Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


******** ********

54. Oesophagus maximus

Wir rechnen eigentlich jede Sekunde damit, daß Wellington eine feste Position für das Bootes suchen läßt. Andererseits - auf den offenbar größeren Hohlraum, den Edwin voraus erspäht hat, sind wohl nicht nur wir neugierig. In diesen Hohlraum bewegt sich das Boot nur wenige Minuten später hinein.

Wenn der Vergleich mit der riesigen Speiseröhre für den Tunnel, den wir soeben verlassen, nicht allzuweit hergeholt ist, so paßt er jetzt zumindestens genauso gut, wenn nicht noch besser. Die Geometrie ist ganz genau dieselbe, nur ist alles noch größer.

Dieser kreisförmige Tunnel hat einen Durchmesser von etwa 170 Metern, aber, bedingt durch die knorpelringartige Wandstruktur, wechselt sie zwischen 155 Metern und fast 200 Metern. Das Boot hat also überall genug Manöverierraum. Der Tunnel, aus dem wir eben kommen, mündet im oberen Drittel dieses neuen, größeren Tunnels ein, und wir kommen nicht umhin, zu bemerken, daß auch die dadurch erzeugten Kanten abgerundet sind.

Scheinwerfer und Bildverstärker der CHARMION ermöglichen, mit vereinten Kräften ein paar hundert Meter in beiden Richtungen weit zu sehen. Der riesige Tunnel scheint sich in beiden Richtungen hin unverändert fortzusetzen.

Interessant ist für mich jedoch etwas anderes: Diese Knorpelringstruktur ist ausgeprägter als bei dem kleinen Tunnel, aus dem wir eben gekommen sind. Manche dieser Knorpelringe scheinen deshalb in ihrem ganzen Umfang eine richtige architektonische Struktur zu bilden: Säulen zu den Seiten, die einen geschwungenen Bogen tragen und unter, am Boden des Tunnels, durch einen ebensolchen Bogen verbunden werden. Die Ähnlichkeit zu den Säulen in der Welthöhle ist unübersehbar, auch wenn noch deutliche Unterschiede in Form und Größe bestehen. Ob die anderen das auch so sehen? Sie haben ja noch keinen direkten Blick in die Welthöhle geworfen.

Ich suche auch nach Artefakten wie künstlichen Weganlagen, finde aber nicht das geringste.

"Armer Gerald!" sagt Carola.

"Wieso?"

"Wird er Wellington gleich bestätigen können, daß er auch nicht weiß, wie diese Formationen zu erklären sind!"

"Das ist für ihn keine Streßsituation." sage ich, "Sowie jemand ihn deshalb kritisiert, wird er schnell klarmachen, daß jeder andere noch viel weniger von dem versteht, was wir sehen. Die Überlegenheit des Fachmannes. Die Situation kennst du doch!"

"Die Überlegenheit der Fachfrau." korrigiert Carola, "Sonst ja."

Das Boot ist in der Mitte der Höhle zum Stillstand gekommen. Der SISC zeigt 15200 Meter Tiefe an. "Sieht so aus, als ob wir erst einmal hier bleiben." sage ich.

Das ist in der Tat so. Minuten später verkündigt Wellington den Dienstschluß, und bald danach kommt es in der Kantine wieder zu den üblichen, mit vollem Munde geführten Spekulationen über das weitere Vorgehen.

Von Gerald erfahren wir an diesem Abend noch, daß die erste Messung der Driftgeschwindigkeit in diesem großen Tunnel auf etwa ein Millimeter pro Sekunde hinausläuft - Wegen des großen Tunnelquerschnittes entspricht das aber immerhin einem Gesamtdurchsatz von 11 Kubikmetern pro Sekunde.

"Ist das sicher?" frage ich.

"Morgen früh werden wir es ganz genau wissen."

"Mit dieser Wassermenge könnte man aus Lanzarote eine blühende Insel machen!"

"Wie kommst du gerade jetzt darauf?"

"Ich habe das mal auf einem Urlaub dort ausgerechnet: Wieviel Wasser man bräuchte, um die ganze Insel flächendeckend zu begrünen. Wäre allerdings schade, wegen der Lavafelder."

"Das würden die Einheimischen wahrscheinlich anders sehen!"

"Natürlich. Aber zu jeder Biosphäre gehören Randgebiete, die vom Leben nicht so richtig erobert werden können. Das ist in einer gesunden Biosphäre normal. Die arktischen Eisplatten, Hochgebirge, Wüsten."

"Woher willst du wissen, was in einer gesunden Biosphäre normal ist? Wir kennen nur eine!" fragt Gerald.

"Zwei. Mit der Welthöhle. - Dort haben wir diesselbe Erscheinung: Die dunklen, höheren Regionen sind frei von jedem Pflanzenwuchs, und wo Felsen so steil sind, daß sich nichts hält, da wächst natürlich auch nichts. Das kommt in der Welthöhle häufiger vor. - Steile Felsen, meine ich."

"Wobei noch zu diskutieren wäre, ob diese beiden Biosphären wirklich als getrennt zu sehen sind!"

"Ja. - Aber für euch Geologen sind Biosphären ja sowieso nur sekundäre Erscheinungen - Eine komische Verunreinigung auf dem Felsboden, der euch eigentlich interessiert!"

"Da muß ich dir aber widersprechen! In der Geologie gibt es viele Dinge, die nur auf das Leben zurückzuführen sind! Denk an Erdöl und an Kohlenflöze und an Kalksteine und an ..."

"Du hast recht," gebe ich zu, "ich habe einen Moment lang nicht nachgedacht."

"Spielt ja auch keine Rolle." sagt Gerald. "Die Geologie hier ist sowieso schon interessant genug. Ich überlege mir - wenn wir mal annehmen, daß alles, was du über die Welthöhle geschrieben hast, richtig ist, und ich zweifele nicht mehr daran - ich überlege mir, ob die Welthöhle sich eventuell in noch wesentlich größere Tiefen erstrecken könnte. Wir sind bis jetzt davon ausgegangen, daß die Meere in der Welthöhle zwar stellenweise ordentlich tief sein mögen, daß aber der größte Teil des Volumens der Welthöhle über dem Niveau dieses Meeresspiegels liegt. Das muß nicht so sein. Und ein Hinweis darauf ist die außerordentliche Tiefe, in der wir uns gerade jetzt befinden."

"Jetzt geht's aber los mit den Spekulationen!" sage ich.

"Das müssen wir tun. Kein Gedanke ist zu abwegig, um ihn nicht mal durchzudenken und auf Verifizierbarkeit abzuklopfen."

"Zweifellos. Aber ich habe gelernt, daß das Erdinnere sehr heiß ist. Um so heißer, je tiefer man kommt. Eine Welthöhle, die sich in noch viel größere Tiefen erstrecken würde, würde noch mehr Modifikationen am Standardmodell des Erdkörpers erfordern."

"In der Situation sind wir sowieso schon. Wir können die ganze Geologie umschreiben. Wir müssen nur noch rauskriegen, ob es sich um sehr große oder bloß um große Änderungen handelt!"

"Gut." sage ich, "Machen wir mal das Experiment. Was passiert, wenn hier, oder wenn in der Welthöhle, wie ich sie beschrieben habe, ein Vulkan ausbricht? So groß, wie die Welthöhle ist, ist das nicht ausgeschlossen - auch, wenn ich keinen gesehen habe."

"Zunächst mal" denkt Gerald Amurdarjew laut nach, "würden die vulkanischen Ejekta die Umwelt wesentlich mehr belasten - besonders wahrscheinlich die Gase."

"Ja. Und?"

"Entstehung eines Vulkanberges - durchaus möglich."

"Durchaus."

"Der könnte allerdings bis zur Decke wachsen. Was dann? Penetrierung der Welthöhle? Erreichen der Oberfläche? Versiegelung des Welthöhlenteils des Vulkanes durch erstarrte Lava?"

"Oder Welthöhlen gibt es nur da, wo Vulkanismus unwahrscheinlich ist. Wir wissen ja definitiv nur, daß es die Welthöhle zwischen Schottland und Süddeutschland gibt. Wie es unter der Ätna-, Stromboli- und Vesuvgegend aussieht, wissen wir noch nicht. Island ebenfalls nicht. Ein kleiner Teil unseres eigenen Kontinentalschelfs. Das ist doch bis jetzt alles!"

"Hast du die Eifel vergessen?" fragt Amurdarjew, "Dort hat es vor geologisch kurzer Zeit geknallt. CO2-Austritte gibt es dort jetzt noch. Und andere tektonische Ereignisse hat es in Mitteleuropa auch schon häufiger gegeben. Deutschland knirscht noch immer!"

"CO2 ist kein Argument gegen die Welthöhle. Gelegentliche schwache Erdbeben auch nicht. Aber du hast recht - junger Vulkanismus verträgt sich nicht so richtig damit. - Vielleicht können wir hinfahren! Die CHARMION weiß zwar nicht mehr auf den Meter genau, wo sie ist, aber besser als ein Kilometer können wir immer noch navigieren."

"Noch sind wir nicht drin. Das, was dieses Wasser dran hindert, hineinzukommen, wird auch uns daran hindern. - Obwohl ich es hoffen möchte."

Ich bin mit dem Essen weitgehend fertig. So kann ich noch schneller reden als mit vollem Mund. Ein gutes Verfahren, wenn man jemanden die Ohren vollreden möchte: Zusammen Essen, aber weniger nehmen, damit man eher fertig ist! - Aber natürlich habe ich nicht die Absicht, Gerald zu irgend etwas zu überreden.

"Du möchtest hin, ja?" frage ich.

"Ja, natürlich."

"Kennst du jemanden an Bord, der partout nicht hinwill?"

"Jetzt denkst du wieder an unseren großen Unbekannten, ja?"

"Ja, natürlich."

"Naja, also - ich weiß nicht. Jeder hier ist neugierig. Das große Abenteuer ist es für alle. Manche zeigen es mehr, manche weniger. Und wir haben jetzt schon einige Bewährungsproben bestanden - das macht die Leute zuversichtlich. Glaube ich."

"Mmh."

"Der einzige, dem man unterstellt hat, daß er nicht hinwill, bist du, Herwig!"

"Das ist nur teilweise so. Eine rein intelektuelle Erkenntnis. Hin möchte ich schon wieder."

"Kennst du eigentlich noch jemanden dort? Ich habe da keine Übersicht ..."

"Schwer zu sagen. Die, die ich am besten kennengelernt habe, sind alle tot. Von dem Volk der Sachinor und von Osont's Leuten könnte ich noch jemanden kennen. Flüchtig kennen. - Die sind es jedenfalls nicht, die mich dahin ziehen."

Das artet aber richtig in Tiefenpsychologie aus, denke ich, wenn ich jetzt versuche, rauszukriegen, was mich in der Welthöhle am meisten anlockt. Wo wir uns damals doch soviel Mühe gegeben haben, wieder rauszukommen. Ich verdränge den Gedanken wieder.

"Du hast doch gerade mit Wellington gesprochen? In welche Richtung geht's denn weiter? Mit dem Strom?"

"Ja." sagt Amurdarjew, "Wir glauben, daß das das gescheiteste wäre. Vielleicht kriegen wir etwas über die 11 Kubikmeter pro Sekunde raus."

"Vielleicht beantwortet das dann auch deine erste Frage."

"Wie tief die Welthöhle runtergeht?"

"Ja."

"Vielleicht." Gerald versinkt wieder in Einsilbigkeit. Einsilbigkeit des Nachdenkens, nicht der Depression. Geologen sollten nicht so labil sein, daß sie reihenweise Doktorarbeiten verbrennen und aus den Fenstern der geologischen Institute springen, wenn wir mit unseren Forschungsergebnissen zurückkommen werden. Ich überlege, ob ich Gerald mit diesem Gedanken aufheitern sollte, entscheide mich dann aber dagegen: Irgendetwas in mir möchte nicht das Thema 'Zurückkommen' ansprechen. Albern, dieser rudimentäre Aberglauben!

An diesem Abend renne ich, als ich schließlich in meine Kabine will, fast Gabi über den Haufen. Sie hatte ja Wache bis Mitternacht, fällt mir ein. Aber ist das ein Grund, so an mir vorbei zu laufen, als ob sie mich nicht kennt?

Naja, wenn ich in Gedanken bin, dann höre und sehe ich auch nichts. Da sollte ich der letzte sein, der daran Anstoß nimmt.

Am anderen Morgen lassen wir uns viel Zeit - Zugeständnis an den Tatbestand des real existierenden und auch hier immer mal wieder vorkommenden Wochenendes. Erst um 10:20 Uhr, als wirklich jeder mit dem Frühstück fertig ist, machen wir uns wieder auf den Weg - stromabwärts, wie Gerald richtig vermutet hat. Wobei das Wort 'Strom' nicht unbedingt diese schwache Strömung suggeriert - die wäre nicht einmal in der Lage gewesen, das Boot über Nacht um die eigene Länge zu versetzen.

Der 'Oesophagus maximus', wie dieser Tunnel inzwischen getauft worden ist, zieht sich hin. Und wir gewinnen weiter an Tiefe, wenn auch langsam. Ich stelle mir vor, daß Wellington in einem gewissen Zwiespalt ist: Eigentlich sollte er sich ein Vordringen in größere Tiefen von der Schiffsversammlung genehmigen lassen. Aber es sind ja nur ab und zu so ein paar Meter, die hinzukommen. Um 12:00 haben wir 15300 Meter Tiefe.

Und immer noch gibt es keine Warnungen des Streßanalyseprogrammes.

Der Oesophagus maximus führt meistens in östlicher Richtung. Gelegentlich gibt es Einmündungen anderer Höhlengänge, die aber alle geringere Durchmesser haben - wie der Seitenarm, aus dem wir gestern gekommen sind. Auch ihre Beiträge zum gesamten Wasserstrom sind unerheblich.

Zwischen 14 und 15 Uhr schwenkt die Richtung nach Nordosten um, und um 15:30 ist die Tiefe 15400 Meter.

Plötzlich taucht Natalie wieder im vorderen Oberdeck auf. Dabei merke ich auch, daß sie eine Zeitlang weggewesen ist. Weil ich, wie jeder im Schiff, den Wachplan der nächsten Tage kenne, weiß ich auch gleich, warum: Wahrscheinlich hat sie sich etwas hingelegt, weil sie die Wache von 16 bis 24 Uhr hat. Das wird toleriert, obwohl eigentlich nur die Wache von 0 bis 8 Uhr als ausreichender Grund angesehen wird, sich vorher und hinterher ausruhen zu dürfen. Aber so lange keine anderen, dringenden Sachen anstehen, sagt niemand etwas, wenn man sich tagsüber mal ein paar Stunden zurückzieht.

Sie kommt schnurstracks auf mich zu. "Ich fühl mich nicht so." sagt sie.

"Beileid." sage ich.

"Wirklich. Ich mache keinen Spaß!"

"Das habe ich auch nicht gesagt!"

"Kannst du meine Wache übernehmen?"

"Warst du bei der Tante Doktor?"

"Nein, ich habe nur Kopfschmerzen. Und so."

Was ist 'und so', will ich fragen, aber ich tue es nicht. Vielleicht hat sie ja ihre Tage. Solange ich keine Statistik darüber führe, kann ich das nicht nachprüfen, und nebenbei, ich will es auch nicht. Wenn ich mich unwohl fühle, dann kann das auch niemand sonst nachprüfen.

Außerdem ist es für mich durchaus beruhigend, daß sie ihre Tage hat.

"Okay. Hau dich in die Falle! - Und sag vorher Wellington oder einem von den WOs Bescheid."

"Kannst du das nicht machen?"

"Meinetwegen."

Natalie geht in Richtung Kantinenniedergang davon.

"Schiebst du gerne für andere Wache?" fragt Cohäuszchen, der natürlich alles mitgekriegt hat.

"Für dich nicht!"

"Und für Seltsam?"

Ich konzentriere mich wieder auf die Bildschirme, weil ich möchte, daß er merkt, daß ich das Thema nicht weiter verfolgen möchte.

Punkt 16 Uhr wird in unserer Fahrtrichtung eine Biegung nach unten deutlich. Wir kommen näher, und dann verlangsamt das Boot seine Fahrt.

"Hier spricht der Käptn. Bitte alle in die Zentrale!"

"Ich dachte, er fragt uns gar nicht mehr!" sage ich zu niemand bestimmten, als wir alle auf dem Weg sind.

Natürlich werden wir alle mit der Tatsache konfrontiert, daß das Streßanalyseprogramm nach wie vor keinen Grund zur Besorgnis nahelegt. Jeffrey Garner erwähnt einmal sogar die Zahl '20 Kilometer', mit einem 'vielleicht' davor. Dann aber bringt er auch Dutzende von Gründen vor, daß wir diese Tiefe nicht mehr erreichen können.

Jedenfalls bemüht er sich um objektive Information. Er erläutert uns, daß die asymmetrische Belastung des Druckkörpers sich innerhalb eines Druckanstieges von bloß 8 bis 16 Bar entwickeln könnte. Das entspricht einer Tiefenzunahme von 80 bis 160 Meter. Dann wären nur noch minimale weitere Drucksteigerungen möglich, bevor die aktive Formregulierung des Druckkörpers die Asymmetrie nicht mehr kompensieren kann. Und was dann passiert, sei technisches Neuland.

"Ich schlage vor, wir bleiben jetzt an Ort und Stelle. Überschlafen wir's. Und morgen entscheiden wir uns - wir müssen nicht weiter. Den Oesophagus maximus können wir auch noch in der anderen Richtung verfolgen, und manch andere Abzweigung auch!" schließt Wellington die Versammlung, "Machen wir morgen um 10 Uhr eine Abstimmung, okay?"

Das grenzt ja fast an auschlafen können, denke ich mir, bemühe mich aber, meine Begeisterung nicht allzu deutlich zu zeigen.

Wellington sieht in die Runde: "Das wär's eigentlich. Hat jemand die Kollegin Yay gesehen?"

"Äh - ich habe ihre Wache übernommen!" sage ich.

"Das sagen Sie mir jetzt erst, Homberg?"

"Sie fühlte sich schlecht und hat mich erst vor kurzem drum gebeten."

"Trotzdem hätten Sie mir das früher sagen können!"

"Ich habe eben erläutert, daß bis jetzt dazu keine Gelegenheit war!"

Ein bißchen sinkt Wellington wieder in meiner Achtung. Wann hätte ich denn eben mit der weltbewegenden Information, daß ich Natalie's Wache übernehme, rausplatzen sollen? - Daß Natalie im Prinzip sich auch hätte abmelden können steht auf einem anderen Blatt. Ich will sie da ja nicht irgendwie reinreiten.

Wellington sieht mich mißbilligend an, sagt aber nichts. Die Versammlung geht auseinander.

An diesem Abend gehe ich vor dem Essen auf die Toilette. Durchfall. Bei mir häufig Symptom von gestörtem Schlafrhythmus. Wahrscheinlich ist bei mir die allgemeine Darmperistaltik bei Müdigkeit heftiger, und dann kommt der Darminhalt in einem noch zu flüssigen Zustand im Sigmoid und im Enddarm an. Nicht schlimm, nur ärgerlich. Aber als ich in die Kantine komme, sind fast alle Plätze besetzt. Der am einfachsten erreichbare ist der dem Pater Palmer gegenüber. Ich hätte ja die Ausrede, in der Zentrale sein zu müssen, weil ich Wache habe - aber solange noch Tagesbetrieb in der Zentrale ist, ist meine Anwesenheit dort nicht erforderlich. Und ob ich später noch bequem in der Kantine essen kann, weiß ich nicht. Also setze ich mich dem Pater gegenüber.

Keine Provokation, Herwig! Denke ich mir. Betriebsklima halten. Versuchen wir, ein neutrales Thema zu finden. Es spricht so selten jemand mit dem Pater, und da fühlt er sich sicher ausgegrenzt. Worüber spricht man mit einem Pater?

Er nimmt mir das Problem ab: "Sie müssen noch etwas aufbleiben, nicht?"

"Wegen der Wache? - Naja. Die Abendwache ist ja nicht so schlimm."

"Ich hatte am Donnerstag die Nachtwache - mir war das sehr unheimlich. Allein mit dem Schiff, alle schlafen, und mit den meisten Dingen kann man doch nicht umgehen. Wenn etwas passiert wäre ..."

"Hätten Sie ja das ganze Schiff geweckt! Allein wären Sie dann nicht mehr gewesen."

"Aber wenn es sehr schnell passiert wäre?"

"Das ist unser Restrisiko. Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben." Ich beiße mir auf die Lippen. Das sind Zitate, die ich von ihm erwarte, und nicht umgekehrt. Aber er nickt nur.

"Jedenfalls - falls diese Höhlen über uns zusammenstürzen - so schnell wird niemand unsere Totenruhe stören. Auf welchem anderen Friedhof liegt man schon so sicher?" fahre ich fort. Gefährlich nahe an seinem beruflichen Aufgaben.

"Da mögen Sie recht haben. Aber in erster Linie sind wir dem Leben verpflichtet!"

"Sie auch?"

"Ich bin das Leben, sagt Jesus Christus." Scheibenhonig. Jetzt sind wir doch da!

"So. Sagt er das. Ich bin nicht bibelfest, müssen Sie wissen, Pater."

"Verlangt ja niemand."

"Ich bin nur ein einfacher Atheist. Und weil ich das bin, weiß ich, daß es nichts jenseits des Lebens gibt. Und deshalb ist für einen Atheisten das Leben ungeheuer wertvoll. Die Hoffnung des Seins im Meer des Nichtseins."

"So habe ich das aber noch nie gehört."

"Es ist ja auch nur meine private Auffassung."

"Können Sie denn damit leben? Ich meine, mit der Aussicht auf ein Meer des Nichtseins?"

"Sie meinen, ohne jede Jenseitsvorstellung?"

"Ja, das meine ich."

"Was wollen Sie denn mit den Jahrmilliarden der Ewigkeit anfangen, Pater, wenn Sie sie denn erreichen?"

"Ich weiß nicht, ob wir diese Frage jetzt schon stellen dürfen."

"Ich muß sie stellen, solange ich noch lebe. Das ist doch für einen Atheisten natürlich, oder? Später kommt man vielleicht nicht einmal mehr dazu. - Wenn wir Atheisten recht haben!"

"Und wenn nicht?"

"Dann wird es schwierig. Aber diese Frage hat so viele Aspekte."

"Das hat sie." stimmt der Pater zu.

"Unser Geist ist nicht für die Ewigkeit geschaffen. Deshalb, glaube ich, wäre jede Art von Ewigkeit für einen menschlichen Geist ein Unglück."

"Das verstehe ich nicht."

"Das ist doch so, Pater: Eine stark vereinfachte logische Alternative, wenn man schon an eine Jenseitsvorstellung glaubt. Entweder, man verändert sich bei Eintritt in diese Existenz so sehr, daß man nicht mehr davon reden kann, daß man noch man selbst ist. Dann erübrigt sich für das Ich die Frage, wie man mit der Ewigkeit umgehen kann, weil es sich nicht mehr um das Ich handelt. Können Sie mir soweit folgen?"

"Ich glaube, schon."

"Gut. Und wenn unser Geist unserem diesseitigen Ich zu ähnlich ist, dann ist er so sehr unserer körperlichen Existenz verhaftet, daß er nicht mit einer ganz andersartigen Form der Existenz wechselwirken kann. Unsere Gefühle, unsere Fähigkeit, zu lernen und zu vergessen, all das hat biologische und neuronale Grundlagen. All diese Eigenschaften sind sinnvoll in einer Umwelt, in der man sich behaupten muß. Am Leben bleiben muß. Konzepte wie 'Schmerz' konnten sich nur in einer physischen Existenz entwickeln. Letzten Endes basieren sogar unsere Vorstellungen von 'gut' und 'böse' auf diesen physischen Voraussetzungen - sehen Sie sich Ihre zehn Gebote an! - Was interessieren, im Angesicht der Ewigkeit, Ehebruch und Diebstahl und Körperverletzung?"

"Jetzt haben Sie die Evolution mit ins Spiel gebracht!"

"Die mögen Sie nicht!"

"Sie gehen von der Voraussetzung aus, daß eine Evolution stattgefunden hat!"

"Nein, tue ich nicht, aber von allen Hypothesen ist sie immer wieder die allereinfachste und erfolgreichste!"

"Das ist ihre subjektive Meinung!"

"Daß Evolution ein einacher Mechanismus ist?"

"Ja!"

"Natürlich - was einfach ist und was nicht, das ist immer eine subjektive Angelegenheit. Auch in der Mathematik!"

"Aber damit geben Sie sie Subjektivität Ihrer Auffassung zu?"

"Tue ich das? - Ja, natürlich tue ich das. Ich gebe die Subjektivität JEDER Auffassung zu. Was immer in unserem Kopf ist, ist subjektiv geworden, ob es sich nun um sogenannte Fakten oder um Meinungen oder Vermutungen handelt. Es gibt für das neuronale Selbst keine objektive Wirklichkeit!"

"Jetzt bringen Sie noch weitere, ebenso unbewiesene Vermutungen hinein. Über die Natur des menschlichen Geistes, zum Beispiel!"

"Die Neurologie ist keine unbewiesene ..." Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter.

"Wenn ihr euch gegenseitig bekehren wollt, könnt ihr das nicht woanders tun?" fragt Günther Cohausz.

Ausatmen. Pause. Hilfloses Grinsen auf beiden Seiten.

"Wir leben in unterschiedlichen Welten. Das müssen wir akzeptieren. Ich wollte Sie nicht beleidigen - wenn ich das getan haben sollte, Pater."

"Es ist immer interessant, andere Meinungen zu hören." sagt dieser.

"Wie sind wir überhaupt drauf gekommen?" frage ich.

"Nachtwache. Und die Gefahr des Höhleneinsturzes. Und der Tod."

"Ja. So war es. - Der Tod. Wir haben irgendwo einen gemeinsamen Nenner. Aber wir sind beide nicht in der Lage, ihn zu finden."

"So wird es wohl sein." sagt der Pater und vertieft sich in sein Abendessen.

Ich müßte mal einen Rhetorik-Kurs besuchen, denke ich mir. Vielleicht liegt's daran. Oder auch nicht: Die beste Argumentationsführung fällt einem immer erst nachher ein. In Rhetorikkursen lernt man aber nichts über die inhaltliche Bewältigung strittiger Diskussionspunkte, sondern nur über deren Darstellung. Und wie soll man überhaupt zwischen Tür und Angel einen eigenen Standpunkt darstellen, zu dem man gekommen ist, indem man das ganze Leben in einer anderen Welt gelebt hat als das Gegenüber?


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


Zurück zu meiner Hauptseite