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60. Umarmungen
Wir alle werden leichter. Der Rudergänger gibt Tiefenruder. Die CHARMION beschleunigt, um so rascher Tiefe zu gewinnen. Auch in der Zentrale hat man die flache Fleischscheibe, die sich mit welligen Bewegungen rasch nähert, gesehen.
"Warum gehen wir nicht nach oben und verstecken uns zwischen den Hügeln?" schreit Carola mit steigender Lautstärke. Dann ist es da, stößt gegen das Boot. Alles schwankt.
"Festhalten und Anschnallen!" hören wir gleichzeitig über die Rundspruchanlage, "Es ist keine Gefahr! Wiederhole, es ist keine Gefahr!"
"Ist es wirklich nicht! Es kann das Boot nicht verdauen!" rufe ich, als ich mit meinem Sitz kämpfe. Die Bewegungen des Bootes sind nicht hart, aber unvorhersagbar. Dazu das Scharren auf der Außenhaut und ein tiefes Knurren, Scharren und Schürfen. Trotzdem gelingt es mir schnell, mich anzuschnallen.
"Ist das ein Rochen?" fragt Edwin.
"Frag Herrn Reinhardt! Der weiß doch alles!" Im gleichen Moment tut es mir leid - ich wollte Reinhardt nicht beleidigen. Habe ich aber vielleicht auch gar nicht, denn er antwortet mit ziemlich sachlichem Tonfall: "Sieht so aus. Man erkennt ja kaum etwas!"
In der Tat können wir das Tier nicht als Ganzes erkennen, und auch nicht, was es macht. Es scheint das Boot zu umfassen, weil wir die graue Haut gleichzeitig auf Bildschirmen sehen, die Kameras an entgegengesetzten Seiten des Schiffes zugeordnet sind. Will es das Boot zerdrücken? Zerschlagen? Zerbeißen? Ich weiß nicht. Aber ich habe wenig Sorge - dieses Boot ist über 12000 Meter von seiner bisherigen maximalen Tauchtiefe entfernt - das gibt nicht nach.
"3300 Meter. Wieweit will er noch runter?" fragt Cohäuszchen.
"Soweit es geht. Wir können. Ob das Viech kann, weiß ich nicht. Würde mich wundern." sage ich. Werden wir jetzt, gleich zu Anfang unseres Aufenthaltes in der Welthöhle, die Tiefe der Welthöhlenozeane auf diese Weise ausloten? - Wahrscheinlich nicht - das Tier wird lange vorher von uns lassen.
Jetzt sind wir endlich alle angeschnallt. Das Deck hat sich 30 Grad nach vorne geneigt. Auf den Bildschirmen ist sehr wenig zu erkennen. Manchmal läßt es das Schiff los, kommt dann aber immer wieder. Carola atmet heftig. Ich beuge mich zu ihr rüber:
"Mach dir keine Sorgen! Kein Tier kann dieses Boot zerbeißen! Mit organischen Mitteln kann man nicht die erforderlichen Kräfte aufbringen! Wenn wir so einfach wegtauchen, dann schützen wir dadurch mehr das Tier als uns selbst!"
Sie scheint nicht überzeugt. Ich überlege mir, ob die Wärme unserer Wärmeaustauscher das Tier eher anzieht oder abschreckt, komme aber zu keinem Ergebnis.
"4000 Meter." sagt Cohäuschen. Inzwischen läuft die CHARMION über 30 Kilometer pro Stunde und unsere Tiefe nimmt in jeder Sekunde um 4 bis 5 Meter zu.
Dann werden die Bildschirme dunkel. Carola zuckt wieder zusammen. "Jetzt sind sie in der Zentrale auch auf die Idee gekommen, daß es durch das Licht der Außenscheinwerfer angelockt wird."
Die Rundspruchanlage meldet sich wieder: "Wir haben Echos voraus. Wir gehen steiler runter. Sind alle gesichert?"
Rhetorische Frage. Zu dem Urwelttier da draußen äußert Wellington sich nicht. Wahrscheinlich nimmt er an, daß alle den Sinn der Manöver begreifen.
"Was für Echos voraus?" fragt Gabi, "Noch mehr von diesen Tieren?"
"Nein," sagt Gerald, "Felsen. Wir können nicht erwarten, daß es hier beliebig tief und beliebig weit weiter geht. - Es ist interessant, daß es gerade hier so bodenlos weit runterzugehen scheint. Vielleicht hat das auch mit diesen Kohlensäureexplosionen zu tun."
"4500 Meter." sagt Cohäuszchen, "Komisch. Da stimmt was nicht."
"Was denn?"
"Die Tiefenzunahme. Wir laufen jetzt mit 20 Knoten. Das sind 10 Meter pro Sekunde. Bei 45 Grad Nickwinkel sollte die Tiefe also in jeder Sekunde etwa um 7 Meter zunehmen, nicht?"
"Genau." bestätige ich.
"Es sind aber zehn Meter. Alle 50 Sekunden 500 Meter."
"Bist du sicher?"
"Ganz sicher. Ich zähle noch einmal nach."
"Mmh. Na, wenn schon. Dann gibt's hier eben eine Abwärtsströmung." Ich sehe Gerald an: "Hat vielleicht auch etwas mit der Kohlensäureexplosion zu tun!" Gerald zuckt mit den Achseln.
Die Temperatur ist inzwischen 50 Grad. Ich weise Gerald darauf hin, und er meint, auch das könne mit der gerade erfolgten Kohlensäureexplosion zu tun haben. Kühlere, abwärts fallende Wassermassen, denen irgendwo anders sicher warme, aufsteigende Wassermassen gegenüberstehen. Für diese Tiefe sind 50 Grad sehr kühl - nach den klassischen geologischen Modellen der Erdrinde sowieso. Aber die sind inzwischen ja endgültig ad Akta gelegt.
Gute zwei Minuten später läßt das Tier endlich von uns ab. Einige Sekunden lang sehen wir noch auf einigen der Bildschirme eine wabernde Fleischmasse, die von muskulösen Wellen durchzogen wird. Dann verläßt das Tier den Bereich der Scheinwerfer und ist nur noch auf den Ortungsschirmen zu erkennen. Es entfernt sich rasch nach oben.
Wir haben eine Tiefe von 6000 Metern erreicht - 6000 Meter unter dem Wasserspiegel des Welthöhlenozeans bedeutet 18 Kilometer unter dem Meeresspiegel der Erdoberflächenozeane, mache ich mir klar. Nie zuvor waren Menschen so tief - aber in der Lage waren wir auf dieser Reise ja schon öfter.
"Wir bewegen uns in einem Riesenspalt von etlichen hundert Metern Durchmesser, wenn man den Lotungen glauben darf!" sagt Gerald, "Und unter uns ist immer noch kein Grund. Das sind Formationen! - Du hast damals nur einen Teil gesehen, Herwig! - Den unterseeischen Teil konntest du ja nicht sehen."
"Ich nehme das nächste Mal eine Taucherbrille mit, wenn ich auf die Zugspitze gehe!" sage ich, "Ist das Viech jetzt ganz weg? - Das Boot schaukelt noch!"
"Wir bremsen grad ab. - Aber es könnte sein, daß es hier Turbulenzen gibt." sagt Gerald. Ein paar Minuten sagt keiner was. das Boot pendelt durch und liegt wieder auf ebenem Kiel.
Und es sinkt weiter!
"7000 Meter!" sagt Cohäuszchen, "Glaubt ihr's jetzt?
"Sinkrate?" frage ich. Ich kann es ebensogut selber ablesen: "5 Meter pro Sekunde. Und wechselnd. Ganz ordentlich. Wellington wird das Boot steil anstellen müssen, um dagegen anzukommen - bleiben wir am besten ageschnallt!"
"Ich könnte jetzt eine ketzerische Frage stellen!" sagt Edwin, "Aber die Carola sieht schon beunruhigt genug aus!"
"Frauen sind stabiler als du denkst!" sage ich, bevor Carola etwas sagen kann, "Frag ruhig!"
"Was machen wir, wenn diese Abwärtsströmung doppelt so stark werden sollte wie sie jetzt ist?"
Betretenes Schweigen. "Frag das Wellington!" schlage ich vor.
"Ein bißchen versteht er wohl auch von der U-Boots-Betriebstechnik."
Das Deck hebt sich zum Bug hin an. 10 Grad, dann 15, dann 20. Das Boot nimmt wieder maximale Fahrt auf.
Und sinkt weiter!
Kurz darauf hören wir über die Rundspruchanlage, daß wir angeschnallt bleiben sollen. Es ist auch ganz angenehm so, denn das Boot schaukelt, als ob es immer noch von dem Riesenrochen berannt würde - dabei ist von dem nichts mehr zu sehen. Der hatte, außer für die berufliche Reputation von Dr. Reinhardt, keine Gefahr gebildet. Aber jetzt?
Das Boot nimmt einen Anstellwinkel von 45 Grad ein. Bei voller Fahrt wäre das eine Steigrate von 7 Metern pro Sekunde. Ich beobachte den SISC: 7328 Meter zeigt er in diesem Moment an. Die Ziffern bewegen sich nicht. Und als sie sich bewegen, ändern sie sich in 7329 Meter. Das Boot sinkt immer noch. Und es schaukelt stärker.
Das muß man auch in der Zentrale gemerkt haben. Der Nickwinkel nimmt weiter zu. Als er 60 Grad überschreitet, nimmt die Tiefe eine Zeitlang meterweise wieder ab. Aber das bleibt nicht so. Bevor die Trägheitsnavigation, die sich auch ständig ein Bild über die Strömungsverhältnisse rundherum verschaffen kann, den günstigsten Kurs nach oben ausrechnen kann, hat sich schon wieder alles geändert. Die Fallgeschwindigkeit des Wassers nimmt weiter zu. Das Boot stellt sich senkrecht, und wir sitzen wie Astronauten zur Bewegungslosigkeit verdammt in unseren Sitzen. Diesmal ist die Kantine über uns, und ich denke daran, daß, wenn jetzt jemand ein Tablet hat liegenlassen, dieses unter ungünstigen Umständen auf uns herabfallen könnte.
Die CHARMION fährt mit Volldampf. Und die Tiefe nimmt jede Sekunde stetig um 2 Meter zu. Plötzlich bekomme ich Angst: Was, wenn sich diese Situation überhaupt nicht in den Griff kriegen läßt?
"Herwig, kann er nicht die Batterien zuschalten?" fragt Edwin mich.
"Soviel ist da nicht drin. Und mit leeren Batterien - dann braucht nur noch der Reaktor auszufallen! Ich glaube, das riskiert Wellington nicht."
"Ja, aber was machen wir denn dann?" fragt Carola. In ihrer Stimme ist Panik.
"Abwarten. So eine Strömung kann nicht beliebig weit in die Tiefe gehen!" Ich überlege mir, ob ich noch dazu sagen soll: 'Spätestens in Neuseeland ist Schluß', entscheide mich dann aber dagegen.
Eine kurze Zeit sagt niemand etwas. Dann erreichen wir 8000 Meter Tauchtiefe - 20 Kilometer unter der Erdoberfläche!
"Die Fallgeschwindigkeit nimmt weiter zu - diese Spalte wird enger. Sind nur noch ein paar hundert Meter." sagt Gerald dazu. Mir wird klar, daß die Option, die Batterien zuzuschalten, wenn wir sie mal gehabt haben sollten, inzwischen nicht mehr besteht. Der Rudergänger muß nun höllisch aufpassen, daß das Boot nicht mit den Wänden kollidiert.
Die Bildschirme mit den Außenansichten bleiben dunkel. Die gesamte Energie wird für den Vortrieb verbraucht. Und als von der Zentrale aus die meisten Beleuchtungskörper abgeschaltet werden, wird auch in mir die Unruhe immer stärker.
Ich fange an, zu rechnen: Maximale Drucktiefe bis jetzt war 15700 Meter, kurzzeitig etwas über 16000 Meter. 8000 Meter haben wir überschritten, die Fallgeschwindigkeit ist im Augenblick etwa 3 Meter pro Sekunde. Wenn es so weitergeht, dann haben wir in 45 Minuten die verbleibenden 8000 Meter hinter uns gebracht. Solange werden wir noch leben. Und dann?
12:51 Uhr - 9000 Meter unterschritten. Ich denke an das Geschwindigkeitsprofil einer Strömung. In der Nähe der Wände ist die Strömungsgeschwindigkeit doch geringer! Warum gehen sie nicht näher an die Wände ran, um dann langsam wieder nach oben zu kriechen? Wellington muß das doch wissen! Oder sind die Turbulenzen dazu in Wandnähe zu groß? Was sagt die Trägheitsnavigation dazu?
Die Minuten kriechen weiter dahin. Von den Diskussionen in der Zentrale kriegen wir nichts mit. Oder diskutieren sie nicht? Sind sie dort vor Schreck gelähmt? Müßte man sich aus dem Sitz befreien und in die Zentrale klettern, um einzugreifen?
12:55 Uhr - 10000 Meter. 22 Kilometer unter der Erdoberfläche! Die Fallgeschwindigkeit des Bootes ist größer geworden - jetzt sind es etwa 4 Meter pro Sekunde.
Der Bug neigt sich. Ich verstehe: Die Geometrie dieses Spaltes legt es nahe, daß woanders die Abwärtsströmung weniger stark ist. Dazu muß man den Spalt in Längsrichtung entlangfahren, und dazu kann man das Boot nicht senkrecht ausgerichtet bleiben lassen. Das wird ein Kunststück der Steuertechnik, denke ich mir - wenn sie das Boot jetzt einpendeln würden, dann hätten wir eine Fallgeschwindigkeit von 14 Metern pro Sekunde!
60 Grad, dann 50. Die Tiefenangabe auf dem SISC ändert sich abenteuerlich schnell. Wir erreichen 11000 Meter.
"Herwig!"
War das Carola? "Was ist?" frage ich.
"Ich will nicht sterben!"
"Wir werden nicht sterben. - Außerdem geht es ganz schnell." Zu spät, denke ich. Mit dieser Logik darf ich Carola nicht kommen.
"Ich wollte noch ein paar Dinge tun."
"Das wollten wir doch alle!" Wie komme ich denn dazu, Seelsorger zu spielen? Wer tröstet mich? Ich will auch nicht sterben!
Das Boot hat jetzt einen Anstellwinkel von 40 Grad. Wir verlieren 5 Meter pro Sekunde. Ich rechne nach: "Ich glaube, die Fallgeschwindigkeit nimmt ab! - Die vom Wasser, meine ich, nicht unsere!"
"Könnte sein," sagt Gerald, "Die Geometrie der Spalte ist unübersichtlich. Da könnten Strömungsanteile abgezweigt werden. Aber ich kann nicht so schnell eine Übersicht gewinnen, wie wir an solchen Stellen vorbei sind."
"Oder die Strömung selber wird schwächer!" sage ich, "Es können ja nicht ewig kühlere Wassermassen absinken. - Carola?"
"Ja?"
"Du kriegst heute noch deine Mittagspause! - Nur etwas später."
"13000 Meter." sagt Cohäuszchen. Seine Rohheiten sind manchmal sehr eigenwilliger Natur, denke ich.
Aber meine Beobachtung stimmt: Die Fallgeschwindigkeit nimmt weiter ab. Ich weiß nicht, woran es liegt. Die Spaltwände sind nur noch 200 Meter voneinander entfernt, und dieses ist nicht die Stelle des Spaltes mit dem größten Durchmesser. Vielleicht gelingt es doch noch, Teile dieses mächtigen Spaltes zu erreichen, die eine geringere Abwärtsströmung als 10 Meter pro Sekunde haben. Dort könnten wir uns dann wieder nach oben schleichen.
Nebenbei denke ich daran, daß die Gesamtgeometrie dieser Höhle jetzt sehr schwer zu verstehen ist. Wir sind jetzt zum Beispiel tiefer als der Oesophagus maximus. Die Höhlensysteme 'Welthöhle' und die 'Äußeren Höhlen' sind ganz offensichtlich sehr ineinander verschränkt. Wieso sind sie dann trotzdem fast vollständig voneinander getrennt?
Wieder schwankt das Boot stark, dann legt es sich auf fast ebenen Kiel. Die Tiefenanzeige erreicht 14000 Meter. Die Sinkgeschwindigkeit des Bootes ist zwar jetzt 6 Meter pro Sekunde, aber das ist auch ungefähr die Geschwindigkeit des fallenden Wassers. Wenn wir das Boot entgegen der Strömung ausrichten, könnten wir es bereits zum Stillstand bringen.
"Siehst du, Carola? Wir haben eigentlich schon gewonnen!"
"Aber die Tiefe nimmt immer noch zu!"
"Weil die in der Zentrale versuchen, noch günstigere Teile des Spaltes anzusteuern. Dazu muß man ungefähr waagerecht fahren. Deshalb werden wir noch etwas weiter nach unten gehen. Aber nicht mehr viel!"
Ich hoffe, ich habe das mit genügender Überzeugungskraft gesagt. Das, was der Rudergänger jetzt tun muß, ist eine diffizile Optimierungsaufgabe. Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, fällt Gerald noch etwas auf:
"Etwas anderes nimmt auch noch zu!"
"Was denn?"
"Die Temperaturen der Felswände. Nach Infrarotspektrum sind es 130 Grad. Das Wasser ist zwischen 52 und 60 Grad warm - das wechselt dauernd."
"Denkst du daran, daß die Kohlensäureexplosionen in Wirklichkeit Dampfexplosionen sein könnten?"
"Eine Denkmöglichkeit unter vielen. Der CO2-Gehalt hat übrigens schon abgenommen, als wir anfingen, diesem Rochen auszuweichen."
"Ich habe nicht drauf geachtet."
"Ich auch nicht, aber ich habe mir eben die Aufzeichnungen angesehen." Gerald deutet auf den SISC: "Die nächste runde Zahl!"
Der SISC zeigt 15000 Meter an. "Immerhin haben wir für die letzten tausend Meter ganze 8 Minuten gebraucht." sagt er, "Immer noch ganz schön schnell. Wenn man bedenkt, daß wir in den Außenhöhlen für diesen Tiefe Tage benötigt haben!"
Wir fallen wieder in Schweigen. Das gedämpfte Licht, die dunklen Bildschirme, die immer noch steigenden Tiefenangaben, das Schwanken des Decks - eine gespenstische Atmosphäre. Aber gerade die Bootsbewegungen sind es, die noch am meisten zu Hoffnungen berechtigen: Die sind jetzt vorwiegend von uns ausgelöst. Gewissermaßen handelt es sich um die Suche nach 'Aufwind'.
"Ich hätte nie gedacht, daß die Meere in der Welthöhle so tief sind." sage ich, "Ich dachte, daß, im gesamten Bild, gerade der Boden der Welthöhle ein bißchen mit Wasser bedeckt ist. Jetzt sieht es so aus, als ob der größte Teil unter Wasser ist, nicht?"
Gerald ist nicht einverstanden: "Nein. Erstens hat dieser Spalt nicht die lichte Weite, die in der der Welthöhle so vorkommen, wie du berichtet hast, und zweitens kann es sich um eine Ausnahme handeln. Immerhin sind wir wahrscheinlich unter dem 'Donnernden Meer'!"
"Da hast du auch wieder recht. Dann sind wir jetzt wirklich an einer der tiefsten, für Menschen erreichbaren Stellen des Planeten, nicht? - Mein Gott, wenn man sich das vorstellt - mehr als 27 Kilometer tief. Das Gestein rundherum müßte glutflüssig sein!"
"Warm ist es jedenfalls." nickt Gerald, "Und es würde hier noch wärmer, wenn die Strömung aufhört. Wir dürften keinesfalls hierbleiben. - Na, jetzt sieht es so aus, als haben sie etwas gefunden!"
Er bezieht sich auf die Echolotdarstellung auf den Bildschirmen. Dort ist jetzt zu sehen, daß das Boot einen seitlichen Einschnitt im Fels ansteuert - eine Loge, gewissermaßen, die groß genug ist, das ganze Boot aufzunehmen. Darinnen sind Strömung und Wirbel gering genug, um dem Boot zu ermöglichen, eine stationäre Position einzunehmen.
Minuten später ist das geschehen. Es ist 13:25 Uhr, und die Tauchtiefe ist 15400 Meter.
"Ewig lang können wir hier nicht bleiben! Seht euch die Außentemperatur an! 72 Grad. Und die Strahlungswärme des Felsens." sagt Amurdarjew.
"Warum bleiben wir überhaupt hier?" fragt Carola.
"Ich nehme an, daß wir jetzt erst einmal abwarten wollen, ob diese Strömung sich zeitlich verändert. Wenn sie deutlich schwächer wird - und dazu reichen 40 Prozent aus - dann können wir sogar denselben Weg zurücknehmen, den wir eben gekommen sind."
"Weißt du das oder glaubst du das?"
"So würde ich es machen, wenn ich Kapitän wäre!"
In diesem Moment geht die Innenbeleuchtung des Bootes wieder auf ihre übliche Stärke. Die CHARMION braucht nicht mehr alle Energie zum Manöverieren. Aber die leichten Schwankungen des Bodens zeigen, wie unruhig das Wasser hier ist. Ohne Rechnerhilfe könnte man das Boot gar nicht stationär halten.
Als wir wenig später in Richtung Kantine gehen - das gescheiteste, was wir jetzt machen können - bemerke ich, daß die Stoßfugen wieder vollständig zusammengepreßt sind. Das Boot ist durch den Druck wieder kleiner geworden.
Aber es zeigt nicht die Spur einer Fehlfunktion.
15400 Meter, denke ich. Viel hat nicht mehr gefehlt, und wir hätten schon wieder drucktechnisches Neuland betreten.
In der Kantine setze ich mich Carola gegenüber. Sie scheint einen Moment ausweichen zu wollen, aber ich bin stur. Soll ich Normalität spielen? Ich glaube nicht. Nicht lügen. Den 'wahren Satz' sagen, wie Hemingway es ausdrückte.
"Ich hatte heute die Hosen gestrichen voll." sage ich.
"Ja." sagt Carola kurz. Edwin setzt sich neben uns.
"Jedenfalls merkt man bei solchen Gelegenheiten, ob man am Leben hängt oder nicht. Nicht?"
Carola sagt nichts. Aber Edwin: "Ich habe den Peer beneidet."
"Warum denn den?"
"Der hat nichts von alledem mitgekriegt."
"In der Krankenstation gibt es auch einen Situation Screen. Und daß das Boot eine so extreme Lage eingenommen hat, wird er wohl schon mitgekriegt haben, wenn er wenigstens ab und zu bei Bewußtsein ist! - Die Morton muß ja irgendetwas unternommen haben, damit er nicht von der Koje herunterrollt."
"Ja, vielleicht. Wenn sich das Boot schiefliegt, merkt es jeder an Bord."
"So ist es. Du ißt ja nichts, Carola!"
"Keinen Hunger."
"Ich schon. Oder ist das kein Tag für die alten Epikuräer? 'Lasset uns essen und trinken und fröhlich sein, denn morgen sind wir vielleicht schon alle tot. Oder, wer weiß, vielleicht heute schon!'"
"Du gehst mir auf die Nerven!"
"Seelischer Zuspruch liegt dir nicht, Herwig." sagt Edwin mit einem Seitenblick auf Carola. Die macht einen Seitenblick in Edwin's Richtung, dann steht sie auf: "Ich leg mich hin. Hoffentlich liegt das Boot bald mal ruhig!"
"Da haben wir wenig Einfluß drauf." sage ich. Carola verschwindet in Richtung ihrer Kabine.
"Die Yay sieht man auch selten in letzter Zeit." sagt Edwin.
"Die hat in der Krankenstation zu tun. Ich wußte auch nicht, daß sie in der Richtung eine besondere Ausbildung hat."
"Ach so." Edwin scheint auch schweigsamer als sonst.
"Also, wir haben jetzt praktisch das Ziel erreicht, und alle laufen mit hängenden Ohren rum!" sage ich.
"Noch haben wir gar nichts erreicht." widerspricht Edwin, "Wir sind ja kaum angekommen, und schon geht es uns ans Leben!"
"Tja." sage ich, "Welthöhle! Das ist der hiesige life-style. Man lernt hier, wie man am Leben bleibt. Erfolgsquote 100 Prozent. Wer den Lehrgang nicht besteht, der macht keinen anderen Lehrgang mehr und verdirbt auch nicht mehr die Statistik. - Übrigens haben die Außenhöhle doch eigentlich auch nach besten Kräften versucht, und das Leben schwer zu machen, oder?"
"Du hast auch Schiß. Du zeigst es bloß nicht."
"Natürlich habe ich Schiß!" sage ich, "Warum sollte ich weniger Schiß haben als ihr? Bloß, weil ich schon mal hier war? Meinst du, ich habe deshalb einen Sonderstatus? - Du siehst doch, was das 'Schicksal' für Einfälle hat! Nichts, was man einmal in der Welthöhle erlebt hat, bereitet einen auf das vor, was man noch erleben könnte. Die Welthöhle ist die letzte Arena des unbedingten Lebenswillens. Alles andere setzt sich hier nicht durch. Und wir spielen dieses Spiel jetzt mit. Bis es uns gelingt, wieder rauszukommen."
"Wie wir das wohl machen werden?"
"Anders, als wir es jetzt planen. Nur das ist sicher. Und bis wir das geschafft haben, bis dahin ist überhaupt nichts sicher. Was wir tun und erleben werden, wieviel Zeit wir brauchen werden, wohin es uns verschlagen wird. Die EG hat uns da ja so wohldefinierte Aufträge gegeben, ich weiß. Alles Makulatur. In Kürze wird jeder an Bord nur noch ein Ziel haben: Bloß weg! Bloß nach Hause. Bei dem einen dauert es länger, bei dem anderen kürzer. Carola ist offenbar jetzt schon soweit. Reinhardt, zum Beispiel, noch nicht. Der träumt noch von dem wissenschaftlichen Ruhm, den der erste 'richtige' Paläontologe in der Welthöhle ernten wird. Er wird sich noch umsehen, glaube mir. Wir werden noch alle knietief durch die Scheiße waten."
"Du machst einem richtig Mut."
"Ist es nicht besser, das Schlimmste zu erwarten und dann nicht ganz so herb entäuscht zu werden?"
"Ich weiß nicht. Das ganze Leben auf das Schlimmste zu warten?"
"Nicht das ganze Leben. Nur den Teil, den man davon in der Welthöhle verbringt!"
"Gut, daß meine Frau nicht weiß, wie es uns geht."
"Daß ist das erste Mal, daß du das sagst, Edwin! - Bis jetzt hast du - nach langer Familienvaterschaft gewissermaßen - so ein bißchen den Eindruck gemacht, daß du froh bist, deine Familie für eine Weile los zu sein! - 'Was schert mich Weib, was schert mich Kind, laß sie betteln gehen, wenn sie hungrig sind!'"
"Ja? Tatsächlich. Stimmt. - Aber betteln müssen sie nicht gehen." Er denkt einen Moment nach: "Irgendwann erschrickt man vor der eigenen Courage. Man merkt, daß es einem doch ans Leben gehen kann. Das ist vielleicht nicht das Merkwürdige, aber merkwürdig ist es, daß das nicht bei der ersten Krise passiert ist. Objektiv war die Sache eben vielleicht nicht so gefährlich wie der Übertritt in die Welthöhle selbst, oder? - Also jedenfalls weiß man nicht, wann es einem zu viel werden wird."
"Immerhin hast du dich besser gehalten als ich es bisher bei dir erwartet habe. Ich dachte, du würdest früher Symptome der Angst zeigen. Oder mehr zeigen als du es tatsächlich tust. Ich dachte, du und Carola wären in diesem Punkte in etwa gleich. Das ist aber nicht so. Und es kann sich auch noch ändern. Wer weiß, vielleicht bin ich der nächste, der heult und mit den Zähnen klappert! - Ich mache da überhaupt keine Vorhersagen mehr."
"Ich wundere mich," sagt Edwin, "daß du mir jetzt nicht vorwirfst, ich wäre phantasielos! So einen Vorwurf kann man daraus ja konstruieren. Vieles, was sich als Mut oder Unerschrockenheit darstellt, ist doch in Wirklichkeit bloß Phantasielosigkeit und Dummheit."
"Also, 'vorwerfen' tu ich sowas grundsätzlich nicht! 'Vermuten' wäre das Wort, was ich anwenden würde. Höflich, wie ich bin."
"Naja. Bei diesen tiefenpsychologischen Untersuchungen kann ja auch alles mögliche rauskommen. - Bei mir käme jetzt raus, daß ich müde bin. Schlicht und ergreifend."
"Dann leg dich mal schnell hin! Du hast doch heute die Abendwache, oder irre ich mich?"
"Du irrst dich nicht. Aber ich bin zu sehr aufgekratzt. Mir wäre wohler, wenn wir schon auf der Oberfläche des Welthöhlenozeans schwämmen."
"Wie ich vorhin erläutert habe - das wäre keine Versicherung auf ein geruhsames Leben."
"Stimmt auch wieder. Aber diese Position hier - dem Boot kann doch dauernd was passieren. In den Außenhöhlen war es so schön ruhig."
"In der Jungfrauen-Spalte nicht!"
"Davor, meine ich."
"Auch nicht immer. Sagte ich doch schon. - Weißt du was? Du legst dich jetzt hin und schläfst eine Runde. Vielleicht kann man sogar ein Schlafmittel rechtfertigen, obwohl ich da normalerweise immer abrate. Ich weiß nicht - nimmst du sowas? Ich übernehme den Anfang deiner Wache. Und wenn ich die Nase voll habe, dann wecke ich dich. Wenn du Glück hast, ist das erst um Mitternacht der Fall! - Wer kommt denn nach dir?"
"Colbert."
"Oh. Also noch nicht entschieden. Na, Wellington oder Amerlingen werden schon jemanden finden. Also ab in die Falle!"
Edwin steht auf: "Das lasse ich mir nicht zweimal sagen - bevor du es dir anders überlegst!" Schon ist er weg.
Die ganze Zeit, während ich noch esse, versuche ich, herauszufinden, ob die schwachen Bewegungen des Bootes zu- oder abnehmen. Ich komme zu keinem definitiven Ergebnis. Dann nehme ich mir vor, mich etwas mit Strömungsdynamik zu beschäftigen. Darüber weiß ich immer noch zu wenig.
Diesen Nachmittag halte ich mich in der Zentrale auf. Ich erfahre, daß es einen schwachen Trend zur Abnahme der Strömung gibt, aber dieser ist tatsächlich so schwach, daß er noch gar nicht mit Sicherheit feststeht. Was ich nur indirekt erfahre ist, daß es in den Minuten, als wir wie mit einem Fahrstuhl in die Tiefe gingen, hier sehr hektisch gewesen sein muß. Die Rudergänger haben sich gegenseitig abgelöst und heftige Auseinandersetzungen über die beste Strategie brachen aus.
Jetzt ist man dabei, die Aufzeichnungen des Navigationsprogrammes zu betrachten, die Geometrie der Spalte und, soweit diese gemessen werden konnte, die Geometrie der Strömungsfelder. "Ein Problem" sagt Amerlingen zu mir, "ist das alles eigentlich gar nicht. Wenn sich das Strömungsfeld überhaupt nicht ändert, dann kann man viele Wege nach oben finden. Durch reinen Zufall hätte wir das auch tun können. Wir sind eben bei unserem Ausweichmanöver zielsicher in die Mitte dieser Abwärtsströmung geraten. Am Anfang hätten wir durchaus früher wieder rauskönnen. Wenn man weiß, wo die Strömungen günstiger sind, ist das ja ganz einfach!"
"Genausogut hätte es aber auch noch länger dauern können, nicht?" frage ich.
"Ja." Amerlingen sieht sich in der Zentrale um: "Es war eine kollektive Panik. Ohne die Symptome der Panik. Wenn Sie verstehen, was ich meine."
"So ungefähr."
"Das panische Fehlverhalten ging von niemandem speziell aus. - Wir müssen uns etwas überlegen, damit das nicht noch einmal passiert. - Im Nachherein steht man da wie eine Horde dummer Schuljungen."
"Es wird noch einmal passieren," sage ich, vielleicht reichlich altklug, "und das nächste Mal wird die Krise eine andere sein. Und es wird wieder eine Dummheit sein, diese nicht optimal zu beherrschen. Im Nachherein ist man immer klüger und kann die beste Strategie ausarbeiten. - Die meisten Leute begreifen diesen Zusammenhang nicht."
"Das tun sie hier schon," sagt Amerlingen, "es ist nicht so, daß es jetzt Vorwürfe gibt. Aber während es passierte, haben wir uns doch etwas gegenseitig angeschrien. Ich hätte nicht gedacht, daß das möglich ist. So zivilisiert, wie bisher der Umgangston war." Kopfschüttelnd setzt er sich wieder hin.
"Wann tauchen wir denn auf?" frage ich.
"Im Moment überlegen wir noch, ob es irgendeinen Grund gibt, das nicht gleich zu tun."
"Da müßte ich die Kollegin Rau wecken, damit sie den großen Moment nicht verpaßt!"
"Großen Moment? Welcher ist das? Auftauchen oder Lukendeckel aufmachen?"
"Ach ja. Elderman." sage ich, "Kann ich zu ihm hinein?"
"Fragen Sie Morton."
Ich gehe quer durch die Zentrale zum Krankenrevier. Dabei tritt mir Wellington entgegen: "Herr Homberg, können Sie heute die Wache von Herrn Colbert übernehmen?"
"Ich habe schon die von Herrn Daum übernommen!"
"Wieso denn das?"
"Herr Daum fühlt sich nicht wohl und möchte schlafen."
"Ist er krank?"
"Wohl nicht. Psychisch erschöpft. - Naja, er ist nicht ganz auf seinem Leistungsgipfel."
Wellington ist unzufrieden: "Ich habe schon einmal gesagt, daß ich über solche Wachwechsel informiert werden möchte!"
"Wir haben es eben erst so verabredet!"
Wellington wendet sich ab und ich kann meinen Weg zur Krankenstation fortsetzen. Mit halbem Ohr höre ich noch, daß er sich über Carola erkundigt. Arme Carola! Gut, daß sie früh zu Bett gegangen ist.
Peer Elderman liegt auf der Backbordseite. Die Tür ist angelehnt, und ich sehe flinke weiße Bewegungen: Der Overall von Dr. Morton.
"Krankenbesuch?" frage ich.
"Meinetwegen."
Ich trete ganz ein.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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