt Wellington, und in die Zentrale ruft er hinein: "Auftauchvorgang stoppen!"

Widerwillig verlassen wir die Krankenstation. Schließlich wüßte ich da gerne mehr Einzelheiten. Aber der Alte wird eingehend mit Natalie und Doktor Morton reden wollen, außerdem wird Doktor Morton Wiederbelebungsversuche machen.

Wenig später finden wir uns alle im vorderen Oberdeck wieder. Das Boot liegt in 40 Meter Tiefe und bleibt vorerst dort.

Alle reden durcheinander, so daß auch die, die nicht mehr dazu gekommen sind, einen Blick in die Krankenstation zu werfen, schließlich alles wissen, was es dort auf den ersten Blick zu sehen gab.

"Warum hat sie denn nun Alarm gegeben? Es wäre doch viel besser, sofort Doktor Morton heranzuholen?" fragt Ulrich Solzbach.

"Panik. Sie hat den Toten gesehen, als sie wieder reinkam und hat die Nerven verloren. Schließlich war sie zu diesem Zeitpunkt gerade für ihn verantwortlich!" versuche ich, zu raten.

"Wo war sie denn?"

"Weiß ich doch nicht. Toilette?"

"Mitten im Auftauchen?" fragt Edwin ungläubig, "Da verkneift man sich doch sowas!"

"Na, ihr wißt doch, wie das ist! Erst verkneift man sich's, um ja nichts zu verpassen, und dann wird das Boot beim Auftauchen immer langsamer, und dann muß man eben ganz dringend, wenn's am spannendsten wird. - Bei spannenden Filmen passiert einem das doch dauernd!"

"Habt ihr gesehen, was für eine ..." Cohäuszchen macht eine unmißverständliche Bewegung.

"Riesenerektion er hatte?" setzt Solzbach fort, wobei er das Wort 'Erektion' so betont, als wolle er erreichen, daß alle, die daran Anstoß nehmen könnten, dies mit Sicherheit auch tun. "Naja, und? Soll ja vorkommen, wenn man tatenlos im Bett liegt. Und wenn dazu noch diese Yay um einen herumschwirrt."

"Dabei war sie anständig angezogen." Cohäuszchen schüttelt den Kopf, "Ganz, wie es sich an Bord gehört."

"Tja." sage ich, "Komisch. Meinen eigenen, bescheidenen Erfahrungen nach stellt sich eine Erektion nicht ein, wenn man krank genug ist. - Aber vielleicht ist das individuell verschieden. Außerdem ist er jung."

"Herwig, erzähl uns jetzt nicht deine geriatrischen Erfahrungen, wenn wir wissen wollen, warum der Elderman umgekommen ist!" sagt Cohäuszchen, "Du lebst ja noch - du bist doch völlig uninteressant!"

"Wir alten Kalkeimer sollten uns da gegenseitig nichts unterstellen!" parriere ich, "Aber mal im Ernst: Gibt man nicht Sedativa, bei Schwerkranken, damit sowas nicht passiert?"

Keiner weiß es so genau. Wir spekulieren weiter. Natürliche Ursache oder nicht? Vermeidbar oder nicht? Hat der große Unbekannte seine Hand im Spiel?

Und schnell stellt sich auch eine andere Erkenntnis ein: Wir werden jetzt im Boot den Innendruck raufsetzen können, ohne auf den Schwerkranken Rücksicht nehmen zu müssen. Die allgemeine Meinung ist, daß das den großen Unbekannten als Täter ausschließt.

"Woher weißt du eigentlich so genau, daß er tot ist?" fragt Cohäuszchen mich.

"Ich? Woher ich das weiß?"

"Ja, du hast gesagt: 'Sie hat den Toten gesehen, als sie wieder reinkam und hat die Nerven verloren.'."

"Ja, das habe ich gesagt. Und? Habt ihr nicht gesehen, wie er dagelegen hat?"

"Daß ist noch lange kein Beweis, daß ..."

"Na schön. Vielleicht nicht. Aber wenn jemand, von dem ich weiß, daß er so schwer verletzt ist, in einer so unnatürlichen Stellung auf dem Boden liegt, Augen weit aufgerissen, alles starr, dann ist er tot. Außerdem ist die Erektion nicht zurückgegangen, solange wir da waren."

"Sollte sie das?" fragt Cohäuszchen.

"Na Günther!" sagt Solzbach belehrend, "Bist du schon mal aus dem Bett gefallen und hast dich dann von vielen fremden Leuten angestarrt wiedergefunden? - Willst du behaupten, daß du unter solchen Umständen eine Erektion beibehälst?"

"Na gut. Ich meine ja nur ..."

"Denk an Gehenkte. Da ist auch häufig eine Erektion zu beobachten. Und bei manchen anderen Todesarten auch. Wir wissen überhaupt nicht, ob er erst seine Erektion bekommen hat, oder ob er erst gestorben ist. - Ist ja auch egal."

"Nein." sage ich, "Das ist es vielleicht nicht."

"Wie meinst du das, Herwig?" fragt Solzbach.

"Ich muß darüber nachdenken. Warten wir einmal ab, welchen Autopsie-Befund die Morton machen wird."

"Wird sie denn eine Autopsie machen?"

"Ich glaube, das muß sie. Wenn eine Todesursache nicht ganz klar ist, und in diesem Fall ist sie das nicht, im Gegensatz zu Colbert, dann muß sie eine Autopsie machen. Sie ist der einzige Arzt in Reichweite, und der Alte ist der einzige Vertreter des Gesetzes. Der Alte muß das veranlassen. Sonst macht er sich eventuell wegen Strafvereitelung strafbar."

"Gilt das nicht nur dann, wenn der dringende Verdacht auf eine Straftat besteht?"

"Ja. Aber der besteht ja. Oder nicht? Habt ihr den bisherigen Verlauf der Reise vielleicht nicht mehr in Erinnerung?"

"Herwig hat recht, Uli." sagt Cohäuszchen, "Sie muß es tun. - Na, da bin ich neugierig."

"Das sind wir wohl alle." sage ich.

Wir warten nun darauf, daß der Auftauchvorgang weitergeführt wird. Dabei nehme ich die Gelegenheit wahr, einige Berechnungen anzustellen:

In dieser geringen Tiefe kommt die Tiefeninformation nicht mehr vom Druck, sondern von den Laufzeiten der Echowellen bis zur Wasseroberfläche. Das ist genauer. Mit diesen beiden Information ist es jetzt möglich, den Druck an der Wasseroberfläche zu messen. Da wir in 40 Meter Tiefe noch einen Druck von 9 Bar haben, ist der Druck an der Oberfläche 5 Bar. Damals, bei unserem ersten Aufenthalt in der Welthöhle, hatte ich 4 Bar geschätzt.

Gabi Gohlmann hat ihre anfängliche Müdigkeit überwunden und schwatzt mit Vivian Grail, die auch dem ersten Sichtkontakt mit der Welthöhle entgegenfiebert und deshalb zu uns raufgekommen ist, über irgendwelche Urlaubsorte, die sie mal besucht haben. Ich schnappe Wortfetzen auf wie zum Beispiel 'breathtaking landscape'. Nun, davon werden sie Kürze genug haben.

Um 2:10 Uhr ist es dann soweit. Wellington, der wohl annimmt, daß jeder auf ist, läßt sich über die Rundspruchanlage vernehmen: "Hier spricht der Käptn. Die Wiederbelebungsmaßnahmen waren nicht erfolgreich. Herr Peer Elderman ist tot. Wahrscheinlich ist er einem akuten Schock zum Opfer gefallen. - Wir setzen das Auftauchen fort."

Das war alles. Keine Mitteilung über Ursachen des Schocks. Keine Vermutungen. Da müssen wir wohl warten, bis die Gerüchteküche Fakten ausspuckt.

Peer Elderman wird seine Saurier nicht mehr zu sehen bekommen. Nicht mehr in dieser Welt.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


Zurück zu meiner Hauptseite