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62. Schleichwege

Amerlingen kommt wieder auf mich zu: "Die Frau Rau ist doch schon schlafen gegangen, ja?"

"Das sah so aus."

"Falls sie vor Mitternacht aufstehe sollte, könnten Sie ihr ausrichten, daß Sie die Hundswache hat? Dann kann sie sich vielleicht noch hinlegen. Wenn sie nicht bis Mitternacht aufsteht, dann wecken Sie sie wie üblich."

"Okay." sage ich.

"Außerdem würden wir jetzt ganz gerne auftauchen."

"Jetzt gleich?"

"Ja. - Da ist ein strömungsdynamisch möglicher Weg. Und wir können ja jederzeit zurück, falls es nicht gehen sollte."

"Das Boot wird wieder steil angestellt werden, nicht?"

"Ich fürchte, ja. An einigen Stellen. Aber wir sind zuversichtlich, daß wir mit etwas mehr Überlegung ohne große Probleme nach oben kommen. Frau Morton weiß schon Bescheid, damit sie den Verwundeten wieder sichert."

Damit wird es Peer besser gehen als Carola, denke ich. Wenn man schläft, dann ist man im allgemeinen sehr überrascht, wenn das Bett langsam in die Senkrechte rotiert. Glücklicherweise kann man sich in den engen Kabinen kaum verletzen. Ich überlege, ob ich sie warnen soll, aber dazu müßte ich sie wecken. Lieber nicht. Sie wird es schon von selber merken, wenn sie im Kopfstand aufwacht.

"Sehen Sie hier." sagt Amerlingen, "Wenn wir aus unserem Alcoven rausgehen, sind wir sofort in einer Vertikalströmung drin. Die wird nach Norden hin aber immer schwächer, weil dort der Spalt enger wird und dazu noch verzweigt. Da wollen wir hin. Wir werden bei diesem Manöver aber noch etwas an Tiefe gewinnen - einige hundert Meter."

"Das sollte wohl möglich sein." sage ich, "Soviel hatten wir ja schon."

"Aber nicht bei 72 Grad Wassertemperatur."

"Mmh. - Ist das kritisch?"

"Wüßten wir auch ganz gerne - die Wärmespannungen sind im Druckkörper am größten. Aber wir bleiben ja nicht lange so tief. Hängt natürlich etwas von der Topographie des Spaltes dort ab, und die können wir von hier aus nicht sehr genau vermessen."

"Sie wollen sagen, Sie wissen nicht, wie tief wir heute noch kommen werden?" stelle ich fest.

"Das will ich zum Beispiel sagen. Und daß so ziemlich alle Vermutungen über die Manöverierbarkeit da drüben auf wackligen Füßen stehen. Wir werden sehen. - Wir fangen um 16:45 Uhr an."

Ich unterichte alle bei uns im vorderen Oberdeck, daß heute noch kein Dienstschluß ist. "Wahrscheinlich müssen wir uns alle wieder anschnallen!" sage ich, "Was mir nur Sorgen macht - wenn das Boot sehr hektische Bewegungen machen sollte, dann ist es besser, wenn niemand in den Kojen liegt. Amerlingen meint, ich soll Carola nicht wecken. Aber das sollte man vielleicht besser doch tun. Ja, und den Edwin auch. Wer schläft denn sonst noch?"

Ich setze mich wieder mit der Zentrale in Verbindung. Nach einigem Hin- und her sind wir uns einig, die gesamte Freiwache rauszuscheuchen, soweit sie in den Kojen liegen sollten. Damit fällt mir die Aufgabe zu, unsere beiden Chefinformatiker zu wecken. Eine der ehrenvollen Aufgaben, die man als Wachhabender so hat.

Edwin schläft fest, aber als ich ihn anrufe und erkläre, daß wir auftauchen wollen, steht er sofort auf. Carola antwortet überhaupt nicht. Dann muß ich sie selbst in ihrer Kabine besuchen.

"Bist du da?" frage ich, als ich ihre Kabinentür einen Spalt weit aufmache.

"Das weißt du doch." knurrt es von innen unwillig zurück, "Ich habe dich gehört. Ich komme gleich."

"Gut. Brauchst du Hilfe?" Ich weiß wirklich nicht, wie ich ihr beim Aufstehen helfen sollte.

"Nein!" kommt es mit überflüssiger Lautstärke zurück. Ich verziehe mich wieder.

Ich entscheide mich, trotz Wache im vorderen Oberdeck zu bleiben, weil in der Zentrale Betrieb genug ist. Vielleicht entgehen mir damit einige wirklich nervenaufreibende Momente. Wenn ich aber meine Motivation etwas gründlicher analysiere, komme ich zu der Erkenntnis, daß die Tatsache, daß das vordere Oberdeck höher als die Zentrale liegt, wenn das Boot auf ebenem Kiel liegt, und daß es erst recht höher liegt, wenn der Bug nach oben zeigt, eine Rolle spielt. Das ist natürlich völlig unlogisch: Wenn dem Boot etwas passiert, dann wird es keinen Unterschied machen, ob man sich in der Zentrale oder im vorderen Oberdeck aufhält.

Edwin und Carola haben inzwischen auch ihre Plätze eingenommen. Beide sehen übermüdet aus. Vielleicht haben sie viel mehr als ich es dachte daran gearbeitet, etwas über den großen Unbekannten rauszukriegen, und dieses sind einfach die Symptome des Scheiterns. Ich weiß nicht. Auch andere sehen abgeschlafft aus.

Vielleicht ist der große Unbekannte auch mit den Nerven fertig und unternimmt deshalb im Moment nichts. Wenigstens ein beruhigender Gedanke!

16:35 Uhr. Alle sind an ihren Plätzen. Wir sehen die Felsen des Alcovens im Lichte der Außenscheinwerfer. Ein dunkles Loch in einem tiefen Meer, jahrmillionenlang ohne Licht, und dann einige Stunden lang diese Festbeleuchtung!

"Wozu dieser Aufwand. Mir erscheint das alles so sinnlos!" sagt Carola.

"Wieso sinnlos? Wieso so plötzlich sinnlos?" frage ich. Solche Äußerungen sind bei Carola nicht üblich.

"Ist doch so. Ist das nicht auch deine Meinung?"

"Du übernimmst von mir eine Meinung nicht ungeprüft! Im allgemeinen übernimmst du von mir überhaupt keine Meinung!"

Edwin beugt sich zu Carola rüber: "Wir können auch in unseren Sitzen schlafen. Wir sind ja nur aus Sicherheitsgründen hier. Wenn Herwig nicht seine langen Monologe vom Stapel läßt, und wenn das Boot nicht zu sehr geschüttelt wird, dann geht das doch ganz gut."

Carola scheint nicht überzeugt. Ich auch nicht: "Ich halte keine langen Monologe. Ich äußere mich manchmal zu gewissen Dingen meines Interesses! - Aber ich halte keine langen Monologe. Das sieht höchstens so aus, weil ..."

"Geht schon los." sagt Edwin.

"Streitet euch nicht." sagt Solzbach dazwischen. Und weil er selten spricht, hören wir auf ihn und streiten nicht. Fürs erste, jedenfalls. Jeder wartet auf das, was da kommen soll.

Der Unterschied zwischen rauf und runter - der Panikfaktor. Sonst nichts. In welchen Situationen werden wir noch lernen, Panik zu vermeiden? Mir fällt wieder die Mitteilung von Buchheim ein, der in seinem Buch erwähnt hat, daß von 40000 U-Boot-Seeleuten im Zweiten Weltkrieg 30000 nicht zurückkamen. Drei von vieren. Was für ein gewaltiger Aufwand von Menschenleben und von Material. Und was ist als einziges übriggeblieben? Ein einziges Buch über den U-Boot-Krieg, das lesenswert ist, daß die subjektive Wahrheit eines Teilnehmers beschreibt. Ein einziges Buch als Ergebnis eines Vorganges, der, wenn überhaupt einen, dann nur diesen Zweck hatte: Dieses eine Buch hervorzubringen. Ist da eine versteckte Rekursivität? Ich schüttele den Kopf. Jetzt nicht darüber nachdenken, wie wenig eventuell von uns bleibt, wenn uns etwas passiert. Ob die EG eine zweite Expedition ausrüsten wird? Und ob die auch den Eingang zu den Außenhöhlen finden wird? Oder ob sie sich einmal für eine ganz andere Methode entscheiden, zum Beispiel, eine direkte Bohrung in einem Gebiet niederzubringen, in dem es einfach keinen Grund gibt, eine Bohrung zu machen, und um auf diese Weise die Welthöhle per Zufall zu treffen?

Wäre das nicht sowieso billiger gewesen? Für den Preis dieses Bootes kann man viele hundert Tiefbohrungen machen. Alle statistisch über Mitteleuropa verteilt - da muß eine die Welthöhle treffen! Oder ist da ein Denkfehler? - Ich stelle fest, daß ich denkfaul bin. Warten können wir jetzt. Abwarten. Unser Leben in der Hand des Rudergängers. Und tausend anderer Zufälligkeiten. In der Hand von Millionen Gedanken, die beim Bau dieses Bootes gedacht worden sind.

Endlich ist es 16:45 Uhr. Die beleuchteten Felswände auf den Bildschirmen entfernen sich allmählich. Gleichzeitig nehmen die unregelmäßigen Schwankungen wieder zu.

Außer den vorbeiziehenden Felsen sehen wir in den nächsten Minuten wenig. Die Wassertemperaturen schwanken dauernd, die meisten Meßwerte liegen zwischen 60 und 75 Grad. Das heißt aber auch, daß der Druckkörper diesen zeitlichen und räumlichen Temperaturschwankungen und den dadurch verursachten thermischen Spannungen unterworfen ist - eine ganz neue Situation auf dieser Reise.

Um 16:50 Uhr haben wir eine Tiefe von 15600 Metern, weitere fünf Minuten später sind es 15700 Meter. Das ist die Tiefe, die wir unter der Jungfrauenspalte hatten, allerdings ist der Druck geringfügig kleiner, weil jetzt die Tiefenmessungen auf Süßwasser korrigiert werden.

Endlose Steilwände ziehen vorbei, stürzen in Tiefen, die Radar und Echolot immer noch nicht erfassen wollen. Klüfte, die vielleicht groß genug für das Boot sind, tauchen auf, aber zwischen zu eng zusammenstehenden Felsen wollen wir nicht fahren. Und immer wieder schüttelt das Boot sich.

Nach oben finden Echolot und Radar auch nichts, aber noch verhindern die Abwärtsströmungen ein Vordringen direkt in diese Richtung.

Endlich, um 17:00 Uhr, als wir 15800 Meter haben, geraten wir einige Sekunden lang in sehr heftige Turbulenzen. Das Boot hat einen Abstand von vielleicht dreißig Metern zur nächsten Felswand, und das ist für diese Situation zweifellos zuwenig. Ich kann mir vorstellen, wie der Rudergänger jetzt fluchen wird. Das Interessante ist aber, daß wir kurzfristig in eine Aufwärtsströmung hineingeraten. In eine heiße Aufwärtsströmung: Die Außentemperatur steigt auf über 95 Grad.

Leider bleibt es nicht lange so - wegen der Turbulenzen muß man einen guten Abstand zu den Felswänden halten, und damit sind wir dieser Aufwärtsströmung genauso ausgeliefert wie der Abwärtsströmung, die uns wenig später erreicht.

"Sollten wir nicht besser umkehren?" murmelt Edwin.

"Wohin?" frage ich. Darauf weiß er auch keine Antwort.

Die Geometrie der Felsen um uns herum läßt sich im Moment am besten als eine nicht genau senkrechte Spalte mit faltigen und immer wieder aufgerissenen Wänden und einem Durchmesser von 150 bis 400 Meter beschreiben. Es ist nicht klar erkennbar, ob dieser Durchmesser über und unter uns zu- oder abnimmt. Die horizontalen Abmessungen der Spalte müssen viele Kilometer betragen. Und es stellt sich nun auch heraus, daß man aus der Spaltengeometrie nicht vorhersagen kann, ob man mit warmen absteigenden oder heißen aufsteigenden Wasserströmen zu rechnen hat. Der Kohlendioxidgehalt des Wassers schwankt auch und ist eigentlich nicht sehr groß. Er scheint mit der Zeit abzunehmen, so, als ob von irgendwoher Kohlendioxid-armes Wasser hinzugemischt wird.

Inzwischen hat die Wasseranalyse auch herausgekriegt, daß viel von den Schwebestoffen im Wasser organischen Ursprunges ist. Dazu finden sich jetzt auch Spuren von Stickstoff, überraschend viel Methan, ein bißchen Kohlenmonoxid und Ammoniak. Dann ist auch eine Spur von Wasserstoffperoxid da - als Cohäuszchen das bei einem Blick auf die Analyse sieht, gibt er seiner Verwunderung Ausdruck: H2O2 sollte in der freien Natur an zahlreichen Katalysatoren zerfallen.

"Vielleicht Seiteneffekt der Kohlendioxidexplosion?" frage ich. Cohäuszchen weiß es auch nicht.

"UV-Strahlung?" fragt er.

"Unter Wasser?"

"Könnte an der Oberfläche erzeugt und mit Abwärtsströmungen hierhergelangt sein."

"Ich weiß nicht. Bei dem trüben Licht da oben habe ich natürlich gedacht, daß kein UV drin ist. Aber natürlich haben wir das nicht messen können."

"Wir werden es bald messen." sagt Cohäuszchen.

Das Wasser ist neutral bis leicht sauer. Eine Reihe von Metallsalzen sind nachzuweisen - eigentlich alles, was überhaupt in Wasser löslich ist. Die Gesamtkonzentration ist aber nicht hoch - die Vielzahl der Analyseergebnisse irritiert, das ist alles. Ein Glas von diesem Wasser da draußen könnte man ohne weiteres trinken: Ein Mineralwasser eben - man müßte es natürlich kühlen.

Ein Seitengewölbe des Hauptspaltes, das wir um 17:50 Uhr finden, zeigt vorwiegend Aufwärtsströmungen. Zu diesem Zeitpunkt ist unsere Tiefe immer noch 15800 Meter. Das und die Tatsache der immer wieder wechselnden Außentemperaturen bewirkt eine ständige Verspannung bei mir: Jede Sekunde erwartet man, daß etwas passiert. Ich nehme mir Mut und rufe das Streßanalyseprogramm auf. Es zeigt nichts Beunruhigendes. Ich prüfe genau, ob es mit den aktuellen Daten versorgt wird, obwohl ich nicht glaube, daß unser großer Unbekannter zweimal dasselbe Spiel versuchen wird.

Das Gewölbe führt in der Tat weiter nach oben, verbindet sich mit anderen solchen Gewölben, wird bei weiterem Vordringen immer unübersichtlicher. Der Aufwärtsstrom stabilisiert sich, die Turbulenzen werden schwächer. Um 19 Uhr hat unsere Tiefe auf beruhigende 12000 Meter abgenommen. Allerdings ist die Außentemperatur in der ganzen Zeit zwischen 95 und 105 Grad.

Ein paarmal nehmen wir eine Abzweigung, die offenbar falsch ist. Wir merken es daran, daß Strömung und Turbulenzen fast ganz abnehmen, aber die Temperatur auf über 130 Grad steigt. An solchen Stellen zieht die CHARMION sich schnell wieder zurück: Der thermodynamische Wirkungsgrad der Fleischmann-Pons-Reaktoren ist unter diesen Umständen sehr niedrig, während die Klimaanlage um so mehr Energie verbraucht.

20 Uhr, 9500 Meter Tiefe. Ein enger Spalt. Kaum Strömung. 110 bis 120 Grad. Stellenweise müssen wir sogar wieder tiefer gehen. Aber da unsere Klimaanlage uns von den Temperaturbedingungen außen nicht das geringste merken läßt, ist hier drinnen immer noch die übliche Raumtemperatur. Edwin döst vor sich hin, Carola ist ganz eingeschlafen. Komisch - warum sind denn plötzlich alle so müde? Günther sagt kaum etwas, Ulrich Solzbach stiert vor sich hin. Smalltalk-Flaute. Auf Befehl des Alten an die Sitze gefesselt. Vielleicht ist das gar nicht nötig. Aber, denke ich, wenn uns die Welthöhle nicht genügend mit Aufregung versorgt, dann kommt der große Unbekannte vielleicht auf dumme Ideen.

21 Uhr, 8000 Meter Tiefe. Immer noch unwegsame Spaltenlandschaft. In der letzten Stunde haben wir zweimal Geräusche aufgefangen: Einmal ein fernes Grollen, und dann ein langes, klagendes Heulen. In beiden Fällen gefolgt von vielen Echos. Unmöglich, etwas über die Einfallsrichtung dieser Lautereignisse auszusagen.

22 Uhr, 6400 Meter. Die Temperaturen werden langsam geringer. Immer noch zu hoch, als daß wir bei Ausfall der Klimaanlage überleben könnten, wenn sich die Innentemperatur erst der Außentemperatur angeglichen hat. Aber die Abnahme ist das, was sich psychologisch erleichternd auswirkt. Es gibt weitere, ferne Geräusche, darunter die meisten vermutlich Lautäußerungen von großen Unterwassertieren. Wieder werden zeitraubende Umwege nötig.

23 Uhr. Immer noch 6400 Meter. Aber die Landschaft reißt auf - wir sind in weiten, steilen Schluchten, die wahrscheinlich einen hochalpin abenteuerlichen Eindruck machen würden, wenn man sie als Ganzes sähe. Keine Echosignale mehr über uns. Sieht so aus, als ob wir jetzt ohne Probleme senkrecht nach oben können.

Die Geräusche der Unterwassertierwelt, von der wir direkt nichts sehen können, sind jetzt allgegenwärtig. Hoher Anteil an organischen Schwebestoffen. Dafür ist die Temperatur in der letzten Stunde, als wir noch in den beengten Spalten waren, stark gefallen. 54 Grad sind es jetzt.

"Sieht so aus, als ob es kein Hindernis mehr zwischen uns und der Oberfläche gibt." sage ich, "Damit hätten wir es geschafft!"

Verschlafen sind sie alle, aber die Aussicht, in Kürze die Welthöhle wenigstens durch die Außenkameras zu sehen wirkt belebend. Sogar Carola spürt die allgemeine Lebhaftigkeit und blinzelt. Gerald geht auf und ab, obwohl niemand gesagt hat, daß wir uns losschnallen dürfen. Aber ich mache es auch so. Gut, die versteiften Glieder bewegen und die verkürzten Sehnen strecken zu können.

Das Boot liegt jetzt auf ebenem Kiel, kommt zum Stillstand, und dann beginnt es, sich senkrecht nach oben zu bewegen. Da die Felswände nun meistens nicht mehr in der Reichweite unserer Außenscheinwerfer sind, werden diese erst gedrosselt und dann ganz ausgeschaltet. Damit wir nichts anlocken. Der große Rochen ist uns allen noch in guter Erinnerung.

Wie sehr wir doch auf unsere Sinnesorgane fixiert sind, denke ich. Schon an dem, was wir jetzt an organischen Schwebestoffen analysieren könnten, können wir genug über die Biosphäre der Welthöhle lernen, um Generationen von Biologen zu beschäftigen. Aber den eigenen Augen trauen wir doch, bei aller Beschränktheit derselben, am allermeisten.

Mitternacht. 10. Februar 1999. Ein Mittwoch. Das jetzt wie ein Fahrstuhl gleichmäßig aufsteigende Boot hat eine Tiefe von 2800 Meter erreicht. Die Außentemperatur ist immer noch 54 Grad, vielleicht gerade eben 53. Stabile Schichtung, denke ich: Dieser Teil des Welthöhlenmeeres ist, vor kurzer Zeit wenigstens, nicht von einer Kohlensäureexplosion durchpflügt worden. Wir haben vom Ort unseres tiefsten Vordringens ja auch eine Versetzung von 14 Kilometer oder so in horizontaler Richtung erreicht.

"Carola, aufwachen! Deine Wache! Dienstfreude vortäuschen!" sage ich.

"Ich bin wach." knurrt sie.

"Alle anderen auch. Gleich ist Weihnachten! - Solange in der Zentrale normaler Betrieb ist, kannst du wahrscheinlich hier bleiben!"

"Weiß ich. Hat mir Wellington selbst nahegelegt."

"Andererseits könnte es deine aufregenste Wache werden!"

"Kann ich drauf verzichten."

"Jeder möchte hier auf Aufregungen verzichten. Seid ihr denn nicht inzwischen Abenteuer-gestählt?"

Carola guckt mich giftig an und würdigt mich keines weiteren Wortes mehr.

Die Bildschirme, die sich jetzt der größten Aufmerksamkeit erfreuen, nämlich die Außenansichten, zeigen nichts. Aber als ich das Bildanalyseprogramm aufrufe, mit dem man aus einem Bild jede noch so versteckte Information herausdestilieren kann, kriege ich etwas heraus: Es ist ein diffuses Licht da draußen - nicht alles, was wir an wesenlosem Schneegestöber sehen, ist das elektronische Rauschen der Kamera.

"Entweder," sage ich, "gibt es schon Licht, das bis zu dieser Tiefe durchdiffundiert, oder es sind irgendwelche biochemischen oder biologischen Prozesse, die hier dieses oder jenes Lichtquant erzeugen."

"Nützt uns das was?" fragt Edwin.

"Nein. Es sei denn, man will eine wissenschaftliche Veröffentlichung ohne ernsthaften Hintergrund machen. Was meinst du, wieviel seinerzeit über das 'Shuttle-Glow' gerätselt wurde!"

"Über das was?"

"Über das 'Shuttle-Glow'. Lichterscheinungen um das Space-Shuttle herum, während es im Orbit war."

"Was wars denn?"

"Restliche Moleküle aus der Hochatmosphäre, die mit der Shuttle-Oberfläche kollidierten und dabei so angeregt wurden, daß sie Licht aussendeten. Lag eigentlich nahe."

"Wenn es nahelag, warum hast du es der NASA nicht geschrieben, was es ist?"

"War das jetzt eine ernsthafte Frage?"

"Nicht ernsthafter als der Versuch, das Licht da draußen mit dem Shuttle-Glow in Verbindung zu bringen."

"Ich habe nicht das Licht da draußen mit dem Shuttle-Glow in Verbindung gebracht, sondern ich habe den Prozeß der Wissensgewinnung über das Licht da draußen, denn wir noch nicht abgeschlossen haben, mit dem Prozeß der Wissensgewinnung über das Shuttle-Glow, der seinerzeit abgeschlossen worden ist, in Verbindung gebracht!"

"Herr im Himmel," sagt Carola, "ihr redet einen Scheiß zusammen!"

"Amen." sage ich. Mehr fällt mir dazu nicht mehr ein.

Kurz darauf kriegen wir mehrere Echos von bewegten, großen Objekten in einigen Kilometern Entfernung. Da diese Erscheinung aber nur wenige Sekunden anhält, und da sich Objekte gleichzeitig in entgegengesetzter Richtung zeigen, bin ich geneigt, an Meßfehler oder irgendwelche seltsamen Echos zu glauben.

"Anderes U-Boot. Die Russen sind schon da." sagt Günther.

"Hahahahaha." sagt Carola in unlustigem Tonfall.

"Um 0:30 Uhr wird das Restlicht draußen geringfügig heller. Die Tiefe ist noch 1000 Meter. Da wir dem großen Rochen in einer Tiefe von mehr als 3000 Metern begegnet sind, wissen wir, daß wir schon seit langem anderen Tieren begegnen könnten. Es gibt aber nur Plankton und Kleintiere und die allgegenwärtige Kulisse der fernen Lautäußerungen großer Tiere. Letztere hat sich seit einer halben Stunde nicht geändert - ein Zeichen dafür, daß die akustischen Umgebungsbedingungen sich nicht wesentlich geändert haben.

Die Steiggeschwindigkeit nimmt geringfügig ab. Jetzt ist es noch ein halber Meter pro Sekunde. In etwas mehr als einer halben Stunde kommen wir oben an. Merkwürdig - dieser Anti-Klimax. Bei diesen Anstrengungen, die wir unternommen haben, um hierherzukommen. Vielleicht liegt die fehlende Begeisterung auch an der späten Stunde.

"Ist der Peer wach?" frage ich, "Weiß jemand, wer bei ihm ist? - Ich glaube, er hat ein starkes emotionales Interesse an der Welthöhle."

"Wahrscheinlich Natalie oder die Morton. Außerdem - in der Krankenstation sind doch auch Bildschirme, oder?" fragt Cohäuszchen.

"Ja, aber vielleicht - ich hatte den Eindruck, daß er den genauen Augenblick des Auftauchens nicht verschlafen möchte!"

"Dann geh doch hin!"

Ich gehe nicht hin. Hier, im vorderen Oberdeck gibt es naturgemäß mehr Bildschirme - hier können wir die Ansichten aller Außenkameras gleichzeitig im Blickfeld haben.

"Gut, daß keine von den Außenkameras kaputtgegangen ist." sage ich.

"Dann könnten wir daran auch nichts ändern." Was ist bloß mit der Carola los? Dieser aggressive Unterton - die ganze Zeit schon! Die anderen sind doch auch nicht so giftig. Habe ich irgendetwas getan? Ich kann bei mir keine Schuld finden.

0:45 Uhr, Tiefe 550 Meter. Auf einem der Bildschirme ist plötzlich ein Gespenst. Ich halte den Atem an.

Langsam rotiert es, windet zahlreiche Arme um sich, sinkt dabei in die Tiefe. Oder besser: Es ist fast stationär, und wir steigen ja. Was wie eine Fratze ausgesehen hat, zerfließt wieder zu organischen Formen.

"Ein Ast." sagt Cohäuszchen. "Ein faulender Ast. Die Lichtverstärkung hat das bißchen Licht so stark sichtbar gemacht." Na klar. Was sonst?

"Ich hatte einen richtigen Schreck bekommen!" sagt Gabi. Wie schön - es ging also nicht nur mir so.

0:55 Uhr. Tiefe 250 Meter. Die Bildanalyse zeigt, daß das Licht zunimmt. Zu sehen ist immer noch nichts. Dann aber beginnt in den nächsten Minuten das Bildrauschen abzunehmen. Bald zeigen die Außenkameras, die nach oben ausgerichtet sind, verschwommene Bewegungen. Die Oberflächenwellen!

1 Uhr. 100 Meter. Das Licht kommt deutlich von oben. Kein Zweifel mehr möglich. Seit langer Zeit Licht, das nicht von uns selbst erzeugt wurde. Und die Schlieren, die die Oberflächenwellen erzeugen, werden immer deutlicher, besonders am Rand des Lichtkreises, auf den unter Wasser ja immer die gesamten 180 Grad des Himmelsgewölbes abgebildet wird.

"Fertigmachen zum Auftauchen in 5 Minuten." Das war Amerlingen's Stimme, die da über die Rundspruchanlage zu hören war. Was sollen wir uns fertigmachen? Wir werden auftauchen, und damit fertig. Schwierigkeiten gibt es höchstens noch, weil wir eventuell wegen zu hohen Wellenganges die Luken nicht aufmachen können. Aber das können wir ja sowieso nicht, wegen Peer.

Unsere Steiggeschindigkeit nimmt weiter ab. Um 1:05 Uhr sind wir noch 50 Meter tief. Ohne den Oberflächenwellengang könnte man schon über uns etwas von der Landschaft sehen. Das Boot liegt immer noch wie ein Brett - ein deutliches Zeichen dafür, daß es im Moment keine langwelligen Wasserbewegungen, die sich bis in diese Tiefe hinein auswirken würden, gibt.

"Eigentlich," doziere ich, "muß sich nach einem Sturm in der Welthöhle die Wasserfläche immer sehr schnell wieder beruhigen. Eine Welle kann in keine Richtung sehr lange geradeaus laufen, ohne irgendwo anzubranden. Außerdem ist starker Wind in der Welthöhle nicht üblich. - Das ist nicht der Pazifik."

"Das wissen wir, daß das nicht der Pazifik ist." sagt Carola.

"Schön. Eins plus. Setzen!" sage ich.

"Streitet euch nicht," sagt Edwin, "seid lieber froh, daß gerade nichts passiert!"

In diesem Moment schreien die Alarm-Klaxone auf.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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