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53. Tiefenrekord

Am anderen Morgen um 8 Uhr setzt sich das Boot endlich wieder in Bewegung. Es ist der 5. Februar, der 23. Projekttag, ein Freitag. Unsere gestrige Versammlung ist erst 24 Stunden her, und unser Zeitverlust durch die Sache mit der blinden Streßanalyse ist nicht so besonders groß. Carola, Edwin und ich sind etwas unausgeschlafen, Garner wahrscheinlich auch, aber den sehen wir normalerweise nicht, weil er sich in der Zentrale oder den Maschinenräumen aufhält.

Jedenfalls bin ich froh, daß wir im Moment keine andere Verpflichtungen haben als den Außenaufnahmen leidlich aufmerksam zu folgen.

Der horizontale Tunnel setzt sich fort, und damit sind unsere Tiefenschwankungen gering. Häufiger biegen Gänge und Tunnels ab, die für das Boot viel zu klein sind, die aber von einem Menschen begangen werden könnten. Wir sind immer auf der Ausschau nach Treppenstufen oder ausgeschlagenen Wegen, aber wir finden nichts dergleichen. In diesen weitverzweigten Tunnelsystemen bekommen wir natürlich nur die Teile zu Gesicht, die mit dem Boot befahren werden können. Das müssen aber nicht die geeignetesten Streckenabschnitte sein, wenn man hier Wege baut, die zu Fuß begangen werden können.

Außerdem besteht natürlich die Möglichkeit, daß damals nur Teile dieser Höhlen trocken waren, und daß wir uns jetzt in Abschnitten befinden, die schon immer unter Wasser waren. Eigentlich liegt das auch nahe: schließlich sind wir inzwischen wahrscheinlich tiefer als die Oberfläche des Ozeans in der Welthöhle.

Wenn ich mir vorstelle, daß die Höhlen, die da draußen immer neu im Scheinwerferlicht der CHARMION auftauchen, einmal trocken gewesen sein könnten, dann fühle ich mich schon an manche Höhlen erinnert, die wir seinerzeit auf dem Wege in die Welthöhle und aus ihr heraus durchstiegen haben. Es ist durchaus möglich, daß man eine sehr rudimentäre Pfadanlage vom Boot aus gar nicht erkennen kann, sondern erst, wenn man tatsächlich genötigt ist, sich zu Fuß da durchzuschlagen. Ein Programm, das sich eine Landschaft ansehen kann und dann anzeigt, wo ein Pfad ist, das muß erst noch geschrieben werden.

Inzwischen sind wir in ein Gebiet gekommen, das schon in der Nähe der nördlichen Küste von Schottland liegt. Soviel kann man trotz der beschädigten Datenbasis der Trägheitsnavigation sagen. Das ständige Kreuzen bewirkt, daß wir größere Strecken zurücklegen, ohne weit zu kommen. Auch dieser Tunnel, dem wir im Moment folgen, windet sich vielfach. Der tiefste Punkt, den wir, diesem Tunnel folgend, erreichen, ist 12870 Meter, aber stellenweise steigen wir auch wieder bis 12350 Meter.

"Fragt mich nicht, fragt mich nicht." murmelt Amurdarjew.

"Was sollen wir dich nicht fragen?"

"Diese Tunnel. Unerklärlich."

"Das war doch klar, daß wir uns in eine Gegend aufgemacht haben, die den Geologen etwas unerklärlich ist!"

"Jaja. Du hast ja recht."

"Was ist denn am unerklärlichsten an diesen Tunnels?" fragt Edwin. Seitdem das Problem mit unserem Streßanalyseprogramm sich von selbst gelöst hat, haben unsere Informatiker genauso wenig zu tun wie die anderen auch.

"Der konstante Querschnitt."

"Strömungsvorgänge?" fragt Edwin, "Wasser oder Lava."

"Wasser glaube ich nicht. Da gibt es in dem Buch von Herwig einige Stellen, die darauf hindeuten, daß diese Gesteine sehr wenig wasserlöslich sind. Wenn das korrekt beschrieben ist."

"Es IST korrekt beschrieben." sage ich in nachdrücklichem Tonfall.

"Jaja. Natürlich. Ich wollte nichts anzweifeln."

"Bleibt Lava?" fragt Edwin.

"Im Prinzip ja. Aber das muß eine sehr dünnflüssige Lava gewesen sein, damit stabile und schnelle Strömungen durch so lange Kanäle möglich sind."

"Wieso schnelle Strömungen?"

"Weil Lavaströme sonst unterwegs zuviel Wärme verlören, und dann würde so ein Tunnel irgendwann verstopfen."

"Gut." sage ich, "Das mag ja alles möglich sein. Wir haben diese Gesteine da draußen noch nicht analysiert. Vielleicht bilden die eine dünnflüssige Lava. - Und Tunnel, die durch erstarrende Lava irgendwann endgültig verstopft wurden, die finden wir ja nicht."

"Gut." sagt Amurdarjew, "Und wo ist die Lava jetzt abgeblieben?"

Einen Moment Stille. Dann redet Amurdarjew weiter: "Wenn man meinen eigenen Simulationen folgen würde, die ich vor dieser Expedition gemacht habe, und die letzten Endes auch auf Vermutungen beruhen, die Herwig in seinem Buch geäußert hat, dann war es Gas oder Wasserdampf. Frage: Ist das plausibel? Um solche großen Kanäle voll Lava auszublasen, braucht man immense Mengen Wasserdampf. Und für die Welthöhle gilt das erst recht. Wo ist das Wasser geblieben?"

"Ich glaube mich zu erinnern," sage ich, "daß wir auf der Oberfläche dieses Planeten ein paar Ozeane haben. - Auch wenn es schon eine Weile her ist, daß wir dort waren."

Amurdarjew sieht mich eine Weile an. "Ja gut," sagt er, "da ist es geblieben. Es ist genug Wasser - größenordnungsmäßig geht es um das ungefähre Volumen der Welthöhle, nicht wahr?"

"Ja," sage ich, "ein paar tausend Kubikkilometer. Nach dem, was ich gesehen habe. Das würde ein paar tausend Kubikkilometer Ozeanwasser erklären. Vielleicht ein paar zehntausend. Das ist immer noch weniger als das, was tatsächlich in den Ozeanen drin ist. Wir bräuchten also nicht einmal die bisherigen Theorien über die Entstehung der Ozeane zu modifizieren. Der Weg über die Welthöhle war eben eine der Möglichkeiten, wie Wasser aus dem Planetenkern an dessen Oberfläche gelangte. Eine zusätzliche Möglichkeit. Nicht?"

"Aber daß die Geologie bis jetzt von diesem Mechanismus noch so überhaupt nichts in Erfahrung gebracht haben sollte ..."

"Wollen wir mal ein statistisches Argument machen - ich möchte sagen, ein polemisches?" frage ich.

"Nur zu!"

"Wir kennen eine Menge Vulkane, die es bis zur Oberfläche geschafft haben. Die, die es NICHT bis zur Oberfläche geschafft haben, die kennen wir nicht. Und die haben in der Vergangenheit die Welthöhle aufgeblasen. Diese, oder sogar andere, wenn es noch mehr davon geben sollte."

"Herwig, der große Vereinfacherer!" sagt Edwin.

"Ich habe eben lange drüber nachgedacht. - Denk an Schweizer Käse. Die Gase, die entwichen sind, haben nicht zu den Löchern beigetragen. Daraus können wir nicht schließen, daß bei der Herstellung von Schweizer Käse keine Gase entstehen. Tja, und in der Geologie ist es umgekehrt. Da sehen wir nicht die Löcher - also die Welthöhle - sondern die entweichenden Gase: unseren altbekannten Vulkanismus. Es ist eine Vereinfachung, aber deshalb muß es nicht falsch sein."

"Aber einige dieser Gänge, die ihr bei eurem Welthöhlen-Abenteuer beschritten habt, sind doch künstlich!" fragt Carola.

"Zweifellos. Ich kann mich auch nicht erinnern, Tunnel mit kleinem Querschnitt gesehen zu haben, die nicht künstlich waren. Lavaströme in so engem Querschnitt kann ich mir nämlich nicht vorstellen - wegen der Viskosität und wegen des Wärmeverlustes der Lava."

"Herwig lernt es nie. Der macht immer noch den Genitiv bei 'wegen'!" murmelt Edwin.

"Es ist immer noch korrekt!" sage ich, "Und das gehört nicht zum Thema."

Amurdarjew geht nicht darauf ein: "Sowohl in deinem Buch als auch da draußen sieht man ja einen deutlichen Trend: Kleine Höhlen und Höhlenketten sind vorwiegend unregelmäßig. Spalten, Risse, Brüche. Manchmal auch eben nachbearbeitet, um gangbare Tunnel draus zu machen. Große Höhlen sind eher schlauchartig regelmäßig - obwohl es da auch viele Ausnahmen gibt."

"Ausnahmen geben muß," sage ich, "das hängt doch alles davon ab, durch welches umgebende Gestein Lava fließen muß, und welche Spalten und Klüfte sie vorfand, die dann erweitert wurden."

"Ist denn das Geröll da draußen der Rest der Lava?" fragt Carola, "Der Rest, der dann nicht ausgeblasen wurde?"

"Nein," sagt Amurdarjew, "oder: Ich weiß es nicht. Es ist kein typisches Lavagestein. Kein Basalt, kein Schiefer."

"Paßt schon wieder nicht." sage ich.

"Die Lava könnte andere, feste Materialien mit sich geführt haben."

"Dann müßten da draußen aber noch die Reste der echten Lava zu finden sein!"

"Bring mir eine Probe rein, und ich sag dir's!"

Das Gespräch versiegt eine Weile. Die CHARMION bewegt sich in ein Gebiet des Tunnels hinein, der immer höher mit Geröll gefüllt ist. Es muß etwa schon der halbe Tunnelquerschnitt zugeschüttet sein, und manchmal ist es schwierig, zwischen den größeren Felsen und der Höhlendecke noch genügend Platz zu finden, um das Boot hindurchzusteuern.

"Wenn das so weiter geht, dann können wir bald wieder umkehren!" murmelt Edwin.

"Gleich ist Mittagspause. Dann kann es uns eine Zeitlang egal sein!" sage ich.

"Ich fürchte, mit dem Essen müßt ihr euch noch eine Zeitlang gedulden!" sagt Carola, die den Bildschirm mit der Sicht nach vorne genauer betrachtet hat, "Da geht's nach unten!"

Tatsächlich. Der Tunnel beginnt, sich abwärts zu winden, gleichzeitig ist auch wieder viel weniger störendes Geröll vorhanden. Bald schon ist der Tunnel so steil, daß sich auf seinem Boden kein Geröll mehr halten kann. Auch das Boot muß deshalb eine entsprechende Nicklage einnehmen. Das Vorwärtskommen wird sehr langsam.

11:29 Uhr - 13000 Meter. Der Tunnel wird noch steiler. Das Boot wird so gesteuert, daß der Bug nahe an der Decke des Tunnels ist, und das Heck dicht über dem Boden. Auf diese Weise ist die Neigung des Bootes nicht ganz so stark wie die des Tunnels. Trotzdem müssen die ersten sich schon wieder anschnallen. Und da die CHARMION sich nicht längs ihrer Symmetrieachse bewegt, ist auch nur Schrittgeschwindigkeit möglich.

12:00 Uhr - 13360 Meter. Ich sehe, daß Carola die Streßanalyse aufgerufen hat. "Wie sieht es aus?" frage ich.

"Bilderbuchwerte." sagt sie, "Soweit ich es beurteilen kann. Und sie ändern sich, je tiefer wir kommen."

"Beruhigend."

Jeder von uns weiß, daß wir uns ein Tiefenlimit von 13500 Metern gesetzt haben. Nicht mehr lange, und wir sind da.

Der Tunnel wird noch steiler, aber er weitet sich auch. 40 bis 50 Meter Durchmesser. Mehr, mit zunehmender Tiefe. Schön - dann kann die Neigung des Bootes bald wieder zurückgenommen werden.

12:10 Uhr. Die Tiefe ist 13440 Meter. Noch eine Bootslänge, dann ist Sense, denke ich.

12:20 Uhr. 13500 Meter. Das Boot kommt zum Stillstand. Und es kommt auf ebenen Kiel, weil es in dem unregelmäßigen Querschnitt tatsächlich eine horizontale Strecke von 66 Metern gibt. Oder 65 Metern, korrigiere ich mich - man muß die Geometrieänderung des Bootes berücksichtigen.

"Mittagpause!" hören wir Wellington's Stimme über die Rundspruchanlage, "Um 14 Uhr Mannschaftsversammlung in der Zentrale!"

"Aha!" sage ich, "Er will uns auf noch höhere Tauchtiefen einstimmen!"

"Willst du das nicht?" fragt Carola.

"Ich weiß nicht. Ich möchte am Leben bleiben. Andererseits - laß erstmal den LI einen Blick auf die Streßanalyse werfen."

"Ich wette," sagt Edwin, "der geht jetzt mit dem Programm ins Bett."

Darauf sage ich nichts. Ich muß daran denken, daß der große Unbekannte die Streßanalyse von sich aus wieder einsatzbereit gemacht hat. Das kann sich jederzeit wieder ändern.

Während des Essens findet sich Jeffrey Garner von mehreren Fragern umlagert. Wie schätzt er die Stabilität des Bootes ein? Können wir weiter? Kann man dem Streßanalyseprogramm trauen? Gibt es Frühsymptome, wenn der Druckkörper versagen sollte, und wie sehen die aus, und hat man dann noch eine Chance, wenn man sofort umkehrt, wenn man sie bemerkt?

"Laßt ihn doch mal essen! Genau das werden wir doch gleich in der Schiffsversammlung erörtern!" höre ich Colbert sagen.

"Gibt's eigentlich im Moment Phantomprozesse?" frage ich Carola, die jetzt zufällig mir gegenüber sitzt, so leise, daß sonst keiner es hören kann - die meisten horchen in die Richtung der Gespräche um den LI.

"Dauernd." sagt sie.

"Und keine Aussicht, rauszukriegen, was die machen?"

"Nein. - Ich arbeite allerdings auch nicht sehr intensiv daran."

"Mmh. Könnte es sein, daß der große Unbekannte nur möchte, daß wir auf diese Weise ständig an ihn erinnert werden?"

"Ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung. Und daß wir ja eigentlich mindestens zwei große Unbekannte haben, macht die Lage nicht übersichtlicher."

"Wie recht du hast." sage ich, "Aber was das weitere Vorgehen betrifft: Ich bin sicher, daß es weiter geht. Erstens will Wellington das so, und zweitens hat sich hier jeder an die Tauchtiefe gewöhnt - letzten Endes ist es ja nur eine abstrakte Zahl, die man nicht direkt wahrnehmen kann. Wenn wir jetzt umkehren würden, dann würde sich im Bordbetrieb in der nächsten Zeit gar nichts ändern."

"So ist es."

So ist es tatsächlich. Es kommt in der anberaumten Versammlung gar nicht zu einer längeren Diskussion. Jeffrey Garner berichtet, daß er die Angaben des Streßanalyseprogrammes sorgfältig auf innere Konsistenz geprüft hat, um sicher zu sein, daß wir dem Programm jetzt trauen können. Was die Aussagen des Programmes selbst betrifft, so scheint dem Boot der Druck nichts auszumachen. Die Kraftflüsse sind zwar riesengroß, aber alle verhalten sich untereinander so wie vorausberechnet. Und Geometrieänderungen, abgesehen von der Verkleinerung des Bootes, gibt es auch nicht.

"Allerdings" sagt er, "bewegen wir uns in einem Gebiet, daß dem Maschinenbau noch fremd ist. Für diese Art von U-Booten liegen ja noch keine Erfahrungen vor."

"Freigabe für die nächsten 1000 Meter?" fragt Wellington.

"Von mir aus - ja." nickt Garner, "Das Risiko ist akzeptabel. Und ganz ohne Risiko sind wir auf dieser Reise nie. Das muß man auch sehen."

Interessanter Gedanke, denke ich: Der große Unbekannte ist am Ende bloß eine vorbereitete Störaktion der EG, um uns am Einschlafen zu hindern und uns an Gefahr zu gewöhnen! - Dann aber erscheint mir dieser Gedanke wieder zu abwegig. Das wäre, als ob die NASA seinerzeit den Astronauten auf den ersten Mondflug eine Bombe mitgegeben hätten, um die Sache noch etwas aufregender zu gestalten.

"... der Schacht noch etwas weiter runter, weitet sich aber nicht mehr wesentlich aus." dringt Amerlingen's Stimme wieder an mein Bewußtsein. Es geht jetzt um das weitere Vorgehen - also aufpassen.

"Das heißt also, daß wir das Boot nicht die ganze Zeit auf ebenem Kiel führen werden. Dazu kommt aber noch die etwas beunruhigende Tatsache, daß es einige hundert Meter unter unserem Standpunkt unklare, schwer interpretierbare Reflexe gibt. Wohin wir also kommen und ob es immer weitergeht ist also weiterhin ungewiß.

"Wieso unklare Reflexe?" frage ich.

"Akustische schwarze Löcher, und Spät-Echos."

"Ja und? Irgendwie wird die Höhlengeometrie schon sein, um das zu erklären."

"Homberg, Sie sind uns eine große Hilfe." sagt Wellington. Das ärgert mich.

"Wenn jetzt so kryptische Andeutungen gemacht werden, dann kann ich daraus keine Fakten destilieren!" sage ich, "Dann kann man diese informationsfreien Bemerkungen auch ebensogut unterlassen."

"Sie wären der erste, der sich über eine restriktive Informationspolitik beschwert!"

"Sicher. - Aber darum geht es doch jetzt gar nicht. 'Unklare Reflexe' - Reflexe sind immer unklar, wenn man sich noch kein Bild machen kann, was da reflektiert, und wie!"

"Sehen Sie sich die Reflexe doch selber an!"

"Das werde ich tun. Aber ich werde abwarten, bis wir etwas weiter sind und mit bloßen Augen klar sehen können, was wir jetzt indirekt und unsicher deduzieren müßten. Wir sind nicht hier, um unnütze Denksportaufgaben zu machen."

Wellington betrachtet mich mit wenn auch gut verhüllter Abneigung. Amerlingen sieht so aus, als ob er vermitteln wollte, aber nicht weiß, wie.

"Was reden wir denn? Wir werden es sehen, wenn wir weiterkommen!" kommt Cohäuszchen mir zur Hilfe. "Oder bedeuten Reflexe, die wir zur Zeit nicht interpretieren können, eine Gefahr?"

"Nein." sagt Amerlingen.

"Sind die Reflexe in dem Sinne schwer interpretierbar, daß sie auf zeitlich veränderbare Höhlengeometrie hinweisen? Oder auf sonst etwas, das sich bewegt?"

"Nein. Hier bewegt sich nichts."

"Na also." sagt Cohäuszchen mit gespielter Erleichterung, "Das wäre das einzige, was mir Sorgen machen würde."

Nach einer kurzen Pause stellt Wellington das weitere Vordringen zur Abstimmung. 15000 Meter, oder Warnungen des Streßanalyseprogrammes - je nachdem, was zuerst eintritt - das ist jetzt unser Limit.

15000 Meter, denke ich, als die Versammlung auseinandergeht. Noch nie hat jemand daran gedacht, eine technische Maschinerie zu entwickeln, die in einer solchen Tiefe noch funktionieren soll. Wahnsinn, daß wir uns darauf verlassen, daß es problemlos immer weitergeht. Was heißt 'problemlos'? Davon kann man bei dem bisherigen Verlauf der Reise ja eigentlich nicht reden. Aber es ist wie bei unserem damaligen Welthöhlenabenteuer: Kaum ist man drin, verschieben sich die Perspektiven, und manche Gefahr, an die man vorher nur in Alpträumen gedacht hat, wird 'akzeptabel'.

Denk mal nach, Herwig: Die jetzige Situation, verglichen mit der Situation damals, als ihr Casabones bestiegen habt. Warst du da nicht plötzlich ein vor Angst zitterndes Bündel, das sich von Charmion tragen lassen mußte? Und jetzt? Jetzt kannst du im Boot ungehindert spazieren gehen, in der Kantine etwas essen, mit Kollegen reden oder mit dem Rechner arbeiten oder spielen. Kann man da von echter Gefahr reden? Ist es nicht vielmehr eine bequeme Kreuzfahrt, was wir gerade erleben? Sogar Apollo 13 damals, der ein Sauerstofftank oder so etwas im Versorgungsteil explodiert ist, war gefährlicher. Und die Challenger-Explosion, weltweite Direktübertragung der Konsequenzen eines zu kalten Dichtungsringes und spektakulären Management-Versagens, was war denn das? Und wir regen uns darüber auf, wenn wir mal nicht gleich ein Ventil rechtzeitig zukriegen oder bloß ein paar Programme verrückt spielen.

Um 14:30 ist die Versammlung zu Ende. Ich schätze Meetings, die zügig durchgeführt werden. Besonders, weil man eigentlich immer beobachten kann, daß die wesentlichen Entscheidungen und Denkprozesse schon vorher stattfinden. Aber natürlich ist eine halbwegs saubere demokratische Legitimation unseres Vorgehens notwendig.

Der Schacht verengt sich wieder auf bis zu dreißig Meter, so daß wir in der nächsten Zeit genötigt sind, einen Nickwinkel des Bootes von bis zu 70 Grad auszuhalten. Die Geschwindigkeit ist dabei selten größer als ein paar Dutzend Zentimeter pro Sekunde. Um 15:30 Uhr biegt sich der Tunnel in einer Tiefe von 14200 Metern wieder in horizontale Richtung. Das ist nicht die einzige Änderung: Erstens gibt es mehrere Abzweigungen, die teilweise eine hinreichend lichte Weite haben, um sie auch mit dem Boot befahren zu können, zweitens verengt sich der Tunnelquerschnitt auf einen Durchmesser von erst 20 Metern, dann sogar noch weniger, drittens wird sein Querschnitt praktisch kreisförmig und viertens liegt auf dem Boden des Tunnels kaum noch Geröll.

Die Wände des Tunnels scheinen stellenweise gerippt, als ob sie durch Knorpel gestützt würden. Cohäuszchen spricht es aus: "Wie eine riesige Speiseröhre!"

"Beruf es nur nicht!" sage ich, "Was sagt der Geologe?"

"Der sagt, daß hier mal Lava mit ganz ordentlicher Geschwindigkeit durchgerauscht sein muß."

"Und die gelegentlichen Wasserströmungen, die du früher diagnostiziert hast?"

"Kann ich nicht sagen," mein Amurdarjew, "es liegt zuwenig Zeug rum, was unter solchen Bedingungen Spuren macht."

"Also macht jemand regelmäßig sauber?" fragt Cohäuszchen.

"Nicht unbedingt. - Aber werft mal einen Blick auf den Salzgehalt!"

Mit einem Blick sehen wir, was er meint: Dieses Wasser kann man bereits trinken. Es würde nur noch ganz leicht salzig schmecken, allerdings würde, wenn man es unter Normaldruck brächte, der hohe Kohlendioxidgehalt explosionsartig auskochen.

"Aber es gibt andere Gesichtspunkte." murmelt Amurdarjew plötzlich, rückt dann aber nicht damit heraus, was er meint. Vielleicht führt er Selbstgespräche.

Der Tunnel sieht nicht nur aus wie eine Speiseröhre, er windet sich auch so. Das heißt, eine Speiseröhre windet sich so nicht - im allgemeinen ist sie im Verhältnis zum Durchmesser kürzer.

Um 17 Uhr sind wir auf 14500 Meter. Weil es so schön vorangeht, machen wir noch keinen Dienstschluß. Niemand protestiert - Weil der Salzgehalt da draußen gegen Null tendiert, haben vielleicht alle, nicht nur ich, das Gefühl, daß wir bald etwas Besonderes vorfinden. Aber keiner hat eine Vorstellung davon, was das sein könnte.

Einige wilde, korkenzieherartige Biegungen zwingen dem Boot vorübergehend wieder eine starke Nicklage auf. Dabei erreichen wir 14800 Meter.

"Langweilig." sagt Cohäuszchen, "Was tun wir, wenn wir für alle Ewigkeit nur solche Tunnel vorfinden?"

"Darüber zerbrechen wir uns den Kopf, wenn es soweit ist!" sage ich, "Solange unsere geologischen Mitarbeiter uns immer wieder glaubhaft versichern, daß es solche Tunnel nicht geben kann, können sie auch nicht allzu lang sein, wenn es sie denn doch mal gibt!"

"Macht euch nur lustig!" murmelt Amurdarjew, "Ihr werdet auch noch eure unerklärbaren Probleme bekommen."

"Tja." sagt Cohäuszchen, "Manche laufen vor dieser unterhaltsamen Veranstaltung davon. Wo ist zum Beispiel die Kollegin Yay? Und Seltsam ist auch nicht da. Merkwürdig."

"Der Schluß ist nicht zwingend!" sage ich, "Alfred hält sich oft in seiner Kabine auf, oder auch im hinteren Labor."

"Ich wollte ja auch gar nichts andeuten." sagt Cohäuszchen. Natürlich wollte er das.

Um 18:10 ist es dann soweit: Wir erreichen unser neues, selbstgesetztes Limit von 15000 Metern. Da der Tunnel aber gerade mal wieder sehr horizontal verläuft, hält das Boot nicht an.

"15002 Meter." sagt Cohäuszchen nach einer Weile.

"Haben wir 15000 Meter Wassertiefe eigentlich bezogen auf Salzwasser beschlossen?" frage ich, "Dann können wir nämlich noch etwas weiter!"

"Nun werd nicht spitzfindig!" murmelt Edwin.

Der Tunnel windet sich wieder etwas nach oben, und die Tiefenanzeige geht wieder unter 15000 Meter. Ein Seitenspalt zieht vorbei. Zu eng, um mit dem Boot hineinzufahren, aber die Kanten scheinen abgerundet.

"Wie aufgeschmolzen. Wie Kerzenwachs!" sage ich. Amurdarjew kommentiert das nicht. "Die umfassende, alles erklärende geologische Theorie wird dir auf dieser Reise sowieso noch nicht einfallen!" sage ich zu ihm, "Da werden wir uns noch öfter auf den Weg machen müssen!" Das kommentiert er auch nicht. Dafür kommentiert er etwas anderes:

"Ist euch aufgefallen, daß wir seit geraumer Zeit eine Netto-Strömung haben?"

"Tatsächlich? Woher weißt du das?" frage ich.

"Nebenergebnis der Trägheitsnavigation. - Wenn ihr nicht dauernd am Streßanalyse-Programm kleben würdet, dann hättet ihr es auch bemerkt."

"Wieviel ist es denn?"

"Sehr wenig, und während des Fahrens kann man es kaum messen - eigentlich müßte man ja an allen Stellen des Tunnel-Querschnittes messen. Aber die Trägheitsnavigation kann trotzdem nebenbei Strömungsfelder vermessen, wenn auch die Genauigkeit nicht so groß ist. Im senkrechten Teil des Schachtes war die Driftgeschwindigkeit des Wassers zu gering und hätte das Ergebnis von Konvektionsströmungen sein können. Aber hier ist der Querschnitt enger, und in genau horizontalen Abschnitten sollten überhaupt keine Konvektionsströmungen auftreten. Es sind aber welche da!"

"Ich habe eigentlich nur eine zahlenmäßige Angabe haben wollen und keinen Grundsatzvortrag über das Messen von Strömungsfeldern!"

"Du kriegst deine Zahl. In der Tunnelmitte ist es fast ein halber Zentimeter pro Sekunde. Bei 16 Meter Tunneldurchmesser. In unsere Fahrtrichtung."

"Kein Irrtum möglich?"

"Ich glaube nicht. Ich kenne das Trägheitsnavigationsprogramm natürlich nicht."

"Ich meine, überleg doch mal: Die CHARMION hat einen Druckkörperdurchmesser von jetzt 6.5 Metern. Rechts und links sind noch die äußeren Tauchtanks, die Vortriebsmaschinen und die Kollisionsschienen und alles mögliche. Wenn so ein großer Körper durch eine Röhre von bloß 15 bis 20 Metern Durchmesser treibt, dann kommt es allein dadurch schon zu Stömungsfeldern rund um diesen Körper herum."

"Kann sein. Das wäre aber auch schon früher der Fall gewesen - wir fahren auf dieser Reise ja nicht das erste Mal durch beengte Höhlungen. Aber erst jetzt sagt die Trägheitsnavigation, daß eine derartige Strömung tatsächlich vorhanden ist. Außerdem sind die Angaben in sich konsistent, weil diese Strömung bei größerem Tunneldurchmesser abnimmt. In der erwarteten Weise."

"Mmh." sage ich, "Ich wollte nicht deine Kompetenz in Fage stellen. Wieviel, sagtest du?"

"Fünf Millimeter pro Sekunde. In der Tunnelmitte."

"Fünf Millimeter. Also extrapoliert auf die Abwesenheit des Bootes?"

"Das nehme ich an. Sonst wäre diese Aussage sinnlos."

"Gut. Ein halber Zentimeter pro Sekunde, hier haben wir 16 Meter Durchmesser. Das sind fast 200 Quadratmeter. Dann sind das, Moment, pro Quadratmeter fünf Liter pro Sekunde, also insgesamt ein Kubikmeter pro Sekunde. Da müssen wir aber noch berücksichtigen, daß das Strömungsprofil etwa parabolisch ist. Dann haben wir einen halben Kubikmeter pro Sekunde."

"So viel? Bist du sicher?" fragt Edwin verwundert.

"Rechne nach. Es ist elementare Geometrie."

"Immerhin!" sagt Amurdarjew, "Daraus können wir eine ganze Menge lernen!"

"Was denn?" fragt Edwin.

"Wenn dieser halbe Kubikmeter für alle Zeiten hier entlang fließt, dann heißt das nichts weiter, als das in einer langen aber definitiv endlichen Zeitspanne sich hier Salzwasser befinden müßte."

"Wenn es sich nicht um irgendwelche circularen Strömungen handelt!" werfe ich ein.

"Ja. Das ist auch möglich. Aber daran glaube ich auch nicht. Die könnten nämlich nur durch thermische Konvektionsvorgänge in Bewegung gehalten werden."

"Warum nicht? Den Erdwärmegradienten haben wir!"

"Schon. Aber daß diese Strömungen gegen den Strömungswiderstand dieses langen Tunnels aufrecht erhalten werden, daran glaube ich nicht so recht. Und dann hätten wir in höheren Lagen der Höhle auch schon solche stetigen Strömungen beobachten müssen. - Dasselbe Argument läßt sich auch gegen Tidenströmungen anführen, falls du jetzt damit kommen möchtest!"

"Ich habe nicht im Traum daran gedacht." sage ich, "Also, was du nahelegen willst ist, daß hier irgendwo irgend etwas einen halben Kubimeter Wasser pro Sekunde schluckt?"

"Ja. Aber nicht dauernd. Weil hier kein Salzwasser ist."

"Könnte das Wasser bis hierhin durch Inonenaustauschvorgänge salzfrei werden? In solchen Mengen?" frage ich Cohäuszchen.

"Nein. Schon gar nicht als ständige Einrichtung - Ionenaustauscher sind auch irgendwann erschöpft."

"Wenn sie alle ihre Ionen ausgetauscht haben, vermute ich mal ganz laienhaft?"

"Ja. So kann man das sogar einem Physiker erklären!"

"Die physikalische Chemie habt ihr von uns gelernt, nicht umgekehrt!"

"Herwig, ich will das auch wissen, was mit dieser Strömung ist!" beschwert Carola sich, um unseren Mikro-Schlagabtausch zwischen den Fakultäten zu unterbinden. Recht hat sie.

"Was verstehst du unter 'nicht dauernd'?" frage ich Gerald wieder.

"Bevor das Meerwasser hier unten ankommt, muß irgend etwas passieren. Muß sich die Strömung umkehren oder so. Da sie aber sehr gleichmäßig fließt, muß das ein sehr langperiodischer Vorgang sein."

"Tage?"

"Monate oder Jahre eher. Viel länger nicht, denn dazu ist die Strömung wieder zu stark."

"Das Salzwasserargument."

"Richtig."

"Du hast mal auf diese Schleifspuren am Boden der Tunnels hingewiesen. Könnte es was damit zu tun haben?"

"Kann sein, kann aber auch nicht sein. - Hier haben wir im Moment keine solchen Schleifspuren."

"Tiefenrekord!" sagt Cohäuszchen, der zwischendurch mal wieder auf den SISC gesehen hat. Der zeigt jetzt 15100 Meter an.

"Ein halber Kubikmeter pro Sekunde." denke ich laut nach, "Wißt ihr, woran ich denke, wenn ich mich frage, was soviel Wasser schlucken könnte?"

"An ein Leck in die Welthöhle hinein vermutlich?" fragt Carola.

"Vermutlich."

"Aber für das Boot wäre das Leck wohl zu klein?"

"Das sowieso. Was mich mehr stört ist, daß es soviel ist. Bei diesem Druckunterschied würde ein halber Kubikmeter Wasser pro Sekunde jedes Leck, wie immer es auch aussieht, ganz schnell erweitern. Und dann würde die Welthöhle absaufen. Das ist aber nicht geschehen!"

"Vielleicht irgendwelche Sickervorgänge?"

"Durch diesen Fels? Denk dran, Carola: Eine Atmosphäre Druckunterschied bei einem Liter sind 100 Wattsekunden. Wir reden hier von 500 Litern pro Sekunde und eine Druckunterschied von einem Kilobar! Das entspricht einer Dauerleistung von 50 Megawatt, wenn dieses Wasser tatsächlich in die Welthöhle gelangen sollte! - Mit 50 Megawatt kann man ganz schön viel Radau machen. - Also es ist nicht so etwas, was man innerhalb der Welthöhle unter dem Begriff 'Salzige Quellen' oder - es ist ja nicht salzig - unter 'Quellen' kennen würde. Eher würde man schon von einem Wasservulkan sprechen, oder einem Höchstdruckgeysir oder so etwas."

"Es muß nicht die Welthöhle sein!" sagt Amurdarjew.

"Nein? Und was dann?"

Er zuckt die Achseln. Edwin hat einen Vorschlag: "Abkühlung des Wassers. Zieht sich zusammen, deshalb fließt etwas nach!"

"Glaube ich auch nicht." sage ich, "weil das auch einem ganz ordentlichen Wärmeverlust des Wassers, das so an Volumen verliert, entspräche. Hier sollten sich aber im Laufe der Zeit überall ziemlich stationäre Wärmetransportströme herausgebildet haben."

"Wenn wir noch länger darüber diskutieren, behaupten wir schließlich, daß es ein Meßfehler ist, weil uns nichts anderes mehr einfällt!" sagt Edwin.

"Nein." sagt Amurdarjew, "Und spätestens heute Nacht, wenn das Boot stationär liegt, werden wir es merken. Ein halber Zentimeter pro Sekunde würde es jede Stunde um 18 Meter versetzen, wenn man nichts unternimmt."

"Okay." fasse ich zusammen, "Wir haben einen Strom von einem halben Kubikmeter pro Sekunde, und wir wissen noch nicht, was der Grund ist. Weiß Wellington es schon?"

"Nein." Amurdarjew erhebt sich, "Ich werde ihn jetzt unterrichten - Nein, ich gehe selbst in die Zentrale!"

"So eine schwache Strömung!" sagt Edwin, als Gerald gerade den Raum verlassen hat, "Vielleicht ist es gar nicht so wichtig."

"Und wenn sie zehnmal schwächer wäre! Auch über fünfzig Liter pro Sekunde müßten wir uns den Kopf zerbrechen. Es wäre genauso schwer erklärbar."

"Vielleicht erfahren wir es ja gleich!" sagt Edwin, "Ich habe das Gefühl, daß sich der Tunnel da vorne aufweitet."

"Und ich habe das Gefühl, daß Wellington unser Tiefenlimit bereits ganz schön überzogen hat!" sage ich, "Und die Arbeitszeitordnung auch. Und das an einem Freitagabend!"

Es ist gerade 20 Uhr vorbei. Und der SISC zeigt 15151 Meter Tiefe an.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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