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52. Bordroutine

Bevor ich schlafen gehe, fängt Carola mich vor ihrer Kabinentür ab. Keine Einleitung einer Verführung wie bei Gabi, wie sich schnell herausstellt. Das wäre auch ein mir unbekannter Zug an Carola, andererseits pflegen in Streßsituationen neue Charakterzüge gelegentlich unerwartet hervorzutreten, wie man weiß.

"Hast du einen Moment Zeit? Dauert wirklich nicht lange!"

"Ja, was ist denn?"

Sie winkt mich in ihre Kabine herein.

"Hier, in diesem Fach bewahre ich einige sehr persönliche Dinge auf." zeigt sie mir.

"Ich war nicht dran!" sage ich, "Sowas tue ich nicht!"

"Nun fühl dich doch nicht gleich angegriffen! Du sollst nämlich dran. Sieh diese Briefe hier. Sie sind adressiert. Könntest du dafür sorgen, daß sie abgeschickt werden, wenn mir etwas zustoßen sollte?"

"Natürlich, natürlich. Aber schwebst du denn in einer Gefahr, in der wir anderen nicht schweben?"

"Wahrscheinlich nicht. Solange wir an Bord sind, und solange wir die Welthöhle noch nicht erreicht haben, leben wir entweder alle, oder keiner von uns. Danach könnte es unübersichtlich werden."

"Wir werden uns nicht in unüberlegte Abenteuer einlassen."

"Ist das nicht schon ein unüberlegtes Abenteuer?"

"Vielleicht. Jedenfalls danke für dein Vertrauen. Ich werde es tun, aber die Wahrscheinlichkeit, daß ich es tun muß, ist gering. Wir werden leben!"

"Ich habe noch einmal in deinem Buch gelesen." sagt sie.

"Ja und?"

"Diese Welt da ist so roh."

"Die Welthöhle? Ist unsere Welt das nicht? Wir haben nur andere Methoden der Roheit. - Ich würde sagen, daß die Welthöhle gefährlich ist, aber nicht in einem hinterhältigen Sinne."

"Ich weiß nicht."

"Ich glaube, dir machen die zwölfhundert Bar auf unserem Boot zu schaffen! - Das geht uns doch allen so."

"Jedenfalls wollte ich es dir sagen."

"Mach dir auf jeden Fall keine Sorgen um die Welthöhle - es gibt Abenteuerromane, in denen geht es wesentlich hektischer zu!"

"Es ist ein Unterschied, ob man einen Roman liest, oder eine Beschreibung dessen, was vielleicht tatsächlich und in aller Wirklichkeit auf einen zukommt."

"Vielleicht hast du recht." gebe ich zu.

Ich überlege mir, ob ich sie fragen sollte, an wen die Briefe sind, aber wenn sie es mir nicht von selbst sagt, dann geht mich das auch nichts an. "Ich habe noch nicht daran gedacht, Briefe zu schreiben." sage ich, "aber wenn ich noch auf diese Idee kommen sollte, dann können wir den umgekehrten Deal auch machen. - Ich weiß nur nicht, wem ich noch Briefe schreiben sollte."

"Natürlich." sagt sie, "Wenn du welche schreibst - jederzeit."

Gespräch beendet. Sie bittet mich nicht hinaus, aber das wohl nur aus Höflichkeit. Der distanzierte Ton in ihrer Stimme ist spürbar. Ich nehme also besser nicht an, daß sie den Wunsch hat, diese Nacht nicht alleine zu sein. Obwohl man bei Frauen da manchmal mit merkwürdigen Überraschungen rechnen muß. So bin ich 20 Sekunden später in meiner eigenen Kabine.

Vorm Einschlafen versuche ich, mir vorzustellen, wie ein Verführungsversuch durch Carola wohl ausgesehen hätte. Es gelingt mir nicht - wir kennen uns zu lange dienstlich. Vielleicht liegt's daran.

Andererseits, denke ich, muß man eigentlich viel häufiger, als man es direkt merkt, Gegenstand sexuellen Interesses sein. Wie oft betrachtet man eine Frau unter genau diesem Gesichtspunkt, und sei es nur für ein paar Sekunden zwischendurch. Man hat im Laufe des Lebens erotische Phantasien, die viele tausend Frauen betreffen, gehabt, und wer das nicht glaubt, der macht sich etwas vor. So grundlegend anders kann es den Frauen eigentlich nicht gehen. Vielleicht liegt das Talent und der Erfolg einiger Männer beim anderen Geschlecht nur darin, daß sie dieses tentative Interesse bemerken und dann gezielt nachhaken.

Bei den Granitbeißerinnen war sexuelles Interesse eben sehr viel einfacher zu bemerken - da wurde ein Mann keine Sekunde lang darüber im unklaren gelassen. Ein himmelweiter Kulturunterschied? Vielleicht. Aber eigentlich auch nur ein gradueller.

Bei Carola könnte ich wahrscheinlich ganz sachlich nachfragen, ob sie darauf aus ist, daß jemand oder ich etwas in ihr 'home-directory' steckt. Sie würde mir das wahrscheinlich gar nicht übelnehmen und genauso sachlich kontern - man müßte das Experiment mal machen, denke ich mir. Vielleicht sogar coram publico. Schade, daß ich so wohlerzogen und rücksichtsvoll bin und mich deshalb alle meine Instinkte von dieser Art der plumpen Anmache abhalten.

Aber eigentlich ist es mir auch wurscht.

Montag, der erste Februar. 8 Uhr. Wir kreuzen weiter. Was Wellington sich davon verspricht, daß wir alle möglichst alle Manöver verfolgen, weiß ich nicht - wenn ich nicht die dreidimensionalen Darstellungen des Navigationsprogrammes zu Hilfe nehme, verliere ich die Übersicht.

Um fünf Minuten vor 11 Uhr erreichen wir eine Tiefe von 12000 Metern und sind damit definitiv tiefer als der Mariannengraben, der 11 Kilometer und etwas mehr tief ist, jedenfalls weniger als 12 Kilometer. Damit sind wir tiefer als die Tauchversuche, die dort schon in den sechziger Jahren von Picard unternommen wurden, wahrscheinlich sind wir auch tiefer als wir es in der Welthöhle waren - wenn unsere damalige Messung von 10500 Metern einigermaßen stimmt.

Wir sind jetzt so tief wie noch niemals ein Mensch zuvor.

"Eigentlich ein Grund zu feiern!" sagt Edwin, als ich auf diesen Tatbestand hinweise.

"Eine runde Zahl ist kein Grund, zu feiern. Wenn wir die Tiefe in Fuß ausdrücken, ist es keine runde Zahl, wenn wir nicht das Dezimalsystem verwenden, dann ist es keine, wenn wir ..."

"Du findest überall was!"

"Ich will euch nur damit versöhnen, daß es keine Feier geben wird! Ihr habt doch gehört: Das nächste Mal fliegen die Sektkorken, wenn wir in der Welthöhle sind. Keine Sekunde früher. So ist es beschlossen."

"Es sei denn," sagt Cohäuszchen geheimnisvoll, "uns fällt der Sekt vorher in die Hände - durch irgend einen dummen Zufall!"

"Wir haben es doch versucht! Oder - weißt du etwas?"

"Das habe ich nicht gesagt."

"Aber du weißt etwas!"

"Ich habe Stillschweigen versprechen müssen!" sagt Cohäuszchen.

"Na komm! Das hast du sowieso schon gebrochen!"

"Nein. Ich sage nichts!"

Es ist erstaunlich, mit welcher Ausdauer wir bis zum Essen dieses Thema weiterdiskutieren. Das läßt tief in die Motivationsstrukturen meiner Kollegen blicken. Nur unsere Konzentration leidet darunter - nur wenn das Boot vorübergehend einen so großen Nickwinkel einnimmt, daß wir uns festhalten müssen, dann betrachten wir die Außenansicht mit höherer Aufmerksamkeit.

Während des Mittagessens sind wir in einer so engen Höhle, daß Wellington das Schiff weiterbewegen möchte - wegen der Wärmeproduktion. Also ist die Kantine locker besetzt - die gesamte Besatzung ißt schichtweise.

Wenn man etwas Vorstellungsvermögen in das investiert, was der SISC dauernd anzeigt, dann ist es nicht nur der Druck, der jetzt dem Boot zusetzt. Es ist auch die Außentemperatur: 42 Grad sind es im Moment. Solange wir in Fahrt sind. Die Energieerzeugung im Schiff muß also nicht nur Verbraucher und Vortrieb versorgen, sondern auch die Klimaanlage, also die Wärmepumpen, die unsere Körperwärme und die Abwärme aller Aggregate nach draußen pumpen muß. Die Thermodynamik sagt, daß für jedes Watt, das hier drinnen bei 20 Grad Raumtemperatur erzeugt wird, mindestens etwa ein fünfzehntel Watt aufgewendet werden muß, um es auf das Niveau von 42 Grad außerhalb des Schiffes zu transportieren. Das sind natürlich Idealannahmen - Luft, die auf 20 Grad gekühlt werden soll, muß mit Kühlkörpern in Kontakt gebracht werden, die kälter als 20 Grad sind, und damit draußen Wärme vom Schiff abgegeben wird, müssen die Wärmeaustauscher außerhalb des Druckkörpers wärmer als diese 42 Grad sein. Die Temperaturdifferenz, die die Wärmepumpen überwinden müssen, ist also größer. Deutlich größer, denn wir müssen erhebliche Wärmemengen loswerden. Außerdem arbeiten weder Wärmepumpen noch ihre Antriebsmaschinen mit hundertprozentigem Wirkungsgrad, und die Energie, die sie brauchen, muß auch erst einmal erzeugt werden, und zwar von unserem FP-Reaktor, der thermodynamisch auch keinen sehr hohen Wirkungsgrad hat.

Alles zusammen bewirkt, daß für jedes Watt, was im Schiffsinnern thermisch frei wird, ein fünftel bis ein drittel Watt benötigt wird, um es wieder los zu werden. Das führt wiederrum zu weiterer Wärmefreisetzung im Reaktor.

Dazu kommt der Anteil des Wärmestromes, der ständig durch die Bootswände in das Schiffsinnere gelangt und auch wieder nach draußen gepumpt werden muß. All das ist eine Demonstration der jedem Ingenieur bekannten Tatsache, daß es viel einfacher ist, etwas zu heizen als es zu kühlen.

Wenn sich das Boot in beengter Umgebung aufhalten muß, dann wird seine beträchtliche Wärmeproduktion das Wasser in der Umgebung anheizen, ohne daß sich dieses durch Konvektion entfernen kann. Über kurz oder lang würde sich das Boot also in noch wärmerem Wasser aufhalten, was die gesamte Situation verschärft und die Notwendigkeit gesteigerter Energieproduktion bedingt.

Und diese Hitzeerzeugung würde in beengter Umgebung intensiv auf die umgebenden Felsen einwirken. Mit entsprechenden möglichen Wirkungen auf deren mechanische Integrität.

Dieses Risiko wollen wir natürlich minimieren. Wenn es dazu notwendig ist, von jetzt an das Boot dauernd zu bewegen, dann werden wir das tun. Eigentlich rechne ich schon längst damit, daß Wellington diese Maßnahme ankündigt. Rund um die Uhr.

Ich komme Cohäuszchen gegenüber zu sitzen. "Du sagst so wenig!" sage ich, "Du hast schon mindestens 20 Minuten keine Bemerkungen mehr über die Damenbekanntschaften anderer Leute gemacht!"

"Moment mal!" sagt er aufgebracht, "Ich muß doch nicht dauernd Dinge kommentieren, die mich nichts angehen!"

Das haben mehrere gehört. Solzbach artikuliert es für alle: "Das muß ins Logbuch! Günther hat zugegeben, daß es Dinge gibt, die ihn nichts angehen!"

Diesen Stimmungsaufschwung hatte ich garnicht beabsichtigt. Grundsatzdiskussion in über 12000 Meter Tiefe. Aber es ist zweifellos gut, wenn die Stimmung aufgelockert ist. Das kann man vielleicht noch etwas provozieren:

"Du hast uns noch gar nicht erzählt, Günther, warum es dich nicht in den Hafen der Ehe hineingetrieben hat!"

"Das kommt daher" antwortet Solzbach, bevor Cohäuszchen Luft holen kann, "daß er immer genau gegen den Wind segelt!"

"Nun laß ihn doch mal erzählen!" sage ich.

"Ich habe überhaupt nicht gesagt, daß ich etwas erzählen wollte!" stellt Cohäuszchen fest.

"Das haben auch wir gesagt." sagt Ulrich und weist in die Runde, "Guck mal! Alle hören jetzt zu! Dein Publikum!"

"Bei 'dein Publikum' muß ich an 'Tutti Frutti' denken!" sage ich.

"Nun bring ihn nicht durcheinander! Günther! Was ist?"

"Also ..." sagt Günther.

"Ja?"

"Ich sage dazu nur grundsätzlich etwas!"

"Na klar."

"Man kann keinen vernünftigen Grund für eine Ehe finden. Es ist alles Illusion, was man sich davon erhofft."

"Was ist zum Beispiel Illusion?" frage ich.

"Zum Beispiel. Einsamkeit. Man ist nicht weniger einsam, wenn eine Frau um einen herum ist. Oder Kinder. Das ganze Gequatsche, das einen nicht interessiert. Es ist wie Radio. Radio mit einem falschen Sender. Mit einem Programm, das einen nicht interessiert. - Oder noch anders: Wenn man lesen und schreiben kann, dann ist man nie allein. Der Weise ist nie allein. Hat er doch um sich all die, die etwas wesentliches zu sagen hatten, ob sie noch leben oder schon tot sind. Seinen freien Geist versetzt er, wohin er will. Was er körperlich nicht erreichen kann, das erfaßt er mit dem Denken. Und wenn es ihm an Menschen fehlen sollte, dann spricht er mit Gott. - Nie ist er weniger allein, als wenn er einmal allein ist."

Ich muß schlucken. Während dieser wenigen Sätze ist es still in der Kantine geworden. Plötzlich haben wir ein Stück vom wahren Günther gesehen, und es tut mir leid, daß ich ihn provoziert habe.

"Daraus entnehmen wir, daß du dich als 'weise' bezeichnest - ist das so, Günther?" fragt Solzbach. Allgemeines und befreiendes Lachen.

"Haben Sie mal Theophrast gelesen?" fragt der Pater dazwischen.

"Nein. Wer ist das?"

"Er ist schon über 2300 Jahre tot. Hatte ähnliche Ansichten vertreten."

"Es ist doch einfach so," sage ich, "es gibt Leute, die mögen die Anwesenheit anderer Menschen, ob eigene Familie oder Fremde, und es gibt welche, die mögen sie nicht. Und jeder macht sich seine Argumentation so, wie er sie braucht. Es gibt da keine absoluten Wahrheiten. - Edwin, zum Beispiel, kann ich mir nur als Familienvater vorstellen!"

"Wieso denn?" protestiert Edwin, "Ich fühl mich so auch ganz wohl!"

"Das sagst du nur, weil deine Frau unerreichbar weit weg ist!" sagt Carola unter allgemeiner Zustimmung.

"Tja, Carola, was ist denn mit dir?" frage ich sie.

"Du kennst mich doch schon so lange!"

"Deshalb haben wir noch lange keine Diskussionen über dieses Thema geführt. Nicht so eingehend, und nicht dich persönlich betreffend."

"Kannst du dir mich als Ehefrau vorstellen?" fragt sie.

"Nein. Das kann ich nicht." sage ich im demselben Tonfall, "Schon gar nicht als meine. Frage beantwortet."

"Könntest du dir Natalie als Ehefrau vorstellen?" fragt Cohäuszchen und schielt zu Natalie rüber, die mit Alfred Seltsam zusammen sitzt - schon wieder! Sie ist sichtlich unangenehm berührt, als sich plötzlich mehrere Blicke ihr zuwenden.

"Das mußt du sie selber fragen."

"Laßt mich in Ruhe!" sagt Natalie und kühlt damit die Stimmung wieder etwas ab.

"Hättest du dir Charmion als Ehefrau vorstellen können?" fragt Solzbach.

"Äh." sage ich, und "Ja?" fragt er.

"Das ist aber eine schwierige Frage. Damals lebte Irene noch. Aber wenn wir davon mal absehen ..."

"Ja?" fragt er noch einmal.

"In unserer Zivilisation, oder in der Welthöhle?"

"Allgemein!"

"Allgemein kann ich die Frage nicht beantworten. Oben, bei uns, wäre sie für lange Zeit hilflos wie ein Kind gewesen. Sie hätte mühsam in unsere Zivilisation hineinwachsen müssen. Wie ein Kind, das man in die Welt gesetzt hätte. - Und in der Welthöhle wäre es genau umgekehrt gewesen."

"Nicht ganz - in der Welthöhle wärst du der Magier gewesen, der viele Tricks kennt!"

"Das sollte man nicht überbewerten. Ich war in ein paar Situationen, wo es nützlich war, zu wissen, was ein Gleitschirm ist. Aber selbstständig hätte ich dort nicht leben können. Genausowenig, wie es Charmion in unserer Zivilisation etwas genützt hätte, mit Schwert und Pfeil und Bogen umgehen zu können und sogar Saurier mit fast bloßen Händen erledigen zu können. - Dazu kommt, daß für eine Granitbeißerin ein Mann doch eine Art Haustier ist. In der letzten Zeit mit Charmion zusammen hat sie mich das zwar nicht merken lassen, aber sie ist ja mit dieser Ansicht aufgewachsen. Ihr ganzes Denken ist davon beeinflußt. Das kann man nicht einfach über Bord werfen. Irgendwann wäre es durchgebrochen. Sicher. Wenn ich ganz rational darüber nachdenke, dann mache ich mir in diesem Punkt darüber keine Illusionen. Es hätte zu Konflikten geführt, oben und unten. - Jeder, der auf die Idee käme, in der Welthöhle 'auszusteigen', um dort unter den Eingeborenen zu leben, würde darunter sein ganzes Leben leiden."

"Vielleicht ist das eine Hypothese über die Absichten unseres großen Unbekannten." sagt Edwin.

"Wie meinst du das?"

"Vielleicht will er aussteigen - in der Welthöhle bleiben. Und uns anderen dazu aus dem Wege räumen."

"Dann wäre er der Dümmste an Bord. Nicht nur wegen dieser unrealistischen Illusionen, daß das möglich wäre. Wieso fängt er dann zum Beispiel jetzt schon an, mit seiner Sabotage?"

Edwin nickt: "Stimmt. Das paßt nicht. - Aber eigentlich paßt nichts, was man dem unterstellen kann. Außer purer Mordlust. - Purer, selbstloser Mordlust."

Die Erwähnung unser Schwierigkeiten läßt die Stimmung weiter abflauen. Die ersten bringen ihr Tablet zum Küchentresen zurück. Mittagspause ist zu Ende.

Der Rest dieses Tages ist langweilig. Ebenso der nächste. Kreuzen, Vermessen, Suchen. Bordroutine. Gerätecheck. Saubermachen. Dateien aufräumen oder komprimieren und archivieren, um noch mehr Platz zu sparen. Zu tun gibt's für jeden etwas, und man lernt auch immer wieder etwas neues hinzu. Idealvorstellung ist ja, daß jeder in der Lage sein sollte, das Boot ganz alleine zu steuern und zu warten - abgesehen davon, daß ein einzelner nicht genug Zeit hat und nicht an mehreren Stellen gleichzeitig sein kann, sind wir alle von diesem Ideal noch weit entfernt.

Am Dienstag, dem 2. Januar, habe ich die Wache bis Mitternacht. Das ist nicht schlimm, weil dadurch der Schlafrhythmus nicht beeinträchtigt wird, und meistens ist ja auch noch bis Mitternacht jemand in der Zentrale.

3. Januar, Mittwoch. Immer noch Suchkreuzen. Allmählich sind alle möglichen Wege abgefahren worden. Entweder, die Höhlen verengen sich soweit, daß wir nicht weiterkommen, oder sie führen in deutlich geringere Tiefen, so daß sie uns unserem Ziel nicht näherbringen, oder es geht weiter in die Tiefe. Dort weiterzufahren schieben wir erst einmal auf.

Am Mittwoch abend wird es deutlich, daß wir die naheliegenden Optionen erschöpft haben. Wellington beraumt eine Schiffsversammlung für den nächsten Morgen an.

An diesem Abend habe ich das ungute Gefühl, daß unser großer Unbekannter das ungute Gefühl haben könnte, schon zu lange nichts mehr angestellt zu haben. Vielleicht hat er das auch. Aber er stellt weiterhin nichts an. Schon seit Tagen ist das so. Es keimt die Hoffnung, daß das alles echte Unfälle waren. Daran kann man aber nur glauben, wenn man die Fakten nicht allzu genau ansieht.

Als ich kurz nach 22 Uhr meine Kabine betreten habe, bewegt sich meine Kabinentür, kaum, daß ich drin bin. Gabi schielt durch die Spalte. Gabi, die mich einige Tage lang kaum angesehen hat:

"Ich habe Verspannungen in den Schultern!"

"Ja?"

"Kannst du sie mir mal massieren?"

Das kann ich. Mein anfänglicher Verdacht, daß es weniger ihre Schultermuskulatur ist, die massiert werden will, sondern daß ihr Hormonhaushalt eines generellen Eingriffes bedarf, bestätigt sich schnell. Ich komme nicht mehr dazu, das zu tun, was ich an diesem Abend tun wollte - Um Mitternacht ist sie zufrieden und zieht es vor, sich in ihre eigene Kabine zurückzuziehen. Wahrscheinlich, denke ich, ist es ein Glücksfall, wenn man so problemlos Sexualität geboten bekommt, ohne alle Verpflichtungen, ein bloß iterierter one-night-stand, wie man wohl sagt. Und solange es nicht überhand nimmt, ist das eigentlich das optimale Arrangement.

Sollte ich mich in diesem Punkte als Glückspilz betrachten? Da kommt mir eine Idee: Ich überlege mir, ob ich anfangen sollte, eine Strichliste über sämtliche Kolleginnen zu führen, über alle ihre mir zur Kenntnis kommenden sozialen Aktivtäten - Gesprächigkeit, Klagen, sexuelle Aktivität und so weiter. Das ist ein alter Trick, um das Verhalten von Frauen vorausberechnen zu können: Wenn sich nämlich zeigt, daß im Verhalten einer Frau eine etwa vierwöchige Periodik nachweisbar ist, dann hat man ihren Monatsrhythmus. Dann ist die Hypothese, daß die Verhaltensmerkmale, die sich so als von ihrem Monatsrhytmus abhängig erwiesen haben, dieses auch weiterhin sind, und der Rest ist zeitliche Extrapolation.

Ich habe das seinerzeit mal bei Carola versucht, noch im alten Ada-Projekt. Sie redete viel, aber es gab auch sehr ruhige Tage. Und vereinzelt Kurzkrankheiten. Ich habe also meine Statistik gemacht, und es war tatsächlich auch eine Periode nachweisbar. Aber diese war nicht sehr regelmäßig. Zur Vorhersage nur bedingt geeignet. Und auch völlig nutzlos, weil ich weiterhin, solange wir im selben Zimmer saßen, keinen Einfluß auf Carola's Redseligkeit hatte.

Bingo! Denke ich. Die weibliche Periode. Unser großer Unbekannter. Mal macht er irgend etwas in zeitlich geringen Abständen, dann ist tagelang Ruhe. Als ob er nur seinen Launen nachgibt. Seinen Menstruations-bedingten Launen?

Ist er am Ende eine Frau? Eine von unseren sechs Damen an Bord?

Keine voreiligen genialen Schlüsse, denke ich mir. Es gibt hundert andere Gründe, warum jemand solche destruktiven Aktivitäten für längere Zeit unterbrechen will. Andererseits - ich weiß noch, wie depressiv Irene während ihrer Tage war. Bei Irene wirkte sich das in Inaktivität aus. Bei einer anderen Frau kann das ganz anders sein.

Ich muß an die Ulla Hahn denken, und an ihre Maria Wartmann. Die Frau - die fleischgewordene Paranoia. Spitzenformulierung für Chauvis. Sollte ich in der Öffentlichkeit sein lassen. Aber Vorsicht ist angebracht.

Und dann denke ich, daß, wenn noch mehr Indizien für diese These sprächen, es Strategien gäbe, weitere Anschläge zu verhindern.

Eine wäre, alle unsere sechs Frauen für den Rest der Reise einzusperren oder jede Sekunde ihres Wachens zu bewachen. Zu aufwendig, weil uns dann nicht nur die Arbeitskraft dieser sechs Frauen fehlt, sondern auch noch die ihrer Bewacher.

Eine andere Strategie wäre, unsere Frauen ausgeglichen zu halten. Sexuell befriedigt, zum Beispiel. Besser sogar übersättigt. Sicher eine Herausforderung für den Rest der Besatzung - einer allein kann das nicht bei allen machen! Was wäre, wenn wir eine solche Aktion heimlich absprächen und in die Wege leiteten? Natürlich nicht offiziell. Wellington darf nichts davon wissen. - Aber wenn wir sowas machen, und es gibt keine weiteren Zwischenfälle, ist das dann ein Indiz für die Richtigkeit meiner Vermutung?

Zu vage, denke ich mir. Und es kann ja jederzeit sein, daß wir die Welthöhle erreichen - dann würde es zuviele andere Dinge geben, die sich auf das Leben an Bord auswirken. Die Ergebnisse wären statistisch nicht mehr verwertbar.

Dann denke ich, daß ich mir jetzt eine hervorragende Begründung konstruiert habe, wenn ich mich an die anderen Frauen auch noch ranmachen wollte. Der Gedanke an Mary Morton erfüllt mich dabei nicht gerade mit Begeisterung, aber Vivial Grail und Esther Petersen sind mit 19 und 23 im knackigsten Alter - aber auch am schwersten zu kriegen, wegen des Altersunterschiedes. Und wohl auch weit von jedem Verdacht entfernt, denn ich rechne nicht damit, daß so junge Kücken zu solchen Taten fähig sind.

Paranoia ist eine Erscheinungsform der geistigen Entwicklung in der Lebensmitte, vorzugsweise bei intelligenten Menschen. Das würde von unseren Damen drei am verdächtigsten machen: Carola, Gabi, und Doktor Morton. Natalie - vielleicht gerade eben. Mit 25 ist man eigentlich noch zu jung.

Carola würde ich ganz dringend ausnehmen. Ich kenne sie schon zu lange. Aber kann man bei einem Menschen überhaupt sicher sein? Über ihr Intimleben spricht sie nie - wenn es da unlösbare Konflikte gibt, die sie zu fremdartigen Handlungsmustern zwingen? - Eigentlich müßte ich versuchen, es herauszufinden.

Ich verdränge diese Gedanken und versuche, einzuschlafen.

Am anderen Morgen sind wir um 8 Uhr, nach dem Frühstück, alle in der Zentrale versammelt. Um wieviel leichter das geht, wenn das Boot auf ebenem Kiel liegt, denke ich mir. Es ist Donnerstag, der 4. Februar, unser 22. Seetag. Oder Projekttag. Oder welches angemessene Wort man dafür mal prägen sollte.

"Ladies und Gentlemen!" sagt Wellington, um das allgemeine Gequassel gleich zu Anfang zu dämpfen, "Wir müssen jetzt entscheiden, was weiter geschehen soll. Rekapitulieren wir die Lage, damit alle auf dem gleichen Informationsstand sind."

Das tut er. Für mich jedenfalls keine neuen Informationen: Entweder sehr weite Umwege zurück, oder der Versuch, weiteren Höhlen zu folgen, die in noch größere Tiefen führen.

"Die Frage ist also," beendigt Wellington seine kurzen Erläuterungen, "ob wir es wagen sollten, das Boot noch höheren Drucken auszusetzen. Ich weiß, daß viele von Ihnen deshalb schon besorgt sind. Vielleicht kann uns der LI etwas mehr dazu sagen."

Jeffrey Garner steht auf: "Ich werde wenig neues sagen. Das meiste ist Ihnen allen bekannt. Hören Sie bitte trotzdem zu."

'Dazu sind wir doch hier!' denke ich.

"Es hat, seit U-Boote gebaut werden, eine Faustregel gegeben: Werftgarantie mal drei, plus ein bißchen. Was 'ein bißchen' bedeutet, wird niemals genau ausgesprochen - niemand weiß es. Also: Werftgarantie mal drei plus ein bißchen - dann bricht das Boot."

Er schaltet eine Seekarte auf den großen Bildschirm. "Unsere Werftgarantie ist, wie sich inzwischen rumgesprochen haben sollte, 4000 Meter Tauchtiefe. Die dreifache Tiefe haben wir jetzt erreicht. Uns trennt also offenbar nur noch ein bißchen von dem, was auch immer passiert, wenn unser Druckkörper bersten sollte."

Er zeigt jetzt auf die Karte:

"Bevor Sie sich zu sehr darüber beunruhigen, sehen Sie sich bitte diese Kurse an. Das waren die Testfahrten dieses Bootes im Atlantik. - Von Greenock aus, ja. - Wie Sie sehen, wurden keine Gebiete erreicht, in denen eine Tauchtiefe wesentlich größer als 4000 Meter erreicht werden konnte. Es gibt zwar größere Meerestiefen, aber, bedingt durch den strengen Terminplan des Projektes, wurden diese nicht angesteuert. Sonst wären wir noch nicht unterwegs. Eine Werftgarantie für größere Tauchtiefen konnte also nicht gegeben werden. Weil es nicht getestet wurde."

Eine neue Karte erscheint, eine Weltseekarte. Garner fährt fort:

"Wie Sie wissen, sollte dieses Boot ursprünglich militärische Aufgaben wahrnehmen. Dabei wurden keinerlei Einschränkungen bezüglich möglicher Operationsgebiete angenommen. Und keinerlei Einschränkungen über die Art der möglichen militärischen Einsätze. Also mußte bei der Konstruktion des Bootes davon ausgegangen werden, daß auch Operationen in größten Tiefen notwendig werden könnte. Das sind, wie Sie alle wissen, fast 12 Kilometer. Das Boot wurde also tatsächlich für diese Tauchtiefe konstruiert. Andererseits ..."

Garner sieht auf einen Bildschirm an der Seite, wo er seine Stichwortliste hat:

"Andererseits waren solche Tiefseeoperationen unwahrscheinlich, und man konnte annehmen, daß, wenn sie erforderlich sein würden, bereits sowieso eine Situation bestand, in der aus anderen Gründen eine beträchtliche Gefährdung des Bootes vorlag. Deshalb war es nicht sinnvoll, die üblichen, ingenieurmäßigen Sicherheitsmargen zu berücksichtigen. - Das war der eine Grund, der andere war, daß das Boot einfach nicht mehr schwimmfähig sein würde, wenn es für unbeschränkte Operationen in 12 Kilometer Tiefe gebaut worden wäre."

Er holt Luft.

"Die Lage ist also die: Die Werft hätte uns eine Garantie für 12 Kilometer Tauchtiefe gegeben, wenn es vor der Küste Schottlands ein Meeresteil mit dieser Tiefe gegeben hätte. Aber die Bedeutung dieser Garantie ist in Nuancen anders als es bei U-Booten gemeinhin üblich ist. Insbesondere ist es nicht anzunehmen, daß die eben erwähnte Faustregel gilt: Dieses Boot wird nicht 36 Kilometer Tiefe erreichen können - höchstens in Einzelteilen. - Aber, meine Damen und Herren, mehr als 12 Kilometer sind wohl drin. Jedenfalls, was den eigentlichen Druckkörper betrifft."

Stille. Garner wartet. Wahrscheinlich auf die Frage, die auch kommt: "Wieviel mehr?" fragt Cohäuszchen.

"Wissen sie, wie man einen Würfel benutzt?"

"Ja."

"Dann wissen Sie genausoviel wie ich."

Gedämpftes, unbehagliches Lachen.

"Es gibt noch ein paar andere Gesichtspunkte." fährt Garner fort, "Wie Sie auch wissen, und wie man es fast schon mit bloßem Auge sehen kann, erfährt das Boot durch den Druck eine Geometrieveränderung. Es wird kleiner. Nun ist es technisch gar nicht so einfach, das Boot so zu entwerfen, daß es diese Größenveränderung mitmacht, ohne daß sich an der Statik etwas ändert. Es ändert sich eine ganze Menge, und diese Änderungen wachsen stark an, wenn die lineare Verkleinerung ein Prozent - es ist etwas mehr - wesentlich überschreitet. Die Kräfte, die durch die Bootseinbauten von innen auf den Druckkörper ausgeübt werden, werden zu groß - was nicht schlimm wäre - und zu ungleichmäßig. Das wird unseren weiteren Weg in größere Tiefen beschränken. - Meiner Meinung nach könnte der Druckkörper noch bis zu 20 Kilometern funktionieren. Aber wegen des eben angesprochenen Effektes knackt es schon lange vorher. Glücklicherweise können wir es vorher bemerken, wenn es soweit ist, weil die Streßanalyse die asymmetrische Belastung des Druckkörpers auf das genaueste dokumentieren kann. - Sie kennen ja alle das Programm. Am Anfang ist diese asymmetrische Belastung sogar aktiv kompensierbar. Aber das hat natürlich seine Grenzen."

"Wieviel mehr ist es denn nun noch?" fragt Cohäuszchen noch einmal.

"Im Moment ist die Statik noch in Ordnung. Daraus schließe ich, daß noch ein paar Kilometer möglich sind. Einer bestimmt, vielleicht auch zwei. - So. Das war alles, was ein dummer LI zu dem Thema sagen kann."

"Danke." sagt Wellington, "Sie haben es gehört. Wir können also noch weiter. Nicht nur das. Wenn sich die Statik ungünstig entwickeln sollte, werden wir rechtzeitig vorher gewarnt. Es ist kein Glücksspiel, was wir machen. Kein unkalkulierbares Risiko."

Da schau her, denke ich, wie manipuliere ich eine Versammlung? Einen Lehrgang für die politische Rede habe ich auch einmal mitgemacht. Da lernt man das. Ganz klar, daß er weiter will, und daß er will, daß auch die anderen das möchten.

"Ich möchte auch weiter." sagt Gabi Gohlmann. Das überrascht mich einigermaßen: "Warum denn du?" frage ich.

"Homberg, würden Sie vielleicht die Entscheidungen der anderen Mitarbeiter diesen selbst überlassen, ohne zu versuchen, sie zu beeinflussen? Wäre das zuviel verlangt?"

"Ich habe niemanden beeinflußt!" sage ich und sehe Wellington einigermaßen unwirsch in die Augen. Er hält meinem Blick stand. Da muß ich noch wohl etwas drauf setzen:

"Man sollte vielleicht mal das Versammlungsprotokoll durchgehen, um zu sehen, wer wann wen zu beeinflußen sucht!"

Jeder weiß, daß es kein formelles Versammlungsprotokoll gibt - nur die Innenkameras laufen dauernd mit. Und alles ist ja noch frisch in der Erinnerung der Anwesenden.

"Wie meinen Sie das?" fragt Wellington.

"Wie ich es gesagt habe."

"Können wir das vielleicht ein andermal ..." versucht Amerlingen, zu vermitteln.

Wellington atmet tief durch. Liegt diese ganze Konfrontation vielleicht daran, daß ich die Autorität dieses Mannes durch meine Welthöhlenexpertise herausgefordert habe? Oder sind meine Ansichten, wie ich sie in meinem Buch ausgedrückt habe, den seinen zuwider? Irgendwie mag er mich nicht. Anders sind die vorschnellen Kritik-Vorstöße nicht zu erklären. Ich habe noch nicht beobachtet, daß er andere direkt kritisiert hat, jedenfalls nicht vor aller Augen. Auch nicht seine nautischen Mitarbeiter.

Eigentlich gehört Wellington zwei Kasten an: Der Kaste der Seeoffiziere, und der Kaste der Wissenschaftler. Das sind eigentlich zwei nicht miteinander vereinbare Welten: In der einen Kaste gibt es so einen Begriff wie Autorität, der der anderen Kaste eigentlich fremd ist, oder wenigstens fremd sein sollte. Ein Wissenschaftler, der autoritätsgläubig ist, ist kein Wissenschaftler.

Vielleicht sieht er in sich selbst mehr den Seeoffizier, vielleicht schiebt meine Anwesenheit ihn in die Richtung - eine Art Polarisierungseffekt.

Dann fällt mir ein, daß ich ja in seine Kaste eingebrochen bin - damals, in der Welthöhle. War ich nicht Kapitän in Osont's Flotte? Vielleicht zählt das für ihn nicht, oder er ist sich nicht darüber klar, ob es zählt.

Ich bin der Meinung, es zählt: Die Kompetenz eines Kapitäns hängt nicht davon ab, auf welchem technischen Niveau sein Schiff ist. Ich habe ein Meer befahren, daß er gar nicht kennt. Noch nicht kennt. Ja, natürlich bin ich eine Art Konkurrenz für ihn. Schichten seiner Persönlichkeit, die sein Verhalten beeinflußen, sehen das jedenfalls so.

Endlich fährt er fort: "Machen wir's demokratisch. Wer ist dafür, daß wir weiteroperieren, sagen wir, bis zu einer Tiefe von 13 Kilometern?"

"Ausgerechnet 13?" fragt Gabi.

"Welches Limit würden Sie vorschlagen?" fragt Wellington sie, "Aber, die Zahl 13 - Seien Sie gewiß, sie hat nichts besonderes an sich."

"13500 Meter!" sage ich.

"Homberg, ich habe Sie nicht gefragt."

"13500 Meter." sagt Gabi. Ich könnte sie vor aller Augen küssen.

"Okay." sagt Wellington. "Wer ist also der Meinung, daß wir, solange uns die Streßanalyse nichts anderes nahelegt, uneingeschränkt bis zu einer Tiefe von 13500 Metern operieren sollten?"

Viele Hände gehen hoch. Fast alle.

"Gegenprobe?" fragt Wellington. Keiner meldet sich. "Enthaltungen?" Vielleicht ein Viertel aller Besatzungsmitglieder.

"Okay. Damit scheint dies beschlossen. Oder ist manipuliert worden, Herr Homberg?"

"Nein." sage ich. Arschloch, denke ich.

"Gut. Haben wir noch einen Tagesordnungspunkt?"

"Sollten wir irgendwelche Vorkehrungen machen, für den Fall, daß doch noch der Druckkörper versagt und ein Wassereinbruch entsteht?" fragt der Pater.

"Nein." sage ich, "Wenn der Druckkörper versagt, dann haben wir nie mehr irgendwelche Vorkehrungen nötig. Nicht mehr in dieser Welt."

Die mißbilligenden Blicke von Wellington sind deutlich. Aber er sagt nichts. Ich habe ja recht. "Gut. Versammlung aufgehoben. Wir fahren weiter."

Das Boot setzt sich um kurz vor halb zehn wieder in zielgerichtete Bewegung. Unsere Tiefe ist derzeit 12030 Meter, und wir steuern den Eingang der nächsten Höhlenkette an, die uns weiter in die Tiefe führen wird. Um 10:15 Uhr sind wir dort angekommen. Noch einmal ist unsere Tiefe ein paar Meter geringer als 12 Kilometer.

Dieser Höhlentunnel hat eine unangenehme Form: er bildet ein auf dem Rücken liegendes Gewölbe - das heißt, daß die Deckenhöhe in der Mitte geringer ist als an den Rändern. Der Abwärtswinkel ereicht gelegentlich 40 Grad, und die lichte Weite ist nie so groß, daß man wirklich bequem manöverieren kann - manchmal sind Kiel und obere Kollisionsschiene nur 40 Zentimeter vom Fels entfernt. Der seitliche Manöverspielraum ist viel größer, stellenweise könnte man das Boot querstellen und so ermöglichen, daß es auf ebenem Kiel liegt. Dann wäre die Fortbewegung aber viel langsamer, und so nehmen wir den gemeingefährlichen Nickwinkel in Kauf. Einige Mitarbeiter schnallen sich auf ihren Sitzen fest, ohne daß eine allgemeine Anordnung in dieser Richtung ergangen wäre.

Um 10:50 Uhr sind wir in einer Tiefe von 12700 Metern. Der Tunnel flacht sich ab, und andere Tunnel münden ein, einige davon groß genug, um in sie einzufahren, wenn das nötig werden sollte.

Plötzlich greift Gerald zum Interkom und will mit Wellington sprechen.

"Was ist, Herr Amurdarjew?" hören wir die Stimme unseres Herrn und Meisters.

"Schleifspuren. Junge Schleifspuren. Hier gibt es gelegentlich heftige Strömungen."

"Sind Sie sicher?"

"Ja. Sieht man es nicht?"

Ich sehe, was Gerald gemeint hat. Ich würde diese helleren Striche zwischen dem Geröll vielleicht auch als Schleifspuren interpretieren, aber, wohl wissend, daß ich keine geologische Ausbildung habe, mir nie ganz sicher sein. Aber wenn Gerald meint ...

"Was schließen Sie daraus?" fragt Wellington.

"Erstmal nichts."

"Wie häufig sind diese Strömungen?"

"Sie sind keine singuläre Erscheinung. Mehr kann ich nicht sagen."

"Danke."

Um 11:30 haben wir eine Tiefe von 12800 Metern. Der Tunnel verläuft jetzt ziemlich horizontal, und seine Querschnittsschwankungen sind immer geringer geworden. Noch macht er nicht den Eindruck einer langen Röhre, aber viel fehlt nicht mehr. Der Durchmesser schwankt zwischen 25 und 40 Metern, die Form des Querschnitts ist angenähert kreisförmig.

"Gibt's eigentlich Geister-U-Boote?" fragt Edwin.

"Willst du jetzt unbedingt zur allgemeinen Ermutigung beitragen? - Außerdem haben wir alle doch das alte Boot im Minch gesehen!" frage ich.

"Das zählt nicht. Zur Qualifikation als Geisterschiff zählt die Fortbewegung."

"Und die Unerklärbarkeit seiner Havarie oder des Verschwindens seiner Mannschaft."

"Na gut," gibt Edwin zu, "ist alles vielleicht nicht sehr wahrscheinlich."

"Ich weiß etwas, was du nicht weißt!" mischt sich Carola ein.

"Ich lerne immer gerne dazu!"

"Du hast doch in deinem Buch auch über Geisterschiffe rumspekuliert, unter anderem auch über die Mary Celeste, nicht wahr?"

"Ja." sage ich.

"Das war ein Alkoholfrachter. Da sind ein paar Fässer im Laderaum kaputtgegangen. Weil dann die Explosionsgefahr sehr groß ist, ist die ganze Mannschaft in die Boote gegangen, um abzuwarten, bis der Alkoholdampf sich verzieht. So hätten sie eine eventuelle Schiffsexplosion überleben können."

"So?" frage ich, "So schnell verdampft Alkohol nun wieder auch nicht. Bei Äther oder Benzin wäre es etwas anderes."

"In geschlossenen Räumen? Bei Flaute?"

"Woher willst du wissen, daß Flaute war?"

"Weil es sonst unklug wäre, ein Segelschiff zu verlassen, ohne alle Segel zu reffen."

"Mmh. Schon möglich."

"Und das war dann der springende Punkt," fährt Carola fort, "es kam Wind auf. Und schon fuhr das Segelschiff den Booten davon."

"Oh. Peinlich. Die werden ganz schön gestaunt haben. - Aber woher willst du das wissen?"

"Ich habs irgendwo gelesen."

"Ich meine, einen Beweis gibt's nicht. Oder?"

"Nein. Aber ist das nicht ein sehr plausibler Hergang?"

"Wahrscheinlich ja."

"Also, da sehe ich bei uns keine Gefahr." Amurdarjew dreht sich von seinem Bildschirm um: "Erstens können wir nicht in die Boote, und zweitens haben wir nicht genug Alkohol an Bord, um einen explosionsfähigen Alkoholnebel zu erzeugen."

"Und drittens verrät uns Günther nicht, wo der Alkohol ist - obwohl er es ja weiß."

"Das habe ich nicht gesagt!" verteidigt sich Cohäuszchen. Und schon haben wir wieder Thema Alkohol. Da erleben wir das größte Abenteuer aller Zeiten und verbringen die Zeit mit Wirtshausgesprächen.

"Vielleicht wäre das für ein 'Aussteiger' eine Möglichkeit, dort seinen Lebensunterhalt zu fristen!" schlägt Cohäuszchen vor, "Alkoholhaltige Getränke herzustellen."

"Die Granitbeißer vertragen keinen Alkohol - das habe ich doch beschrieben!" werfe ich ein.

"Und geringere Dosen?"

"Das hätten sie doch irgendwann selbst herausgefunden. Ich glaube, sie können Alkohol in keiner Konzentration vertragen. Diese Fähigkeit des Stoffwechsels ist ihnen im Laufe der Evolution abhanden gekommen."

"Und warum?"

"Ich weiß es nicht. Ich habe keine biochemischen Untersuchungen angestellt. Gärungsprozesse sind vielleicht sehr schwer erreichbar. - Vielleicht werden unsere Chemiker es herauskriegen. Es ist mindestens eine Doktorarbeit, Günther!"

"Ich bin mit einem Doktortitel zufrieden."

"Jedenfalls habe ich überhaupt nichts dort gesehen, was auf den Gebrauch von Drogen hinwiese - es wurde nicht geraucht, nicht getrunken, es gab keine anderen Drogen, nicht mal so, wie es bei manchen unserer Naturvölker der Fall ist. Ist eben so. - Aber, wer weiß, ich habe ja nicht alles gesehen."

"Eigentlich," sagt Günther, "ist Äthylalkohol ein sehr einfach aufgebauter Stoff. Ich verstehe nicht, warum er in der Biosphäre der Welthöhle weniger wahrscheinlich entstehen sollte als in der Biosphäre auf der Erdoberfläche."

"Graduelle Unterschiede in der Biochemie" sage ich, "bedingen noch keine prinzipiellen Unterschiede. Außerdem ist es so besser als andersrum - stell dir vor, wir würden in ein Meer voll Hochprozentigem einfahren. Das Boot würde sofort auf den Grund sinken und für immer dort bleiben!"

"Wieso?" fragt der Pater.

"Wissen Sie denn nicht, daß die Dichte von Alkohol etwa 20 Prozent geringer ist als die von Wasser? Dieses Schiff kommt zwar mit Konzentrationsänderungen im Salzgehalt klar, aber die lassen die Dichte des Wassers nur um 2 Prozent variieren. - Nanu? Was ist das denn?"

Während dieser Worte habe ich einen Blick auf den SISC geworfen. Dabei ist mir der aktuelle Salzgehalt des umgebenden Wassers ins Auge gesprungen.

"Schaut einmal her! Das Wasser draußen ist fast schon trinkbar!"

In der Tat. Der Salzgehalt beträgt nur noch ein Viertel des Meeresdurchschnittes. Jetzt fällt es auch den anderen auf.

"Warum gibt es denn da keinen Alarm, wenn sich etwas so wesentliches ändert?" fragt Gabi.

"Weil es nicht so wesentlich ist. Dieses Boot ist in der Lage, sowohl in Süßwasser als auch in Salzwasser zu operieren." sage ich, "Der Schiffsrechner läßt einfach Wasser aus den Regelzellen nach draußen pumpen, ohne darüber groß ein Wort zu verlieren."

"Und warum fällt uns das erst jetzt auf?" fragt sie.

"Der Salzgehalt ist schon gefallen, seit wir in diese Höhlen eingefahren sind. Nur ist er in der letzten Zeit etwas stärker gefallen."

"Und warum gerade jetzt?"

"Ich weiß es nicht. Oder doch, ich weiß es: Immer dann, wenn wir uns in horizontal verlaufenden Höhlen bewegen, kann sich der Salzgehalt schneller ändern. Stell dir einen Schacht vor - oben Salzwasser, unten Süßwasser. Das würde nicht lange so bleiben. Das schwerere Salzwasser würde nach unten sinken und das Süßwasser nach oben. - Ich bin sicher, wenn wir die Salzkonzentration gegen den bisherigen Kurs auftragen, dann werden wir immer ein stärkeres Verändern der Salzwasserkonzentration in horizontal verlaufenden Höhlenabschnitten feststellen."

"Herwig," läßt Amurdarjew sich vernehmen, "daran hätten wir schon früher denken sollen. Das ist ein hervorragender Hinweis!"

"Hinweis auf was?"

"Daß die Verhältnisse hier nicht stabil sind. Sonst hätten sich die Konzentrationen doch schon längst ausgeglichen!"

"Keine voreiligen Schlüsse!" sage ich, "Dome mit Süßwasser können sich, wenn keine Strömungen dabei sind, lange halten. Die Diffusion ist einfach kein Transportvorgang, der schnell genug ist."

"Die was?" fragt der Pater. Ich habe wieder vergessen, daß nicht nur Fachleute im Raum sind.

"Die Diffusion. Das ziellose Wandern von Molekülen in einer Flüssigkeit. Es bewirkt, daß sich letzten Endes alle Flüssigkeiten - und auch Gase - vermischen, ohne daß man umrührt. Diese Vermischung ist aber unter Umständen sehr langsam."

"Bei Herwig's Hang zum Ordinären hätte ich jetzt erwartet, daß er das anhand eines Furzes erklärt, denn man bald im gesamten Raum riechen kann, auch, wenn man die Klimaanlage abstellt!" murmelt Edwin.

"Da kennst du mich nicht gut genug! Dieses Beispiel hätte ich nicht genommen, weil schon unsere Körpertemperatur dafür sorgt, daß die Luft in diesem Raum ordentlich durchmischt wird!"

"Ich habs jetzt verstanden!" sagt der Pater.

"Gut." meint Amurdarjew, "dann können wir ja wieder über Geologie sprechen anstatt über Darmwinde."

"Bitte." sage ich.

"Also. Die Verhältnisse sind nicht stabil, Diffusion oder nicht. Zumindestens in allen Höhlenabschnitten, die nicht vollständig horizontal verlaufen, dürfte kein Konzentrationsgefälle oben schwer - unten leicht vorliegen. Das war aber immer der Fall, wenn auch ganz schwach. Und wir haben auch immer schwache Auf- und Abwärtsströmungen nachgewiesen - zu schwach, um die Manövertätigkeit des Bootes zu stören."

"Was schließt du daraus?"

"Irgendwas produziert hier ab und zu Süßwasser. Und dieses irgendwas ist gelegentlich heftig genug, um sogar Steine und Geröll zu bewegen. - Vielleicht ist dieses irgendwas auch der Grund dafür, daß wir nicht überall Artefakte finden."

"Du meinst also, daß die Lösungsgleichgewichte und Konzentrationsgefälle viel zu weit von jeder Gleichgewichtskonfiguration entfernt sind?"

"Genau richtig."

"Dann sollten wir versuchen, die Häufigkeit dieser Vorgänge irgendwie genauer abzuschätzen. Das könnte nämlich eine Bedrohung für das Boot darstellen."

"Diese kleinen Konzentrationsschwankungen?" fragt Gabi.

"Wenn es etwas mit dem Bewegen der Felsen da draußen zu tun hat, ja!"

"Das wird schwierig," meint Amurdarjew, "wir brauchen ein genaues Salzwasser-Konzentrationsprofil unserer Reise, um rauszukriegen, wie Konzentrationsschwankungen von der Höhlengeometrie abhängen. Und ein Teil dieser Daten haben wir ja mit der Navigationsdatenbasis verloren - wir verfügen da nur über die letzten Tage."

"Reicht das nicht?"

"Vielleicht reicht es. Mehr wäre besser."

"Wir haben mehr."

"Woher?"

"Das Streßanalyseprogramm. Dessen Daten werden auch protokolliert! Und die wurden nicht gelöscht."

"Was bringt uns das?"

"Ist doch ganz einfach. Mit dem Druck haben wir die Wassertiefe für jeden Zeitpunkt der Reise. Die Kraft der Vortriebsmaschinen läßt sich auch ermitteln, und damit ungefähr die Geschwindigkeit. Ebenso die Bootslage. Und ganz besonders läßt sich der Salzgehalt ermitteln!"

"Ja?" fragt Amurdarjew ungläubig.

"Ja! Denk doch mal nach! Zwischen Süß- und Salzwasser ist unser Auftriebsunterschied in der Größenordnung von etwa 30 Tonnen. Diese 30 Tonnen müssen aus den Regelzellen herausgepumpt werden, wenn wir uns von Salzwasser nach Süßwasser bewegen. 30 Tonnen! Das wirkt sich auf die Statik des Bootes schon aus. Das aus den Daten des Streßanalyseprogrammes herauszukriegen ist eine der leichtesten Aufgaben! - Die Sensoren sind doch so empfindlich, daß sie die Verbiegung der Zwischendecks nachweisen könne, die durch unsere eigenen Bewegungen im Boot bewirkt werden!"

"Du könntest recht haben." murmelt Amurdarjew.

"Ich habe recht. Navigation und Streßanalyse des Bootskörpers werden von zwei unabhängigen Programmsystemen verwaltet. Sie sind aber nicht ganz unabhängig. - Und jetzt, wenn du dir den SISC ansiehst, kannst du leicht abschätzen, daß von diesen 30 Tonnen bereits der größte Teil herausgepumpt worden ist."

"Tja," sagt Amurdarjew, "das sollte man sich vielleicht mal ansehen. Frau Gohlmann, könnten Sie das mal machen?"

Gabi greift in die Tasten. Ich sehe, daß Cohäuszchen etwas sagen will. "Glaubst du nicht?" frage ich.

"Ich glaube das schon. Aber ich habe andere Sorgen."

"Ernsthaft?"

"Ernsthaft. - Wir haben bis jetzt also dauernd Wasser aus den Regelzellen herausgepumpt, ja? - Weil wir ständig Gebiete mit geringerer Salzwasserkonzentration erreicht haben?"

"So ist es." sage ich.

"Ist in der letzten Zeit, ich präzisiere, seit unserem Wassereinbruch, überhaupt einmal wieder Wasser in die Regelzellen aufgenommen worden?"

"Das müßte sich wohl feststellen lassen. Warum ..." Plötzlich ahne ich, worauf er hinauswill.

"Wenn das nämlich nicht der Fall ist, dann haben wir immer noch keinen experimentellen Beweis dafür, daß, wenn wir Wasser in die Regelzellen aufnehmen, die Ventile sich auch wieder schließen lassen!"

Carola schüttelt den Kopf: "Wir haben die Treiber geprüft - es ist wieder alles okay!"

"Und wie habt ihr die getestet?"

"Gar nicht. Wir können doch nicht so einfach in die Schiffssteuerung eingreifen!"

"Gar nicht." wiederholt Cohäuszchen. Es klingt wie eine endgültige Feststellung.

"Das muß sich doch rauskriegen lassen," sage ich und geife zum Interkom. In der Zentrale muß man wissen, ob in den letzten Tagen irgendwann einmal Wasser in die Regelzellen aufgenommen worden ist.

Man weiß es auch. Schnell ist unsere Befürchtung, daß die Regelzellenbewässerung noch gar nicht getestet worden ist, widerlegt. Zwar wurde in der letzten Zeit tatsächlich viel mehr Wasser raus- statt reingepumpt. Aber gelegentlich kam es auch vor, daß das Boot sich wieder etwas schwerer machen mußte. Und danach sind die Ventile immer wieder geschlossen worden.

Alles funktioniert also so, wie es sein soll.

"Wir machen uns alle schon etwas verrückt. Im Moment tut der große Unbekannte nichts!" sage ich.

"Doch." sagt Gabi. Sie blickt von ihrem Bildschirm beunruhigt auf.

"Was?"

"Die Daten von der Streßanalyse. Entweder, ich kann immer noch nicht mit dem Programm umgehen, oder sie sind manipuliert worden. Seht her!"

Wir sehen auf ihren Bildschirm. Auch, wenn mir diese Aufstellung nicht geläufig ist, ist sie schnell zu interpretieren:

Alle mechanischen Belastungsparameter des Bootes haben sich seit Freitag, dem 29. Januar, nachmittags um 15 Uhr, nicht verändert!

"Das gibt es nicht!" sage ich.

"Was verspricht der sich davon, den Datenbestand der Streßanalyse zu manipulieren?" fragt Carola, "Den hätten wir uns unter normalen Umständen doch überhaupt nie angesehen!"

"Großer Gott," sage ich, "das hat er auch gar nicht getan!"

"Sondern?"

"Das Streßanalyseprogramm selbst! Es funktioniert im Moment nicht!"

Ich springe zum Interkom, aber Cohäuszchen ist schneller. Er darf Wellington die schlechten Neuigkeiten verkaufen.

Wenn das Streßanalyseprogramm nicht funktioniert, dann wissen wir nicht, wie das Boot im Moment mit dem hohen Außendruck fertig wird - es könnte sein, daß der Druckkörper kurz vor dem Kollabieren ist, während wir immer noch den beruhigenden Angaben des manipulierten Programmes glauben!

Wellington bringt das Boot sofort zum Stehen. Wenig später ist er bei uns: "Das möchte ich mir ansehen!" sagt er. In demselben Moment betritt auch Garner das vordere Oberdeck.

Die Inspektion der Daten bringt wenig neues. Es ist so, als seien dem Streßanalyseprogramm die meisten Meßwerte vorenthalten worden - allerdings nicht alle. Einige Parameter haben sich verändert, so daß bei einer flüchtigen Betrachtung kaum etwas auffällt. Nur, daß das Streßanalyseprogramm ständig behauptet, daß der Druckkörper weit von jeder Überlastung entfernt sei.

Jeder von uns hat jetzt verstanden, daß das nicht der Fall sein muß. Gerade eben, heute morgen, haben wir uns alle gemeinsam entschlossen, weiterzufahren, weil wir uns aufgrund der Angaben des Streßanalyseprogrammes in Sicherheit fühlten. Jetzt sind diese Entscheidungsgrundlagen Makulatur.

"Die Sensoren sind ja wohl noch funktionsfähig, oder?" fragt Cohäuszchen, "Das wäre doch aufgefallen, wenn jemand durch das Schiff gelaufen wäre und Geräte verändert hätte. - Es sind ja wohl auch so viele."

"Es sind viele," sagt Garner, "unübersichtlich viele. Wir können sie so gar nicht interpretieren. Ohne das Streßanalyseprogramm sind wir aufgeschmissen!"

"Was ist mit der aktiven Druckkörperentlastung? Die Symmetrieerzwingung des Druckkörpers?" frage ich, "die kriegt die Daten doch auch von ganz genau denselben Meßwerten?"

"Ja, aber diese Programmsysteme sind voneinander unabhängig. Das Streßanalyseprogramm muß ja nicht laufen, aber die aktive Druckkörperunterstützung immer."

"Das sollten Sie aber sofort rauskriegen, ob sie das wirklich tut." sagt Wellington zu Garner. Der weiß aber auch ohne das, was er zu tun hat.

Jedenfalls sind unsere beiden Chefinformatiker wieder dran. Sie müssen den Fehler finden.

"Allmählich gewöhne ich mich an seinen Stil!" knurrt Carola, "Mit dem SISC war das genauso. Nur dies ist gefährlicher!"

Ich sage nicht, daß ich ernsthaft überlegt habe, ob alles, was wir über den großen Unbekannten wissen, auf eine Frau hindeuten könnte.

"Damals habt ihr doch bloß den Dämonprozeß abgeschossen, der den SISC mit Daten versorgt hat, und neu gestartet! Geht das jetzt nicht auch?"

"Wenn du nicht soviel reden würdest, dann werden wir es noch herausfinden!"

Natürlich hat sie dieselbe Idee gehabt. Und leider funktioniert sie nicht. "Der lernt dazu!" sagt sie. Dann bemerkt sie, daß Wellington noch bei uns ist und bequemt sich zu einer genaueren Auskunft: "Ich habe den Dämonprozeß gefunden, der von allen Sensoren die Daten einsammelt, und neu gestartet. Der beliefert das Streßanalyseprogramm. Leider immer noch falsch."

"Das gibt zu Hoffnungen Anlaß." sage ich.

"Wieso denn?"

"Wenn der große Unbekannte noch dazulernt, dann ist er jedenfalls keine Kapazität auf diesem Gebiet."

"Beruhigt mich wenig. Man muß kein Chirurg sein, um jemandem den Schädel einzuschlagen."

Eine Zeitlang wird es still im vorderen Oberdeck. Im Moment liegt das Boot auf präzis ebenem Kiel, weil es nicht manöverieren muß. Und so problemlos, wie alle Systeme laufen, könnte man auf den ersten Blick annehmen, daß es keinerlei Probleme gibt. Ein Programm funktioniert nicht - na und? Daß aber die Angaben dieses Programmes eventuell gerade jetzt eminent wichtig sein könnten, so wichtig, daß wir es uns gar nicht leisten können, sie nicht zu kennen, das macht die Situation wieder einmal so unwirklich. Eigentlich, denke ich mir, müßten wir die pessimistischste Annahme machen: Der Druckkörper steht dicht vor dem Kollabieren, und wir sollten uns deshalb auf den Rückweg machen: vorsichtig, langsam und erschütterungsfrei. Vielleicht schaffen wir es noch.

Vielleicht sind wir aber auch schon über den Punkt hinaus, wo ein Rückweg überhaupt noch möglich ist - es kann ja durchaus sein, daß der minimale Anstoß, der jetzt zum Versagen des Druckkörpers führen würde, auch durch eine kleine Druckabnahme ausgelöst werden kann. Dann sind wir jetzt schon über den 'point-of-no-return' hinaus.

"Der forked." sagt Carola.

"Was macht der?" frage ich.

"Weißt du überhaupt nichts mehr über UNIX? - Er forked!"

Natürlich weiß ich, was es bedeutet, daß ein Prozeß 'forked'. Es handelt sich um einen der älteren Mechanismen in UNIX, mit dem erreicht wird, daß verschiedene Programme nebenher und damit praktisch gleichzeitig laufen können. Ein Programm kann einen Aufruf an das Betriebssystem absetzen, der mit 'fork', also etwa 'Gabel', bezeichnet wird. Das Betriebsystem verdoppelt diesen Prozeß dann - Programmcode genauso wie Daten. Diese beiden Prozesse sind zunächst vollkommen identisch und machen auch dasselbe. Allerdings wird einem von ihnen vom Betriebssystem mitgeteilt, daß er der 'Sohnprozeß' ist. Aufgrund dieser Mitteilung, die alleine in beiden Prozeßkopien unterschiedlich ist, können beide Prozesse unterschiedliche Aktionen ausführen. Eine von diesen beiden Programmkopien kann sich zum Beispiel selbst beenden und ein anderes Programm starten. Mit diesen simplen Mechanismus haben die alten UNIX-Versionen alle parallelen Programmläufe erzeugt und verwaltet.

Wenn ein Programm aber keinen solchen Fork-Aufruf absetzen soll - etwa, weil das nicht vorgesehen ist - nicht jede Programmlogik erfordert so etwas - dann sollte ein Prozeß, der dieses Programm ausführt, keine Sohnprozesse erzeugen. Das, was die Carola eben angedeutet hat, heißt aber, daß gerade so etwas geschieht.

Ich frage nach, ob sie uns das näher erklären kann.

"Kann ich nicht," sagt sie, "es ist einfach so, daß dieser Dämon mehrfach da ist. Und er sollte nur einmal da sein."

"Mmh." sage ich, und nach einer Weile, "Wenn diese Dämonen alle Meßwerte einsammeln und weitergeben, dann sollte das natürlich schon etwas drunter und drüber gehen."

"Wieso?"

"Ja, mal schnappt sich der eine Dämon einen Meßwert, mal der andere. Kein Wunder, daß welche verloren gehen."

"Denk doch mal nach!" sagt Carola mürrisch, "Jeder der Dämonen würde sein Zeug weiterreichen, so, wie es ein einzelner Dämon auch tun würde. Es könnte höchstens sein, daß Meßwerte in der falschen zeitlichen Reihenfolge beim Streßanalyseprogramm ankommen - aber sie kommen an. Tatsache ist aber, daß im Moment überhaupt keine Meßwerte ankommen!"

"Weißt du, was da für Übergabemechanismen verwendet werden? Ich meine, um die Meßwerte vom Meßwertdämon zum Streßanalyseprogramm zu geben?"

"Nein." sagt Carola, "Und wenn du gar nichts zu tun hast, dann kannst du ja mal alle Möglichkeiten zusammenstellen, die dir einfallen!" Und nach einer Weile sagt sie: "Scheiße. Ich habe die Abendwache. Ich wollte mich vorher noch etwas ausruhen."

"Ich übernehme deine Wache!" sage ich heldenhaft.

"Wirklich?"

"Ja!"

"Ohne Gegenleistung?"

"Vielleicht darf ich dann weiter ungestraft dumme Fragen stellen!"

"Das muß ich mir aber noch überlegen." sagt Carola. So entsetzlich begeistert sieht sie auch nicht aus. Ich kann mir eigentlich auch denken, warum: Wenn sie mit diesem Problem noch länger zu tun hat, dann bleibt sie ohnehin bis weit in die Nacht hinein wach.

Während Carola und Edwin schweigend und verbissen weiterarbeiten, hackt auch Jeffrey Garner auf den Tasten einer Konsole herum. Er versucht, auch ohne das Streßanalyseprogramm etwas über die momentane Statik des U-Bootes herauszukriegen.

Da bemerke ich, daß Natalie, die im Moment eigentlich nicht soviel zu tun hat, mich sehr mürrisch ansieht. Sogleich wird mir mein Fehler klar: Natalie's Wache habe ich noch nie übernommen. Wie komme ich denn dann dazu, Carola zu entlasten?

Wenn ich so kleinlich denken würde, dann könnte ich natürlich auch mal durchanalysieren, wie oft Natalie schon mit Alfred Seltsam zusammengesessen hat, ohne daß das aus dienstlichen Gründen notwendig wäre. Vielleicht werde ich es auch tun, wenn Natalie ein Wort sagt. Das ist genauso wenig sachlich, aber manchmal muß man bei den Frauen eben die sachliche Ebene der Konfliktlösung verlassen.

Dann sehe ich wieder die konzentriert arbeitende Carola an und denke, daß es für solche groben Vereinfachungen doch wieder zu viele Abstufungen gibt. Bei Carola habe ich eigentlich noch nie eine so kleinliche Art beobachtet.

Carola könnte tatsächlich sogar der Menschengruppe angehören, deren Begabung, welche auch immer dieses in Wirklichkeit ist, unter der 'Kaskadenbremsung' weit zurückgestutzt worden sind. Sie gehört sogar ziemlich sicher dazu, weil diese Menschengruppe größer ist als allgemein vermutet. Nämlich die sogenannten 'Genies'. Genies, das sind die gefeierten Komponisten, Maler und Schriftsteller, oder die in der Industrie verzweifelt gesuchten 'Superprogrammierer'.

Irgendwie nimmt man ja weithin an, daß geniale Charakterzüge selten sind. Ich glaube das nicht mehr. Viel eher scheint es mir der Fall zu sein, daß der durschnittliche Mensch in seiner durchschnittlichen Biographie und seinen durchschnittlichen Lebensumständen so vielen Bremsfaktoren unterliegt, daß geniale Züge sich nicht entwickeln können. Das bezeichne ich als die Kaskadenbremsung.

Zum Beispiel nehmen wir man Johann Sebastian Bach. Dem wird Genie von allen Kennern klassischer Musik zugeschrieben, da gibt es gar keine Diskussionen.

Was wäre, wenn Bach, mit denselben Erbanlagen und Begabungen, die er unzweifelhaft gehabt hat, in einem anderen sozialen Kontext, in einer anderen Zeit aufgewachsen wäre? Was, wenn er heute sein Leben auf den Müllhalden der Dritten Welt zu fristen gezwungen wäre? Was, wenn sein sozialer Kontext ihn in seiner Zeit nie mit der Musik in Berührung gebracht hätte, etwa als Angehörigen einer anderen sozialen Schicht? Was, wenn ihm eine andere Begabung, die er wahrscheinlich ja auch in überdurchschnittlichem Maße gehabt hat, quasi gezwungen hätte, mit dieser ein überdurchschnittliches Einkommen zu erzielen, ohne die Möglichkeit, sich sogar in seiner Freizeit mit Musik zu beschäftigen? Was, wenn er heute leben würde? Diese Art von Klassik kann man heute nicht mehr komponieren, ohne sich dem Plagiatsvorwurf auszusetzen!

Was, wenn in seiner Zeit die Rollenverteilung der Geschlechter bereits ausgewogener gewesen wäre, und er einen größeren Anteil seiner Zeit der Hausarbeit hätte widmen müssen? Oder seine ganze Zeit, weil die Ehefrau berufstätig sein wollte? Was, wenn er ein etwas weniger dickes Fell gehabt hätte und unter den vielfältigen Störungen seiner Familie so gelitten hätte, daß er nicht zum Komponieren in der Lage gewesen wäre? Spielende Kinder im Hof? Installationen, deren Geräusche ihn nachts nicht hätten schlafen lassen? Was wäre gewesen, wenn er in früher Kindheit in einer Umgebung aufgewachen wäre, die eine negative oder gleichgültige Einstellung zur Musik gehabt hätte - gerade in dem Alter entscheidet es sich, ob sich Begabungen entwickeln oder nicht?

Es gibt viele solche 'Was wäre, wenn's. Und das führt mich dazu, zu denken, daß es sehr viele Menschen gab und gibt, die genau zu diesen Kompositionen in der Lage gewesen wären. Das gleiche gilt für Schriftsteller und Maler und überhaupt jeder kreativen Tätigkeit. Es müssen alle Randbedingungen stimmen und Sclüsselerlebnisse zur rechten Zeit eintreffen - und das ist ein sehr unwahrscheinlicher Zustand.

Für die geheimnisvollen 'Superprogrammierer' gilt das gleiche. Vor über zehn Jahren, erinnere ich mich, gab es mal an der Bundeswehrhochschule in Neubiberg bei München ein Projekt, wo man herauskriegen wollte, was einen Superprogrammierer ausmacht. Schon die Fragestellung war falsch. Sinnvoll wäre es gewesen, zu fragen, was einen Superprogrammierer daran hindert, ein Superprogrammierer zu sein. Und um diese Frage zu beantworten - einen Strom von möglichen Hindernissen für einen Superprogrammierer aufzuzählen - wäre eine vorübergehende Tätigkeit bei meinem alten Arbeitgeber sinnvoll gewesen. Wie man in Großfirmen Kreativität und Leistungswillen abbaut und wie man Leistungsmöglichkeiten einschränkt, daß muß man aus eigener Anschauung kennen. Sonst glaubt man das einfach nicht.

Die meisten Arbeitnehmer sind es zufrieden - schließlich sind sie ja durch ein auskömmliches Gehalt gekauft. Die, die nicht zufrieden sind, haben kreative Hobbies - es sei denn sie sind auch daran gehindert, etwa durch eine Familie, die ihre ganze Freizeit in Anspruch nimmt.

Carola hat keine Familie und, soweit ich weiß, auch nichts, was ich als 'kreatives Hobby' bezeichnen würde. Ob sie der Qualifikation als potentieller Superprogrammierer genügen würde, weiß ich nicht. Ihre gesamte Tätigkeit in der Informatik hat sich immer im Kontext größerer Projekte abgespielt. Wie das aussieht, wenn sie so richtig ungebremst loslegt, das sehen wir am ehesten noch hier, wo sie noch mit am meisten Durchblick hat, jedenfalls, was die EDV an Bord betrifft.

Für Edwin gilt fast das gleiche. Auf beiden ruht meine - und nicht nur meine - Hoffnung. Der große Unbekannte mag die supersuperuser-Berechtigung haben. Aber die größte Kompetenz ist auf der Seite des Rechts. Auf unserer Seite.

Daraus folgt aber auch, daß, wenn der oder die großen Unbekannten sich durch Carola oder Edwin bedroht fühlen sollten, diese beiden in größerer Gefahr schweben als der Rest der Schiffsbesatzung.

Plötzlich erinnert Carola mich an Charmion. Charmion war auch eine Superprogrammiererin - eine Superprogrammiererin des Überlebens. Bis zu dem Zeitpunkt, wo ich sie kennenlernte, hat nie jemand ihre persönliche Entwicklung ihrer Fertigkeiten gebremst. War es nicht nur die Aussichtslosigkeit der damaligen Situation, der sie zum Aufgeben zwang, sondern auch der 'Kulturschock', ausgelöst durch das Auftauchen eines Menschen, nicht nur das, sogar noch eines Mannes, der aus einer Welt kam, die nicht einmal vorstellungsmäßig sich in ihre Welt integrieren ließ, und der ein paar Tricks kannte, die ihr wie Zauberei vorkommen mußten? - Ach nein, das kann eigentlich nicht sein. Den großen Erfolg unserer Gleitschirmflucht von Casabones hat sie ja gar nicht mehr miterlebt. Da war sie ja schon tot. Gerade von der Planungsphase hat sie noch etwas erfahren.

Was aber war es dann, wenn nicht der Kulturschock? Was hat die Superprogrammiererin des Überlebens geschlagen?

War ich es?

Ich verdränge diese Gedanken wieder. Geht schwer - wir sind der Welt von Charmion schon so nahe. In einem Boot, das ihren Namen trägt.

Und das ihre Welt zerstören kann.

"Da ist noch mehr los. Man müßte das System neu installieren." Carola weiß ganz genau, daß wir das nicht tun können. Ich überlege mir, ob ich ganz vorsichtig fragen soll, was da noch mehr los ist, oder ob ich hoffnungsvoll abwarten soll, bis sie von selbst mit weiteren Informationen rausrückt.

Das geschieht nicht. Es sieht so aus, als ob die beiden noch eine ganze Weile beschäftigt sind. Ich verziehe mich nach vorne, in die Kantine.

Eugen Serpinski, der selten bei uns im vorderen Oberdeck ist, weil er meistens in seiner Kabine arbeitet oder im Labor im hinteren Oberdeck zu tun hat, sitzt an einem Tisch vor einer Cola. Er scheint im Moment nichts zu tun. Mit verhaltenem Interesse mustert er den SISC und dann, als ich den Niedergang zur Kantine herunterkomme, mich. Dann ist wieder der SISC dran. Der ist im Moment eigentlich sehr uninteressant, weil sich Meßwerte und Außenansichten nicht ändern.

"Wie steht es?" fragt er.

"Sie arbeiten dran."

"Aha." Sehr redselig ist er nicht. Während ich mir aus der Küche einen Apfelsaft hole, komme ich nicht umhin, festzustellen, daß der Umfang seiner Muskeln nicht sichtbar abgenommen hat, obwohl niemand von uns ihn beim Training sieht. Große Fitnessgeräte haben wir natürlich nicht an Bord, was immer er benutzt, es muß sich um sein Privateigentum handeln. Oder er ist schon im Stadium der Muskelabnahme, und man sieht es zunächst nicht, weil es von Fettzunahme kompensiert wird. Das ist eine häufige Erscheinung bei Bodybuildern, die ihr Training plötzlich reduzieren.

Stehe ich mit ihm eigentlich auf 'du' oder 'Sie'? Egal: "Wie trainierst du hier an Bord eigentlich?" frage ich, "Oder geht das gar nicht?"

Einen Moment lang sieht er mich an, dann stellt er seinen Becher auf den Tisch. In der nächsten Sekunde hat er seine Hände auf zwei Tischen aufgestützt, und ich bekomme ein paar tiefe Liegestütze vorgeführt. 'Tief' heißt, daß der Oberkörper bei dieser Übung sehr viel tiefer kommt als die Hände, und der Griff ist auch sehr weit.

Eugen hört mit dieser Übung, bei der ich beim ersten Versuch bereits zwischen die Tische geplumpst wäre, überhaupt nicht wieder auf. Ohne nennenswert schnellerem Atem sagt er: "Es gibt überall Gelegenheiten. Man braucht keinen Fitnessraum!"

"Das weiß ich, sage ich, "aber das ist doch nur ein Notbehelf. Bei gewissen Muskelgruppen braucht man mechanische Hilfen, um sie überhaupt belasten zu können. Und Hanteln hast du doch bestimmt nicht mitgenommen, oder? Wir hatten doch Gewichtsbeschränkungen."

Eugen hört mit seinen Übungen auf, um zu verhindern, daß er mich durch übermäßige Schweißproduktion geruchsmäßig belästigt.

"Expander," sagt er, "das reicht. Hanteln wären mir auch lieber gewesen."

"Erscheinen mir viel zuverlässiger als jede Art von Expander." stimme ich zu, "Expander können reißen oder ihre mechanischen Eigenschaften verändern. Eine Hantel ist was solides, zuverlässiges."

"Hast du denn mal Krafttraining gemacht?" fragt er und sieht mich von oben bis unten an. Ein Bodybuilder und dazu noch ein Biologe, der sich mit Biostatik beschäftigt, kann mir natürlich mit einem Blick ansehen, daß ich im Moment keine Kraftübungen gewohnt bin.

"Vor langer Zeit," sage ich, "bevor ich zum Laufen kam, dachte ich, daß man sich eventuell durch eine kleine Serie von Kraftübungen zwischendurch außer Atem bringen kann. Jeden Tag wenigstens einmal, das wäre für die Gesundheit ja genug gewesen."

"Das würde funktionieren. Aber dann bist du zum Laufen gegangen und hast das Krafttraining ganz eingestellt?"

"Nicht absichtlich. Aber Zeit und Energie haben nicht für beides ausgereicht. So war das. Laufen tue ich seit - Moment - seit 15 Jahren."

Eugen Serpinski nickt. "Man erlebt es immer wieder, daß solche Sportarten in der ersten Begeisterung aufgenommen und schon bald wieder aufgegeben werden. Da scheidet sich Entschlossenheit und Charakterstärke von Dilettantismus."

"Dem muß ich widersprechen." sage ich.

"Warum?"

"Ich habe keine Charakterstärke. Ich habe nur Angst davor, krank und schwach zu sein. Nicht mehr die kleinste Wanderung machen zu können, keine Treppe mehr steigen zu können und in Kreislaufschwierigkeiten zu kommen, wenn ich mir mit jemanden ein gepflegtes Streitgespräch liefern muß. Charakterstärke habe ich noch nie gehabt."

"Tatsächlich!"

"Ich glaube, daß das die Situation von vielen ist, die in mittlerem Alter mit irgendeiner Ausdauersportart anfangen. Angst. Und Vorstellungsvermögen. Jeder, der Sport betreibt, kann eventuell bei sich selbst solche Motivation finden - vielleicht ganz unerwartet."

"Ich weiß nicht." sagt Eugen.

"Ich will dich jetzt auch nicht zu solchen Introspektionen verleiten. Die Gefahr dabei ist nämlich immer, daß das, was man bei solcher Nabelbeschau findet, einem die Motivation brechen lassen kann."

"Das glaube ich nicht. Ich habe schon seit früher Jugend Sport betrieben. Mir macht es Spaß."

"Mir nicht." sage ich.

"Nein?" fragt Eugen ungläubig.

"Nein. Der Schweiß, der schnelle Atem. Die ständige Bemühung, sich anstrengen zu müssen. Gewiß, beim Laufen geht es, wenn man erst unterwegs ist, irgendwann fast von selbst. Aber auch nicht jedesmal."

"Dann sind wir da verschieden." stellt Eugen fest.

"Sicher."

"Ich habe eher die Erfahrung gemacht, daß ganz andere Hintergedanken verfolgt werden, wenn sich jemand bei mir erkundigt, wie man Kraftsport macht."

"Nämlich?" frage ich.

"Die meisten wollen Erfolg bei Frauen."

"Tatsächlich!"

"Jaja. Das sind auch die, die am ehesten wieder aufgeben. Diese Motivation hält nicht."

"Vielleicht auch deshalb, weil nicht alle Frauen auf Muskelberge fliegen?"

"Das kann ich nicht beurteilen. Ich komme gar nicht mit denen in näheren Kontakt, die es nicht tun." grinst Eugen, "Mit den anderen natürlich schon!"

"Gelegentlich!" sage ich.

"Gelegentlich. - Auf jeden Fall ist das keine tragfähige Motivation. Habe ich noch nie beobachtet."

Wie fachsimpeln noch eine Weile weiter. Sport ist ein unerschöpfliches Thema, und, das darf ich wohl sagen, wir sind qualifizierter, darüber zu reden, als die zahllosen Bierbäuche, deren einzige sportliche Betätigung die Fernsehübertragung eines Fußballspieles ist. Wie über Medizin und Wetter werden die meisten Gespräche über Sport von absoluten Laien geführt.

Eugen will etwas über Sport in der Welthöhle wissen, aber da muß ich ihn enttäuschen:

"Ich hätte es beschrieben, wenn ich etwas derartiges gesehen hätte. Die Granitbeißerinnen sind eben durch die Bank sehr fit, und ob sie sich dazu durch irgendwelche sportlichen Betätigungen - Übungen oder Wettkämpfe - gezielt vorbereiten, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich glaube, von Wettkämpfen habe ich gehört, und völlig ohne jede Art von Ertüchtigung kann man dieses Fitness-Niveau ja auch eigentlich nicht halten. Aber ich weiß nichts über die Häufigkeit von solchen Aktivitäten, und was dort eigentlich geschieht. - Vielleicht kriegen wir es diesmal heraus!"

Ein Geräusch vom Niedergang her läßt uns aufblicken. Edwin kommt runter, geht schnurstracks zur Küche, besorgt sich ein Glas, trinkt es aus, stellt es in ein Reinigungsfach, und geht zur Toilette.

"Was ist?" rufe ich hinterher.

"Scheiße." sagt er und schließt die Tür.

"Das hätten wir auch so gewußt." sagt Eugen, aber Edwin hört das nicht mehr.

"Sie sind im Streß." sage ich, "Diese Formulierung ist bei ihm ungewöhnlich."

"Warum arbeitest du nicht mit?" fragt Eugen.

"Gute Frage. Erstens arbeite ich mit - ich mache nur mal eine Pause. Und zweitens fühlen sich unsere beiden Chefinformatiker im Schiffsrechner bestens zuhause. Ich könnte also höchstens zuarbeiten, oder ich müßte wieder soviel Zwischenfragen stellen, daß ich den Arbeitsfortschritt mehr behindere als fördere. - Tja, das ist bei dieser Arbeit so. 'Adding manpower to a late projekt makes it later'."

"Ist das alte Mädchen denn so gut? - Ich meine, in ihrem Fach?"

"Das 'alte Mädchen' ist noch keine vierzig. Das dauert noch mehr als zwei Monate. - Und in ihrem Fach ist sie Spitze. Sagen wir mal - sie ist eine bessere Informatikerin als ich ein Läufer bin."

"Laufen tut sie nicht."

"Das ist nicht schwer zu sehen. Ich versuche, sie seit etwa 15 Jahren dazu zu überreden. Es wird mir wohl nicht mehr gelingen. Und dir auch nicht!"

"Dabei gibt es so viele Argumente für den Ausgleichssport."

"Das brauchst du mir nicht zu sagen," sage ich, "aber bei medizinischen Fragen hält sich jeder selbst für den zuständigen Fachmann. Nicht mal die finanziellen Erwägungen greifen."

"Gibt es die?" fragt Eugen verwundert, "Sport kostet Zeit, die man dann nicht in den Beruf stecken kann. Also kostet er eigentlich auch Geld!"

"Das müßtest du besser wissen!" sage ich, "Krankheiten kosten Geld. Und die haben Ausdauersportler nun mal nachgewiesenermaßen seltener."

"Ja. Gut."

"Und das Geld, das man in der Zeit, wo man Sport treibt, nicht verdient, kann auch nicht wegbesteuert werden. Eine Gesundheitssteuer gibt es nämlich nicht."

"Noch nicht."

"Zu wahr. Die EG kommt bestimmt noch auf interessante Ideen. Erinnerst du dich, als sie vor einigen Jahren eine Akademikersteuer einführen wollten? Das Argument lief darauf hinaus, daß Akademiker ein höheres Einkommen erzielen und ihre Ausbildung mit Steuergeldern finanziert bekommen haben. Völlig übersehen haben unsere Volksvertreter dabei, daß ein Akademiker wesentlich später im Leben anfängt, überhaupt etwas zu verdienen, und daß das mit den Gehaltsunterschieden auch nicht mehr so stimmt. Nicht übersehen haben sie allerdings, daß in ihren eigenen Reihen überdurchschnittlich viele Akademiker sind - und schon war der Vorschlag wieder vom Tisch."

"Ja," sagt Eugen, "und selbst, wenn der Vorschlag nicht gleich wieder weggekehrt worden wäre - es wäre eine Doppelbesteuerung gewesen. Denn die angeblich höheren Gehälter der Akademiker unterliegen ja der Steuerprogression."

"Stimmt." sage ich, "Das werden wir nach dieser Reise zu spüren bekommen."

Und nach einer Weile fahre ich fort: "Aber das ganze ist ein unersprießliches Thema."

"Was?"

"Steuern. Und Geld."

"Steuererklärung ausfüllen?"

"Das auch. Aber ich meine, die Argumentationen hin und her. Beispiel: Rauchersteuer. Du hast sicher schon gehört, daß Raucher manchmal zu behaupten pflegen, daß sie vermöge der Tabaksteuer dem Staat viel Geld zukommen lassen. Und plötzlich hört sich das Rauchen wie eine großartige soziale Tat an."

"Dieses Argument läßt sich kaum überhören. Wird immer wieder vorgebracht!" stimmt Eugen zu.

"Ja. Allerdings ist es so, daß jemand, der nicht raucht, das ersparte Geld ja nicht wegwirft, sondern für andere Zwecke ausgibt. Und die werden auch besteuert!"

"Stimmt."

"Nicht nur das. Diese anderen Zwecke helfen der Wirtschaft viel eher weiter. Rauchen heißt, eine Art Rauschgiftkonsum subventionieren. Wenn sich ein Nichtraucher statt dessen dafür Unterhaltungselektronik kauft, fördert er unsere High-Tech-Industrie. Oder?"

"Stimmt. So kann man das sehen." sagt Eugen.

"Leider fallen mir diese Argumente erst immer hinterher ein, wenn ich mich mit einem Raucher gestritten habe."

"Hast du dich schon mit Palmer gestritten?"

"Nein. Er hat ziemlich schnell verstanden, was Rauchen an Bord eines U-Bootes bedeutet. Vielleicht raucht er heimlich. Interessiert mich nicht."

"Haben wir eigentlich sonst noch Raucher an Bord?" fragt Eugen.

"Glaube ich nicht. Weiß ich aber nicht. Kann sein, daß alle echte Nichtraucher sind. Die Raucherhäufigkeit nimmt in sozialen Schichten mit größerer Allgemeinbildung ab - das ist ja bekannt."

"Laß das nicht den Palmer hören!" grinst Eugen.

"Ich habe nichts gegen den Pater. Und warum sollte ich Streit vom Zaun brechen - einfach nur so? Ich bin kein Weltverbesserer - und solange jemand sich nur selbst schädigt, bin ich ein Ausbund von Toleranz!"

Edwin kommt aus der Toilette heraus und setzt sich zu uns. Er sieht müde aus.

"Wir reden gerade über Steuern und übers Rauchen." sage ich.

"Eure Sorgen möchte ich haben!"

"Tja, wir machen uns eben Sorgen. Die EG-Hierarchie ist eine institutionalisierte, wechselseitige Vorteilsannahme als gegenseitiges Geschäft. Und dazu braucht man eben Geld, um das zu finanzieren. Und damit wir das in Form von Steuern bezahlen können, ist es notwendig, daß wir lebendig zurückkommen. Also sind unsere Sorgen und deine Sorgen gar nicht soweit voneinander entfernt!"

"So." Edwin steht wieder auf, um sich noch etwas zu trinken zu holen. Als er sich wieder zu uns setzt, sagt er nichts. Er denkt nach. Dann ist es vielleicht keine so gute Idee, ihn dabei zu stören. Also halte ich den Mund.

"Wir finden es einfach nicht." sagt er nach einer Weile, mehr zu sich selbst.

Wieder kommt mir eine Szene aus Buchheim's Boot in den Sinn: Da liegt das Boot havariert am Grunde der Straße von Gibraltar, die Luft darin nur noch ein Gemisch von Rauch, Batteriesäuredampf, zuviel Kohlensäure und zuwenig Sauerstoff. Irgendwann sagt der Alte: 'Tut mir leid.' Er meint, daß seine Techniker nicht mehr in der Lage sind, das Boot raufzubringen.

Unsere Lage ist aber doch völlig anders, oder? Erstens laufen alle lebenserhaltenden Systeme so, wie sie sollen, und zweitens ist das Boot nicht direkt von dem Streßanalyseprogramm abhängig. Es könnte noch viele Kilometer weiter in die Tiefe gehen - wir wissen eben nur nicht, wann es dem Druckkörper zuviel werden wird.

"Was passiert denn, wenn ihr alle Dämonen für die Meßwerterfassung abschießt?"

"Nichts natürlich - Weniger als nicht funktionieren kann etwas nicht funktionieren."

"Und wenn man wieder einen startet?"

"Werden ihm die Meßwerte von irgendeiner Instanz abgenommen. - Tja."

Manchmal, denke ich, hat die Systemprogrammierung wirklich einen Anstrich von Zauberei.

"Carola schreibt einen neuen. Mit Jeffrey zusammen. Und mir natürlich." sagt Edwin nach einer Weile.

"Ehlich? Ist das überhaupt zu schaffen? Das sind doch irrsinnig viele Meßwerte, die im ganzen Boot gewonnen werden müssen!"

"'Neuschreiben' ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort. Wir haben ja den Quelltext des Dämons. Den modifizieren wir etwas. Umgehen den üblichen Pipe-Mechanismus. Mit dem Streßanalyse-Programm machen wir dasselbe. Müßte gehen. Dauert nur etwas. - Und wir werden es umschaltbar machen, so daß wir jederzeit wieder die alte Konfiguration herstellen können."

"Was nehmt ihr denn für den Pipe-Mechanismus?" frage ich.

"Eine Briefträgertask. Ganz unabhängiges Programm. Kann man sogar in Ada schreiben."

"Großartig!" sage ich, "Da kommt Ada mal ja wieder etwas zu Ehren! - Und wie geht die Kommunikation?"

"Common Memory. Da müssen Warteschlangen und sowas implementiert werden."

"Hört sich einfach an."

"Eben. Deshalb haben wir auch an dich gedacht!" Edwin steht auf: "Kommst du rauf, wenn du fertig bist?"

"Ja." sage ich.

"Ich habe überhaupt nichts verstanden." sagt Eugen, als Edwin weg ist, "nur, daß sie dir Arbeit angeschafft haben!"

"Soviel habe ich auch verstanden. Ich fürchte, wenn die Carola meint, daß wir umfangreiche Neuimplementierungen machen müssen, dann ist es auch nötig. Wahrscheinlich meint der LI, daß es ohne Streßanalyse einfach nicht geht. Tja." Ich trinke aus und stehe auf: "Die Pflicht ruft. - Wenn ich noch einmal auf die Welt komme, dann nehme ich an dieser Expedition nur teil, wenn ich meine Vorbelastung in Informatik verschweigen kann. Biologe müßte man sein. Ihr habt ja im Moment nichts zu tun!"

"Wartet es ab, bis wir da sind!" sagt Eugen, "Aber wenn wir etwas delegieren können, dann werden wir auch euch Informatiker einspannen. Zum Blütenblätter zählen, zum Beispiel."

"Ich bin Physiker." sage ich, schon auf dem Weg nach oben, "Und in der Welthöhle gibt es kaum Blüten."

Auf dem Niedergang kommt mir Pater Palmer entgegen, für den es ja auch wenig zu tun gibt, sowohl jetzt, in dieser Situation, als auch eigentlich als Dauerzustand. Auch er demonstriert im Moment das Prinzip der Neuronalen Focussion: Nur eine Handvoll Menschen an Bord sind jetzt voll im Arbeitsstreß. Und gleich werde ich dazu gehören.

Oben kann ich mich sofort an die Arbeit machen. Das Gerüst der Briefträgertask hat Carola schon aufgeschrieben, ich brauche also nur die algorithmischen Details einzufügen. "Es werden nur ein paar tausend Zeilen!" sagt sie, "höchstens. Außerdem hast du ja sowieso die Wache übernommen."

"Ein paar tausend Zeilen?"

"Sowas schreibst du doch an einem Abend?"

"Wenn es ein abgeschlossenes Programm ist, mit klaren Schnittstellen und klarer Problemstellung - ja. Im industriellen Kontext ist sowas ein Mannjahr, das weißt du so gut wie ich."

"Mannjahre können wir uns jetzt nicht leisten." sagt sie, als ich mich vor meiner Konsole bequemer hinsetze.

"Doch. Das Boot hält das solange aus."

"Und die Lebensmittelvorräte? Und das, was der große Unbekannte in der Zeit noch anstellen wird?"

"Wenn wir" sage ich, "in der Zeit herausfinden, wer der große Unbekannte ist, werden wir die Lebensmittelvorräte um ihn ergänzen!"

"Da spricht der alte Welthöhlenreisende!" murmelt Edwin.

Der Rest des Abends vergeht meistens schweigend. Meine Wache verbringe ich nicht, wie üblich, in der Zentrale, sondern im vorderen Oberdeck. In der Zentrale ist bis Mitternacht ja sowieso jemand, und dann ist Vivian Grail dran.

Eigentlich ist die Programmieraufgabe als solche nicht zu schwer. Der Quelltext des Meßwertdämons und der Quelltext des Streßanalyseprogrammes sind zwar recht umfangreich - letzterer hat etwa eine halbe Million Quelltextzeilen - aber das meiste muß und darf nicht verändert werden. Nur die Teile, die im Meßwertdämon die Daten in die Pipelines hineinstecken, und die, die im Streßanalyseprogramm dieselben Daten dann aus der Pipeline herausholen, werden verändert. Und die Briefträgertask zu programmieren erweist sich als nicht allzu schwer, weil sie nur diese beiden speziellen Programme miteinander verbinden muß.

Es zeigt sich, daß die vorhandenen Programme, die größtenteils in C und C++ geschrieben sind, vom Software-Engineering Standpunkt sauber strukturiert sind. Die Kommunikationsteile sind eingekapselt und lokalisiert. Ein paarmal während dieses Abends glauben wir, sogar noch vor Mitternacht fertig sein zu können. Aber das ist vorschnell.

"Man müßte mehr C++ - Erfahrung haben!" seufzt Carola.

"Unser alter Arbeitgeber war eben nicht so besonders progressiv auf diesem Gebiet." sage ich, "Wie sollte man das auch sein, wenn man noch so viele Altkunden hat, die mit COBOL und BS2000 zufrieden sind. - Wenn du C++ hättest lernen wollen, dann hättest du dich nach einem neuen Arbeitsplatz umschauen müssen!"

"Habe ich ja getan." verteidigt Carola sich, "aber die Angebote waren alle nicht besonders. Bis auf dieses hier."

"Das wir ohnehin nicht ablehnen konnten." Das Gespräch erstickt wieder. Gleich ist Mitternacht. Inzwischen ist, bis auf uns vier, das vordere Oberdeck leer. Die anderen sind längst alle schlafen gegangen.

"Geisterstunde" sagt Edwin.

"Gibt's hier nicht - oder dauernd." sage ich.

"Haltet doch mal den Mund." sagt Carola. Ich halte den Mund. Einige Minuten lang. Und dann sagt das Interkom etwas. Ich gehe ran.

"Glückwunsch!" sagt Wellington. Er ist also noch auf.

"Danke. Wofür?"

"Daß Sie's so schnell geschafft haben."

"Was geschafft haben?"

"Daß die Streßanalyse wieder funktioniert!"

Ich stelle den Lautsprecher ein: "Würden Sie das bitte noch einmal wiederholen?"

"Wie oft wollen Sie es denn noch hören? - Oder funktioniert die Streßanalyse nur hier, in der Zentrale?"

Jeffrey, Carola und Edwin hören in derselben Sekunde damit auf, auf ihren Tastaturen herumzuhacken.

"Wir sind noch überhaupt nicht fertig!"

"Moment. Ich komme rüber."

Noch bevor Wellington die kurze Strecke von der Zentrale bis zu uns zurücklegen kann, probieren wir es selber aus.

Er hat recht: Die Streßanalyse funktioniert wieder. Als ob sie noch nie etwas anderes getan hätte.

"Und dafür schlagen wir uns die Nächte um die Ohren!" murmelt Edwin, als Wellington zu uns hereinkommt. Der wendet sich sofort an den LI:

"Sind die Werte plausibel? Ich meine, wir müssen damit rechnen, daß das Streßanalyseprogramm auch auf subtilere Weise verändert werden kann!"

Jetzt ist Jeffrey Garner in seinem Element. Er untersucht die Angaben des Streßanalyse-Programmes, sieht sich die Kraftflüsse an.

"Es ist ein bißchen meine Schuld," sagt er, "daß ich nicht früher bemerkt habe, daß irgend etwas mit diesem Programm nicht stimmt. Aber ich habe nur auf mögliche Asymmetrien der Kraftflüße geachtet, und auf Singularitäten. Die absoluten Werte habe ich einfach nicht nachgeprüft."

"Es macht Ihnen ja keiner einen Vorwurf," sagt Wellington, "denn normalerweise wäre das ja genug gewesen, oder?"

"Ja. Andererseits - so kompliziert das Streßanalyseprogramm ist, und so vielfältig die Daten, die es interpretieren muß - ein paar Größen kann man letzten Endes abschätzen. Wenn man geistig nicht zu träge ist, diese kleinen Kopfrechenaufgaben eben mal zu machen."

"Zum Beispiel?" fragt Wellington.

"Zum Beispiel. Stellen Sie sich das Boot in zwei Hälften geteilt vor. Die Fläche dieser Schnittfläche kennen wir. Elementare Geometrie - Fläche einer Ellipse. Den Druck kennen wir auch. Damit kennen wir die Kaft, mit der der Wasserdruck die beiden Bootshälften zusammenpreßt. Ganz einfach, nicht?"

"Ja."

"Und diese Kraft muß gerade der Gesamtsumme der Kraftflüsse entsprechen, die das Boot von rechts nach links durchsetzen."

"Das hätte der große Unbekannte aber manipulieren können." mein Wellington.

"Nein." sagt Carola, "Hätte er nicht. Dazu muß man in die Programmlogik des Streßanalysators eingreifen. Das wäre wesentlich komplizierter gewesen als das, was wir in den letzten Stunden versucht haben."

"Aha. - Und wieviele solche schnellen Plausibilitätsprüfungen erlaubt das Programm?" fragt Wellington wieder Jan Jeffrey Garner gewandt.

"Eine Handvoll. Mehr nicht. Das Beispiel von eben geht natürlich noch mit den beiden anderen Hauptsymmetrie-Ebenen. Andere Dinge müßte ich mir erst überlegen."

"Stimmt es denn jetzt?"

"Mal sehen - für die Längsschnittfläche. 12800 Meter Tiefe, im Durchschnitt leicht verdünntes Seewasser mit einer Dichte von 1.015 - Okay?"

Wir nicken.

"Das entspricht einem Druck von ungefähr 1300 Bar. Unsere Fläche ist, wie bei einer Ellipse üblich, Produkt der beiden Hauptachsen mal Pi. Das sind 342.12 Quadratmeter - Staunen Sie nicht, ich kenne die Zahl eben. So gut Kopfrechnen kann ich auch nicht. - So. Diese Fläche mal diesem Druck genommen, das gibt unter Brüdern etwas weniger als 4.5 Millionen Tonnen. - Es ist übrigens etwas weniger, weil das Boot ja kleiner geworden ist. Um zwei Prozent."

"Ja." sagt Wellington, "Scheint zu stimmen."

"Jetzt sehen Sie sich diese Zahlen hier an. Das ist der aufintegrierte Kraftfluß durch den Druckkörper in Querrichtung. Das sind schon mehr als 4 Millionen Tonnen - der Druckkörper trägt ja die Hauptlast. Der Kraftfluß durch die Decks und durch die Spantenscheiben ist vergleichsweise gering, und der atmosphärische Druck im Innern des Bootes macht weniger als ein Promille dieses Wertes aus. Kommt ungefähr hin - sehen Sie?"

"Ja." sagt Wellington. "Das ist einleuchtend. Aber warum funktioniert das Programm jetzt wieder?"

"Weil der große Unbekannte seine Manipulationen rückgängig gemacht hat!" sagt Carola.

"Merkwürdig," sage ich, "das ist neu. Bis jetzt haben wir immer die Aufräumarbeit gemacht. Jetzt hat er uns die Arbeit im letzten Moment abgenommen. Warum?"

"Eine Laune." sagt Edwin. Das erinnert mich wieder an meine Vermutung, daß es sich bei dem großen Unbekannten um eine Frau handeln könnte, aber auf jeden Fall um jemanden mit einer schwankenden Gemütslage. Ich sage dazu aber auch jetzt nichts.

"Vielleicht hat der große Unbekannte plötzlich Angst um sein Leben bekommen?" vermutet Garner.

"Dazu hätte er aber schon öfter Gelegenheit gehabt." Wellington denkt nach: "Wir werden dessen Motivation heute nicht ergründen. Haben Sie schon wesentliche Änderungen an dem System gemacht?"

"Nein." sagt Carola, "Wir arbeiten ja auf Kopien. Die archivieren wir jetzt, und damit hat es sich."

"Gut. Das ist wohl das beste, was man im Moment machen kann. - Dann werden wir morgen weiterfahren - wenn die Streßanalyse es erlaubt." Er sieht den LI an.

"Die erlaubt es." sagt dieser, fast mit Stolz, "Das Boot wird mit dem Druck fertig, als ob er überhaupt nicht vorhanden wäre."

Das ist natürlich übertrieben, wie schon die Verkürzung den Bootes, die man bei genauem Hinsehen mit bloßem Auge wahrnehmen kann, zeigt. Aber die nach wie vor bestehende Symmetrie des Druckkörpers und seiner Kraftflüsse zeigen, daß das Boot noch weit von der Überbelastung entfernt ist.

Jedenfalls werden wir in dieser Nacht gut schlafen können.

Wenn Tage wie dieser nur nicht zur Routine werden!


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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