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51. Die Dachbalken
Wir kümmern uns nicht mehr weiter um die mutmaßlichen Fossilien - wir wollen weiter. Und die immer wieder auftauchenden Verzweigungen, die nirgendwohin führen, sind Hinweis genug, daß wir hier noch viel Zeit brauchen werden.
Tatsächlich vergeht dieser ganze 30. Januar, ein Samstag, damit, daß wir immer wieder umkehren müssen. Dabei ist es häufiger notwendig, das Boot über lange Strecken rückwärts zu steuern, weil in den beengten Höhlen ein Wendemanöver nicht möglich ist. Rückwärtsfahren ist dank Rechnerunterstützung nicht schwieriger als Vorwärtsfahren, aber die Schiffssysteme und die Hydrodynamik des Bootes ist natürlich aufs Vorwärtsfahren optimiert.
Fossilien finden wir keine mehr - ein paarmal im Laufe des Tages glaubt jemand, etwas zu sehen, aber jedensmal handelt es sich bloß um irgendwelche sonderbar geformten Felsbrocken, die einer näheren Überprüfung nicht standhalten.
Am Abend machen wir wieder in der Knochenhöhle fest. "Sie sind nicht weggelaufen!" meint Edwin erschöpft. Man merkt allen die Erschöpfung an. Wer nicht glaubt, daß es Arbeit ist, jeden Tag acht bis zehn Stunden auf einen Bildschirm zu starren, der soll es doch mal versuchen.
"Das ist schon lange her, daß die einmal gelaufen sind. Gemma essen?" frage ich. Beim Aufstehen merke ich, wie steif ich durch das lange Sitzen geworden bin. Deshalb mache ich in der Kantine zwischen den Tischen Kniebeugen, bis ich den anderen zunehmend im Wege stehe, "Dadurch wirst du auch nicht jünger und hübscher!" bemerkt Cohäuszchen.
"Bei 'jung und hübsch' bist du ja auch besonders kompetent!" sage ich und nehme das zum Anlaß, mich mit ihm und Solzbach zuammenzusetzen. Das hat natürlich den eigentlichen Grund, daß ich weder mit Natalie noch mit Gabi zusammensitzen möchte.
Natalie redet angeregt mit Alfred Seltsam, und Gabi brütet vor sich hin, beachtet aber weder mich noch sonst jemanden. Als ob überhaupt nichts gewesen wäre. Die Balzzeit ist vorbei.
Dafür setzt sich Pater Palmer zu uns, vielleicht nicht aus Absicht, sondern weil er sich ja nun irgendwo einen Platz suchen muß. Wie jeder in einer Firmenkantine beobachten kann, streben die meisten Mitarbeiter immer demselben Platz zu. Diesen Mechanismus gibt es hier natürlich auch. Aber meistens essen die Besatzungsmitglieder zeitlich versetzt, so daß die Kantine nie ganz voll ist, und dann kann man sich in gewissem Umfange aussuchen, wo man sich hinsetzt, es kann aber auch passieren, daß man beim Betreten der Kantine ausgerechnet den eigenen Lieblingsplatz besetzt vorfindet.
"Herr Palmer, Sie sagen so wenig!" versuche ich, ein Gespräch in Gang zu bringen, "Dabei muß das für Sie doch ebenso faszinierend und aufregend und ungewohnt sein wie es das für uns ist!"
"Wer sagt, daß es das nicht ist? - Außerdem muß man nicht allen Gedanken sogleich Ausdruck verleihen."
"Wie Herwig das tut!" wirft Carola mit vollem Mund ein.
"Der Ausdruck 'Gedanke' ist an Bord vielleicht bei manchen Mitarbeitern zu weit hergeholt." sage ich etwas lauter, Carola fixierend.
"Für die Pointe hast du aber lange nachdenken müssen."
"Es sind auch nicht alle Gedanken gleich gut für die unmittelbare Artikulation geeignet." fährt der Pater fort.
"Ja." nickt Edwin, "Das kann sich jetzt jeder hier hinter die Ohren schreiben."
"Der Herwig übt aber für sein nächstes Buch. Da muß er ausprobieren, welche Pointe sitzt und welche nicht." sagt Carola zu Edwin.
"Ausgerechnet an uns?"
"So etwas probiert man an Kollegen aus, nicht an Freunden."
"Vielleicht liegt das daran, daß man keine Freunde mehr hat, wenn man solche Bücher schreibt! - Besonders, wenn die Gefahr besteht, daß die Freunde in den Büchern vorkommen."
"Also hört mal!" protestiere ich, "Noch ist es überhaupt nicht raus, ob ich etwas schreiben werde. Schon weil es nicht sicher ist, ob wir mit dem Leben davonkommen. - Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben."
"Diese Bemerkung steht nur dem Pater zu." sagt Cohäuszchen.
"Durchaus nicht," erwidert dieser, "es ist doch eine Binsenweisheit!"
"Ja. Und nicht einmal eine religiöse. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik ist es, der sich dahinter verbirgt. Oder, wie es Goethe ausdrückte: 'Alles, was besteht, ist wert, daß es zugrunde geht!'"
"Du brauchst nicht dauernd zu beweisen, daß Physiker auch einmal eine Allgemeinbildung erhalten haben." stoppt Carola meinen Zitatenstrom, "Außerdem wollten wir nicht von dir wissen, wie du die Reise empfindest, sondern vom Pater!"
Ich komme nicht dazu, Carola auf die sprachliche Ungenauigkeit aufmerksam zu machen, daß sie vom Pater wissen wollen, wie er und nicht wie ich die Reise erlebe.
Man muß in der deutschen Sprache gelegentlich Ungenauigkeiten in Kauf nehmen, wenn man Wert darauf legt, über die Dinge selbst zu reden, und nicht darüber, wie man sie ausdrückt.
"Ehrlich gesagt - ich glaube, ich bin hier fehl am Platze." sagt der Pater.
"Wie kommen Sie dazu? Wieso fehl am Platze?" frage ich.
"Ich habe keine besondere Aufgabe, außer der eines Beobachters für die Kirche. Das ist ja auch letzten Endes mein Auftrag."
"Die Kirche möchte dabei sein - wie bei den Landnahmen in den letzten Jahrhunderten ..."
"Ich unterstelle meinen Vorgesetzten nichts. Das ist nämlich auch nicht meine Aufgabe."
"Dem wäre," sage ich, "nichts entgegenzusetzen. Beobachten darf jeder. Aber ist Ihr impliziter Auftrag nicht, das Wort des Herrn zu verbreiten? Oder gibt es den Missionsbefehl in der organisierten Kirche nicht mehr?"
"Es gibt ihn schon noch. Aber das Wort verbreiten unter wem? Unter Ihnen? Ich weiß, daß jeder von Ihnen es mir übel nehmen würde, wenn ich versuchte, meine ethischen Grundüberzeugungen weiterzuverbreiten, egal, wie abweisend oder bejahend man diesen schon gegenüber steht."
"Ethische Grundüberzeugungen verbreiten, das macht hier an Bord ja auch nur Herwig!" wirft Cohäuszchen ein, "Den ganzen Tag!"
"Quatsch." sage ich, "Hören Sie nicht auf ihn. - Also, wir sind nicht missionierbar? Meinen Sie das so?"
"Wenn Sie es so ausdrücken wollen. - Wenig Bürger in unserer Wohlstandsgesellschaft sind missionierbar. - Ich mag dieses Wort übrigens nicht."
"Da habe ich gute Nachrichten für Sie, Pater," sage ich, "Das mit der Wohlstandsgesellschaft wird ja nicht so bleiben. Jeder weiß doch, daß der Wohlstand seit dem Ende der Achtziger Jahre sinkt. Die große Ost-West-Konfrontation über nichtexistierende ideologische Gegensätze ist vorbei, jetzt taucht der eigentliche Gegensatz in der Welt auf: Der zwischen arm und reich. Und die Armen sind in der Überzahl - werden es auch bleiben - jaja, natürlich wegen der Bevölkerungsexplosion, Günther! - und, wie Sie wissen, fassen die Religionen in Nicht-Wohlstands-Gesellschaften viel besser Fuß. - Ihre Chance kommt wieder, Pater!"
"Sie sehen es pessimistisch. Religionen sind kein Kleister für wirtschaftliche Not!"
"Aber dieses Verbreitungsmuster, das ich eben erwähnt habe, das bestreiten Sie doch nicht!"
"Es hat andere Gründe."
"Daß Religionen in den Wohlstandsgesellschaften sich nicht halten?"
"Ja."
"Aha. Und welche?"
"Der allgemeine Werteverlust."
"Was für Werte, bitte?"
"Werte, die über das materielle hinausgehen."
"Und was geht bitte über das materielle hinaus?"
"Das läßt sich nicht so schnell sagen."
"Dann sagen Sie es langsam! - Wir haben viel Zeit, und ich möchte es gerne wissen."
"Die Werte der Humanität."
"Ist Armut human?"
"Ach, Herr Homberg, das ist doch jetzt Polemik!" Das erste mal, daß der Pater einen Anflug von Unwillen erkennen läßt.
"Polemik ist die aggressive und überspitzte Artikulation von Sachverhalten."
"Vielleicht auch die verschleiernde Artikulation von Sachverhalten!"
"Kann sein. Aber ich habe nur ganz unverschleiert gefragt, wo Armut human ist. Töten ist nicht human, ja, der Selbstmord ist in den meisten Religionen auch nicht human. Einschließlich der christlichen! Wie kann dann Armut ein Wert an sich sein, wenn Armut bewirkt, daß man mit viel größerer Wahrscheinlichkeit im Lebenskampf Schaden nimmt?"
"Armut ermöglicht, sich auf die wesentlichen Dinge zu konzentrieren."
"Satt zu werden?"
"Das meine ich nicht."
"Darauf muß man sich aber konzentrieren, wenn man arm ist. Für einen Armen ist das wesentlich."
"Denn Wert der Mitmenschlichkeit zu erkennen, zum Beispiel. Das ist wesentlich."
"Wie das?"
"Wer arm ist, weiß, was Armut ist, und ist eher bereit, zu teilen."
"Handelt es sich da nicht eher um ein Problem des Vorstellungsvermögens, Pater? Ich gebe zu, daß es wohlhabende Menschen gibt, die sich nicht um existenzbedrohende soziale Probleme kümmern, weil sie nicht die Phantasie oder die Intelligenz haben, sich solche Dinge, denen sie nicht selbst ausgesetzt sind, vorzustellen. Aber das scheint mir doch eher auf ein Intelligenzdefizit als auf ein Ethikdefizit hinzuweisen!"
"Würden Sie ihren Wohlstand teilen? Sie können sich doch offenbar andere soziale Umfelder vorstellen!"
"Nein, würde ich nicht. Mein Wille, mir selber Wohlstand zu schaffen, würde spürbar gelähmt werden. Das zum einen. Zum zweiten muß man annehmen, daß jemand, der am Tropf der Mildtätigkeit hängt, sich an diesen Zustand gewöhnt. Die Erfahrung lehrt genau das. Ich würde also mit einer andauernden Politik des Teilens das Problem meiner unterprivilegierten Mitmenschen nicht lösen. Ich würde den Zustand festschreiben. - Ja, und im weltpolitischen Maßstab gesehen würde man ihn verschärfen - natürlich wieder wegen der Überbevölkerung."
"Bei Ihnen klingt das alles, als ob sie in Armut ein Kapitalverbrechen sehen!" sagt der Pater mit inzwischen deutlich vorwurfsvollem Ton.
"Lassen Sie mich nachdenken. - Ja. Ich glaube, Sie haben recht."
"Dem kann ich nicht folgen. - Dem will ich nicht folgen!"
"Versuchen wir es mal so. Vielleicht kann man es sogar als ethische Forderung aufstellen. - Ab einem gewissen Level der Armut und darunter muß man alles daransetzen, diesen Level wieder nach oben zu durchbrechen. Armut heißt, von den Resourcen anderer abhängig zu sein, und auch allgemein verfügbare Resourcen - teilweise - stärker zu belasten. Armut heißt also, Unterstützung zu fordern. Mehr aus dem Topf des Lebens zu nehmen als man geben kann. Heißt es nicht 'Geben ist seliger denn Nehmen'? Wer hinreichend arm ist, kann nicht geben - ist das nicht unethisch?"
"Aber wenn man doch für diesen Zustand nicht verantwortlich ist! Das ist doch das Problem!" wirft Carola ein.
"Das Problem ist, daß der, der Armut verursacht, und der, der sie erleidet, nicht unbedingt miteinander identisch sind - ausgenommen natürlich wieder die Überbevölkerungsthematik. Letzteres könnte aber, auch wenn ihr das bestreitet, die Hauptursache sein. Wohlstand generiert gebremstes oder rückläufiges Bevölkerungswachstum, welches wiederum Wohlstand generiert. Wenn nicht irgendwie eine verrückte Ideologie dazwischen kommt, wie der Sozialismus. Armut generiert Bevölkerungswachstum und, korrespondierend, Resourcen-Raubbau. Das verschärft die Armut. Daß ist der Zustand dieses Planeten."
"Wie würden Sie denn diese Probleme lösen?"
"Ich könnte zynisch sein und sagen: Krieg. AIDS. Andere Seuchen. Das wird auch alles eintreten, oder sagen wir mal, es ist ja in vollem Gang. Der größte Teil der Welt ist in diesem Zustand. Eine Politik des Teilens, wie gut gemeint, hilft nicht mehr. Wir können nur Tropfen auf den heißen Stein werfen, der aber wird immer heißer und immer größer. Also, was bleibt? Wir müssen unseren eigenen Wohlstand gegen den Ansturm der Armut bewahren. Nur unser Wohlstand ermöglicht, daß die paar Kulturleistungen, auf die wir entsetzlich stolz sind, der Menschheit erhalten bleiben. - Stellen Sie sich mal folgendes Szenario vor, Pater: Eine ganze Welt, 20 Milliarden Menschen, leben auf einer weltumspannenden Müllkippe - wir auch, weil wir unseren Wohlstand geteilt haben. Jeder muß sich 24 Stunden des Tages damit beschäftigen, irgendwo etwas zu futtern zu ergattern. Niemand hat mehr Zeit, sich mit den sogenannten 'schönen Künsten' zu beschäftigen. Es gibt keine Orchester mehr, die die Mathäus-Passion spielen können - weil niemand mehr diese Orchester bezahlen kann. Niemand investiert mehr Zeit, ein Instrument zu erlernen - weil das ja entsetzlich unproduktiv ist. - Ihre schönen Gotteshäuser, Pater, gibt es nicht mehr. Sie sind Notunterkünfte, so, wie jedes andere Bauwerk, das noch steht. Verschmutzt und verdreckt. Es gibt keinen bewohnbaren Platz auf dem Planeten, wo man noch hintreten kann, ohne das jemand protestiert: 'Halt! Besetzt!'. - Und es gibt nur noch ein Gleichgewicht zwischen Geburten und den natürlichen Todesursachen: Tod im Kindesbett, Tod wegen mangelnder Hygiene, Bürgerkrieg, Krankheiten, Verwundungen, Seuchen. - Gewiß, die Menschheit wird nicht aussterben. Sie wird dahinvegitieren. Vielleicht sogar für sehr lange Zeit. Massenvernichtungsmittel wird es irgendwann auch nicht mehr geben, einfach aus dem Grund, daß die dazu notwendige technische und wissenschaftliche Infrastruktur nicht mehr existiert."
"Wenn man Sie so hört, könnte man denken, daß Sie mit der Aussicht auf eine völlig existenzunwürdige Zukunft leben." sagt der Pater, "Wie kann man so ohne Hoffnung leben?"
"Sie sehen ja, ich kann offenbar so leben. Aber vielleicht lebe ich gar nicht so: Noch gibt es Zeit, es zu ändern. Es muß nicht so eintreten, auch, wenn wir in voller Fahrt auf diesem Wege sind. Außerdem, Pater: überschätzen Sie nicht meinen Idealismus! Als Bürger der letzten Noch-Wohlstands-Länder geht es mir gut. Meine Rente wird zwar schon etwas geringer sein als die meiner Eltern - naja, nach dieser Expedition vielleicht auch etwas besser - aber ich werde nicht verhungern oder durch Seuchen umkommen. Bis in Deutschland und Europa die Verteilungskämpfe jede Lebensqualität zerstören, dauert es noch einige Jahrzehnte. Mich trifft es nicht mehr. - Ich hätte mir nur gewünscht, etwas dagegen tun zu können. - Und was tun wir jetzt, Pater? Wir sind auf einem Unternehmen, dessen endgültige Zielsetzung darin besteht, unsere Art zu leben in die Welthöhle zu exportieren. In das letzte, ökologisch abgeschlossene Gebiet. Das letzte ökologische Refugium. Wenn unsere Expedition von Erfolg gekrönt ist, wird es uns paar unwichtigen Männlein und Weiblein gut gehen, für den Rest unserer Tage. Aber die Welthöhle wird schwer bestraft. Sie zahlt einen verdammt hohen Preis. - Können Sie mit dieser Schuld leben, Pater? Wenn ich auch mal so fragen darf?"
"Hast du dich jetzt abgeregt? Wir sind mit dem Essen schon fertig!" fragt Cohäuszchen.
"Jedenfalls habe ich mich wieder ordentlich verdächtig gemacht. Verdächtig, der große, Unbekannte zu sein, nicht?"
"Eigentlich nicht. Trägheit nimmt dir jeder ab." sagt Carola. "Aber könnte es nicht sein, daß jemand deinen weltanschaulichen Wegen mit mehr Fanatismus folgt? - Irgend jemand hier an Bord?"
"Ach!" sage ich, "Du zeihst mich geistiger Urheberschaft!"
"Ich tue was?"
"Du klagst mich geistiger Urheberschaft an!"
"Wenn du so willst." sagt Carola, "Ich meine, wenn du Herrn Palmer für alles verantwortlich machst, was die großen Religionen schon angerichtet haben ..."
"Das habe ich nicht getan."
"Implizit!"
"Auch nicht implizit. Ich haben ganz nüchtern einige Überlegungen zu Buche gegeben."
"Hört auf, euch zu streiten." versucht Cohäuszchen zu vermitteln, "Noch haben wir Meinungsfreiheit an Bord. - Am besten, wir reden über etwas ganz anderes."
"Und über was?"
"Ah. Da fällt uns schon was ein. "Cohäuszchen tut so, als ob er nachdenkt. Dann fragt er: "Wie steht denn die Kirche im Moment zu häufig wechselnden Partnerschaften, Pater?"
"Das ist eine rhetorische Falle, Pater!" sage ich, "Ich glaube, er will auf meine Privatangelegenheiten anspielen!"
"Oh, das würde ich nicht sagen. Immerhin, wer der Mine frönt, kann sonst keinen Unfug anstellen."
"Kinder zeugen kann man," sage ich, "das ist ein häufiger Nebeneffekt."
"Du paßt sicher auf. - Gerade du!"
"Habe ich nicht. Ich habe ja nicht die Initiative ergriffen. In keinem Falle. Aber geht das euch irgend etwas an?" Ich rede etwas leiser, damit unser Gespräch nicht bis zu den Tischen dringt, an denen Gabi und Natalie sitzen - das wäre mir jetzt peinlich.
"Merkwürdige Einstellung." sagt Carola, "Deinem Buch zufolge hast du in der Welthöhle auch nicht aufgepaßt."
"Da hatte ich wenig Einfluß drauf. - Aber wir werden - wenn wir dahin kommen - keine Nachkommen von mir treffen. Wenn du mein Buch aufmerksam gelesen hast, dann solltest du wissen, daß alle Frauen, mit denen ich geschlafen habe, tot sind."
"Oh, das ist aber ein schlechtes Omen für den weiblichen Teil unserer Besatzung!" unkt Cohäuszchen, und alle, sogar der Pater, lachen.
"Übertreib nicht. Bloß für 33 Prozent unserer weiblichen Besatzung."
"Das grenzt an Konsumterror mit unseren Damen. Und wann machst du die restlichen ..."
"Günther!"
Es gelingt, das Thema wieder zu verlassen: "Morgen wird es spannend," sage ich, "Einige der abzweigenden Höhlen, die wir vorgemerkt haben, scheinen in sehr viel größere Tiefen zu führen. - Das heißt, daß wir die Dachbalken testen werden."
"Bis jetzt hat sich das Boot glänzend bewährt." meint Edwin.
"Ja."
"Was meinst du, wie tief wir kommen werden?"
"Woher soll ich das wissen? Wir werden alle erreichbaren Höhlenketten kartographieren."
"Nicht nur kartographieren," sagt Edwin, "ich weiß von Amerlingen, daß wir auch aus dem Grunde dauernd an den Bildschirmen kleben sollen, damit wir notfalls etwas nach Erinnerung navigieren können, falls unser großer Unbekannter die Datenbasis der Navigation schon wieder löscht. - Das geht nicht nur darum, Ausschau nach geologische Besonderheiten, Artefakten oder Fossilien zu halten."
"Wie Fernsehen," sage ich, "viele Wiederholungen."
"Ja. Aber beim Fernsehen hofft man, daß es spannend wird. - Wir hoffen, daß es nicht spannend wird!"
Diese Nacht gelingt es mir, alleine zu schlafen. Also, von wegen Konsumterror - ich bin mir da keiner Schuld bewußt. Von mir geht und ging die Initiative nicht aus. Und was heute betrifft, auch von niemandem sonst - der Versuchungsdruck ist also nicht besonders groß.
Die Weiterfahrt am anderen Morgen, dem 31. Januar 1999, ist unspektakulär. Eigentlich ist es Sonntag, und ich denke mir, daß, wenn die Expedition noch wesentlich länger dauern sollte, wir eine Form von Wochenende einführen müssen, auch wenn die Freizeitmöglichkeiten an Bord der CHARMION beschränkt sind. Im Moment protestiert noch niemand. Alle sind froh, daß keine Katastrophen passieren, alle sehen sich mit mehr oder weniger Passivität die Außenübertragungen an. Dazwischen plätschert der tägliche Smalltalk dahin.
Um 10:20 Uhr erreichen wir einen schrägen Schacht, den zu verfolgen gestern beschlossen wurde. Wir haben jetzt eine Tiefe von 9300 Metern - das wird sich jetzt rasch ändern.
Dieser Schacht hat allerdings einen kleinen Schönheitsfehler: zwar hat er einen länglichen Querschnitt, dieser ist aber nicht länglich genug. Seine Amessungen betragen etwa 20 mal 40 Meter. Andererseits scheint er sehr tief zu sein.
"Bitte alles herhören!" hören wir Wellington's Stimme, "Wir gehen kopfüber runter. Nickwinkel 90 Grad. Solange wir das tun, muß jeder sich an seinem Arbeitsplatz festschnallen. Außerdem werden im zentralen Niedergang Sicherungsgurte ausgegeben - Jeder holt sich jetzt einen. Vorher fangen wir nicht an."
"Au weh," sagt Cohäuszchen, "Jetzt wird es ungemütlich."
"Wieso?" fragt Edwin, "Diese Sitze kannst du doch so drehen, daß du wie in einer startbereiten Rakete mit dem Rücken nach unten liegst! Die sind so gedacht!"
"Aber man kann nicht auf die Toilette gehen, ohne wie auf einem Klettersteig rumzuturnen."
"Man sollte es vielleicht schon vorher tun." schlage ich vor, "wenn du gerade im Kabinengang bist, und das Boot ruckt, dann fällst du vielleicht über 20 Meter, bevor es dich in der Kantine zu Brei schlägt! - Abgesehen davon sind unsere Toiletten nicht benutzbar, wenn das Schiff auf der Nase steht!"
"Du hast doch den Buchheim gelesen," fragt Carola, "hätten die mit ihrem Boot sowas machen können?"
"Sie haben nicht im entferntesten dran gedacht. Ich weiß nicht - vielleicht währen ihnen die Batterien ausgelaufen, oder sie hätten sich als ganzes gelöst und wären durch das Schiff gepoltert. Dann wär's aus gewesen."
Es gibt ein Dutzend Minuten eine hektische Lauferei durch das Schiff. Nicht nur, daß jeder sein Sicherungsgeschirr bei sich hat, ein paar Mitglieder der Besatzung sollen sich auch während des Neigens des Bootes an wichtigen Stellen aufhalten, um zu sehen, ob irgendwo Gegenstände, die nicht gesichert worden sind, ins Rutschen kommen, um notfalls den Nickvorgang abbrechen zu lönnen. Wir Wissenschaftlichen bleiben an unseren Plätzen - nur soll jeder noch kurz in seiner eigenen Kabine nach dem Rechten sehen.
Dann ist es soweit. Das Kippmanöver beginnt. 10:45 Uhr. Irgendjemand hat gesagt, mehr als ein halbes Grad pro Sekunde soll sich das Schiff nicht neigen. Dann wird es 3 Minuten dauern.
Es sind wohl weniger als ein halbes Grad pro Sekunde. Ein paar Dutzend Grad Neigungslage haben wir ja schon mal gehabt, und die Nickrate war auch schon größer. Zunächst ist es noch nicht abenteuerlich.
Ich versuche, die unwillkürliche Anspannung der Muskeln zu unterdrücken, die daher rührt, daß man glaubt, irgendwann plötzlich zugreifen zu müssen, etwa, weil der eigene Stuhl bricht. Ich sage mir immer wieder, daß diese Sitze so stabil sind, daß man mit Körperkräften gar nichts ausrichten könnte, wenn sie brächen. Um mich zu beschäftigen, bringe ich die Rückenlehne in Richtung zum Bug. Die anderen machen es ebenso. Nun muß man sich nur ziemlich den Hals verrenken, um einige der Bildschirme ansehen zu können, andere, die an den querstehenden Konsolen, liegen dafür jetzt genau richtig.
10:48 Uhr. 45 Grad. Dann waren es bis jetzt weniger als ein viertel Grad pro Minute. Von nun an gerät das Boot in eine Steillage, die zunehmend unangenehm wird. Und zunehmend gefährlicher, wenn man sich im Boot bewegen müßte.
Es gibt jedoch keinerlei Warnhinweise. Das Boot nimmt die ungewohnte Lage hin. Dafür ist es gebaut. Alle Systeme funktionieren wie gewohnt. Bis natürlich auf Toiletten und Abflüsse, bei denen bestimmte Ventile geschlossen werden mußten. Und daß keine der Tieftemperaturtruhen eine Flüssigluftfüllung hatte ist vorhin auch geprüft worden.
10:50 Uhr - 60 Grad. Was immer ungesichert auf einem Tisch oder einer Ablageplatte stand, ist jetzt heruntergefallen. Gehört haben wir immer noch nichts.
Um 10:55 steht das Schiff endlich senkrecht. Alles funktioniert wie gewöhnlich. Mehr als 90 Grad wird es nie werden - in der Theorie, denn dann könnte man das Schiff ja um die Längsachse rotieren. Da das Schiff aber breiter als hoch ist, ist es im Prinzip möglich, daß wir uns in Tunnels bewegen, die eine Rotation um die Längsachse nicht erlauben. Dann kann die Streckenführung eines solchen Tunnels das Schiff durchaus zwingen, sich richtiggehend auf den Kopf zu stellen. Wenn man es nicht vorzieht, sich rückwärts aus solchen Tunneln wieder hinauszumanöverieren.
Um 11 Uhr sind endlich alle wieder auf ihren Plätzen, und die Fahrt nach unten beginnt. Halbes Fußgängertempo, eher weniger: Einen halben Meter pro Sekunde. Wenig, verglichen mit dem, was die CHATMION an Geschwindigkeit erreichen kann. Aber in vertikaler Richtung sind alle Geschwindigkeiten beeindruckender.
11:15 Uhr. 9700 Meter. Der Schacht wird ab und zu enger: Wir haben schon Stellen mit einer lichten Weite von 8 mal 15 Metern passiert. Viel weniger darf es nicht werden. Der Schacht ist nie genau senkrecht - bei seiner unregelmäßigen Form könnte man sowieso nicht sagen, was das ist - und so nimmt der Nickwinkel gelegentlich ab und schwankt immer zwischen 90 und 70 Grad. Die sachten Längsrotationen, die das Boot ausführen muß, reichen gerade aus, den Gleichgewichtssinn zu reizen: Man ist sich nie genau darüber klar, in welcher Richtung sich das Boot dreht, und wie schnell, und ob.
11:40 Uhr. 10000 Meter. Aufregend, aber nicht so aufregend, was wenige Sekunden nach Erreichen dieser magischen Zahl passiert. Es ist jemand in der Zentrale, der es zuerst sieht, und so ist das erste, was wir bemerken, ein deutliches Langsamerwerden des Bootes. Es kommt grundlos zum Stillstand. Bei uns ist Günther Cohausz, der es zuerst sieht:
"Da!" sagt er nur, und deutet auf einen der Bildschirme, der eine Ansicht nach schräg vorne zeigt. Das Boot richtet weitere Scheinwerfer auf diese Stelle. Ich spüre das Kribbeln in der Magengrube. Ein Kribbeln des Wiedererkennens.
In der Felswand des Schachtes, ein paar Dutzend Meter unter unserer derzeitigen Position, ist eine große Rille im Fels in Sicht gekommen. In der Rille könnte man schräg an der Felswand entlang aufsteigen, denn ihre untere Begrenzung besteht aus herausgehauenen Treppenstufen.
Das Boot schiebt sich weiter in die Tiefe. Mehr Einzelheiten kommen in Sicht.
Die Rille führt in einem Winkel von etwa 45 Grad an der Felswand entlang nach oben. Sie ist bloß 30 bis 40 Zentimeter weit in den Fels eingehauen und 1.20 Meter breit. Das heißt, daß ein Mensch von 165 Zentimetern Körpergröße noch gut stehen könnte. Aber viel Platz, um sicher in der Rille zu stehen, hat man nicht, obwohl die Treppenstufen durchgehend in einem guten Zustand sind: Die Treppe ist einfach zu schmal.
Wäre dieser Schacht nicht mit Wasser gefüllt, dann wäre jeder Fehltritt in dieser Treppe tödlich. Als ich diese Treppe sehe, steigen in mit wieder Erinnerungen aus der Zeit vor dreieinhalb Jahren auf. Wieviele solche Treppen haben wir beschritten. Wieviel Angst haben wir gehabt, Irene und ich.
Damals war Irene noch bei mir.
Das obere Ende dieser Rille verschwindet in einem Loch in der Wand. Das Boot ist jetzt auf gleicher Höhe wie dieses Loch, und die Scheinwerfer können hineinleuchten. Nichts spektakuläres - man sieht halt noch ein paar Treppenstufen.
Nach unten scheint diese Rille dem Schacht zu folgen, soweit die Scheinwerfer reichen.
"Als Autor von rein fiktiven Romanen bin ich jetzt endgültig unterdurch!" sage ich.
"Das warst du schon immer." stellt Cohäuszchen geistesabwesend fest. Ich weiß Offenheit zu schätzen, aber das geht nicht soweit, mich dafür bedanken zu wollen. So sage ich nichts.
"Ich habe es mir nicht richtig vorstellen können," sagt Edwin, "aber so etwas entlangzugehen, wenn hier kein Wasser wäre - Igitt."
"Bist du vielleicht nicht schwindelfrei?" frage ich, "Das muß man in der Welthöhle aber sein. Es ergibt sich dauernd, daß man das sein muß."
"Wie werden das Boot vielleicht gar nicht verlassen, auch wenn wir dahinkommen." sagt Edwin.
"Da bin ich nicht so sicher. - Und denk an die Hitze - es ist in der letzten Zeit da draußen auch unangenehm warm geworden! Alles Vorboten der Bedingungen da unten."
"Wir sind doch schon bald so tief wie die Welthöhle!" sagt Carola, "Es muß allmählich so warm werden, wie du es beschrieben hast."
"Da gibt es Unsicherheiten. Der Höhenmesser war nicht für diese Bedingungen konstruiert." belehre ich sie, "Wir haben die ganze Zeit geglaubt, daß die Oberfläche des Welthöhlenozeans 10500 Meter unter Normal Null war. Aber das können auch ein paar tausend Meter mehr oder weniger gewesen sein."
"Hat man euren Höhenmesser nicht untersucht?"
"Da hast du wohl nicht aufgepaßt - das hat man uns in München aber erzählt!"
"Was ist denn da rausgekommen?"
"Jedesmal etwas anderes. Also jedesmal, wenn man das Ding erneut einem Hochdruckzyklus ausgesetzt hat. - Es muß reiner Zufall gewesen sein, daß unser Höhenmesser wieder auf Null zurückgegangen ist, als wir zur Oberfläche zurückkamen. In den Experimenten tat er das nämlich nicht."
"Gibt's wenigstens einen Trend?" fragt Edwin.
"Ja. Es waren zwischen 10 und 16 Kilometern. Mehr kann es einfach nicht gewesen sein, weil wir dann eine unheimliche Steigleistung erbracht hätten, auf dem Rückweg. Aber sogar diese Aussage ist unsicher, weil niemand weiß, wie unser Organismus sich da unten wirklich verhalten hat. Die Irene, zum Beispiel, hätte es gar nicht schaffen können - sagen die Mediziner. Sie hat es aber geschafft. Trotz Hitze, trotz schwerer Wege bergauf. - Was wissen wir denn, wie unser Organismus unter ungewohnten Bedingungen reagiert?"
"Da habe ich eine Idee," sagt Carola, "Du hast doch in deinem Buch die Möglichkeit erwähnt, daß die Welthöhle ein Genpool für die Oberflächenwelt war, nicht?"
"Ja, habe ich. Vermutung."
"Könnte es nicht sein, daß die Vorfahren des Menschen auch zeitweise in der Welthöhle gelebt haben, und daß irgendwann wieder eine Gruppe an die Oberfläche gelangt ist? Da gibt es doch Diskontinuitäten in der prähistorischen Entwicklung des Menschen, die man sich nicht erklären kann. Vielleicht eben, weil ein Teil der Menschwerdung unter Tage stattgefunden hat! - Dann wäre es auch verständlich, wenn Menschen unter den genauen Bedingungen der Welthöhle leistungsfähiger sind als erwartet!"
Ich sehe es Dr. Reinhardt an, daß es in ihm arbeitet, darauf zu erwidern - er weiß bloß, noch nicht was. Prinzipiell ist das, was Carola gesagt hat, denkbar. Und ich kann nicht beurteilen, ob sich diese Hypothese mit dem bekannten Fossilienbestand verträgt.
Wellington's Stimme kommt aus dem Interkom: "Amurdarjew, können Sie aus der Art der Steinbearbeitung irgendwelche Information über Material des Felsens und Alter dieser Rille schließen?"
"Nur mit Stichproben!" gibt Gerald zurück. Wir alle wissen, daß wir die nicht kriegen werden.
Minuten später lassen wir uns wieder weiter sinken. Außer den Außenaufnahmen und Echolot- und Radarmessungen bleibt uns nichts.
Um 12:10 haben wir 10300 Meter erreicht, und die Treppenrille endet so, wie sie 300 Meter höher angefangen hat: Sie verschwindet in einem Loch. Das ist vielleicht ganz gut so, denn der Schacht wird zunehmend enger und erfordert die ganze Aufmerksamkeit von Schiffscomputer und Rudergänger. Häufig ist an mehreren Seiten zwischen der Außenwand des Bootes und den Felszacken nur noch ein halber Meter. Jede Minute rechnen wir damit, daß wir aus der Zentrale informiert werden, daß wir uns zurückziehen müssen. Daß hieße, daß wir mindestens noch einmal ebensolange an unsere Stühle gefesselt sein werden, wie wir das schon waren.
Es kommt anders. Der Schacht biegt sich und verwandelt sich in einen steilen Spalt, der zwar durchgehend eine genügend große lichte Weite hat, der aber teilweise mit sehr unstabil gelagertem Geröll angefüllt ist. Weil dieser schräge Spalt so steil ist, könnte es sein, daß schon der kleinste Steinschlag hier eine gewaltige Steinlawine auslösen könnte. Deshalb bemüht der Rudergänger sich, sowenig Wirbel wie möglich zu machen. Die nicht unbeträchtliche Hitzeentwicklung des Bootes können wir aber nicht reduzieren - deshalb ist es dringend angeraten, an keiner Stelle einen längeren Aufenthalt zu machen. Sonst bricht der Fels über unseren Köpfen schon wieder wegen irgendwelcher Wärmespannungen zusammen.
13 Uhr. Der Spalt weitet sich zu einer waagerechten Höhle mit größeren Ausmaßen auf. Von hier aus scheinen mehrere Wege weiterzuführen. Aber am wichtigsten ist aber erst einmal, daß wir unsere Sitze verlassen können. Die Tiefe ist jetzt 10850 Meter. Das heißt, daß wir uns jetzt schon in einer größeren Tiefe als die Oberfläche des Welthöhlenozenas befinden könnten.
Artefakte wie Treppen und Steinwege gibt es nicht, soweit wir es überblicken können. Was schließen wir aus diesem Tatbestand? Mittagspause.
Zufällig komme ich Gerald Amurdarjew gegenüber zu sitzen. Gelegenheit, sich ein paar Dinge von der Seele zu fragen:
"Was ich nicht verstehe - du hast doch behauptet, daß das Geröll und die großen Felsen, die locker liegen, nicht von hier sind?"
"Ja," sagt Gerald, "ganz richtig."
"Gilt das auch für diesen schrägen Schacht, den wir eben passiert haben? Da lag ja auch genügend Geröll rum!"
"Ich habe nicht allzugenau drauf geachtet, aber es schien mir so, als ob das auch da der Fall war: Das Material ist nicht von dort gekommen."
"Wie kann das sein?" frage ich, "Wenn diese ganzen Höhlen voll von Material sind, das nicht hier entstanden ist, was für ein Transportmechanismus war denn da am Werk?"
"Keine Ahnung." sagt Gerald.
"Und dann - wir haben ja vor kurzem selbst einen Felssturz ausgelöst. Also ist es möglich, Bruchmaterial an Ort und Stelle zu erzeugen und einfach da liegen zu lassen. - Und wir haben uns eigentlich nicht sehr angestrengt, um das zu tun!"
Gerald sagt darauf nichts.
"Ist es nicht möglich, daß herausgebrochenes Material aus irgendeinem Grunde nur so aussieht, als sei es von ganz woanders her gekommen?"
"Der Rechner hätte die Bruchstellen identifizieren müssen. Das hat er aber nicht getan. Nicht einmal in Einzelfällen!"
"Das weiß ich," sage ich, "aber das beweist nichts. Der Rechner kann die Bruchstellen nur dann identifizieren, wenn klare Herausbrüche erfolgt sind. - Ich erinnere mich an eine Stelle in der Jettenhöhle, die das sehr schön illustriert."
"Ist das diese Höhle da am Harzrand, wo Sie aufgewachsen sind?"
"Ja. Da liegt an einer Stelle ein tonnenschwerer Felsbrocken, der ein bißchen wie ein Schiff aussieht. Und oben an der Decke sieht man genau die Scharte, aus der er herausgebrochen ist. - So etwas kann der Rechner - das meine ich. Wenn aber bei so einem Vorgang noch eine Menge Kleinmaterial mit abbricht, dann kann man überhaupt keine derartige Analyse machen. Und ob das geschieht, das hängt von allen möglichen mechanischen Parametern ab. Kann es nicht so passiert sein?"
"Im Prinzip ja." gibt Gerald zu.
"Ich meine, als Geologe bin ich ja ein blutiger Laie. Mir kommt es nur komisch vor."
"Die Geologen" sagt Gerald, "sind als ganze Berufsgruppe wieder auf den Laienstatus reduziert."
"Das ist wahr," stimme ich zu, "und nicht nur die. Die Paläontologen. Reinhardt, zum Beispiel - er hat es nur noch nicht gemerkt."
Eine Weile stochert Gerald schweigend in seinem Essen herum. "Früher, während des Studiums" sagt er, "habe ich manchmal Tagträume gehabt. Wie würde ich die geologische Wirklichkeit formen, wenn ich darauf Einfluß gehabt hätte. - Ich meine, die Rezepte sind einfach. Schon in der Mitte des Sonnensystems: Man nehme 2 mal 10 hoch 30 Kilogramm Wasserstoff, werfe sie zusammen, und 'puff', schon hat man einen Hauptreihenstern."
"Stimmt," sage ich, "aber der 'puff' dauert ein paar Jahrmillionen."
"Ja. Bei den Planeten ist es ähnlich. 6 mal 10 hoch 24 Kilogramm einer speziellen Gesteinsmischung. Von allem ein bißchen. Man werfe es auf den Haufen, und es formt sich zu einer Kugel. Am Anfang wird es etwas warm dabei, aber dann gehen die geologischen Vorgänge los."
"Nicht nur die geologischen," sage ich, "wenn das Ding in richtiger Entfernung um seinen Hauptreihenstern kreist, auch die biologischen. Wahrscheinlich unvermeidlich."
"Genau," sagt Gerald, "Man braucht diesen Dreck nur auf einen Haufen zu werfen. Man muß ein bißchen allmächtig sein. Aber nicht genial. Nicht die Spur."
"Laß das nicht den Pater hören! - Oder vielleicht doch!"
"Ich bin nicht auf Konfrontation aus. Ich wollte nur sagen, daß ich solche Tagträume hatte. Stell dir vor: Landschaften gestalten! Wilde, bizarre Landschaften - was eben im Rahmen der Naturesetze noch möglich ist."
"Ich weiß schon, wie es weitergeht," sage ich, "Irgendwann, nach dem Studium, hast du dir Rechner leisten können, mit denen du das wenigstens ein bißchen simulieren konntest!"
"Ja." nickt er, "Ein bißchen. Ein ganz kleines bißchen. Und selber in den erzeugten Landschaften rumlaufen, das geht ja nicht."
"Perspektivische Darstellungen ..."
"Ist nicht dasselbe. Landschaften muß man in den Knochen spüren. Einen Berg, den man nicht hinaufgehen kann, das ist kein Berg. - Auch, wenn man ihn selbst gemacht hat."
"Das ist so ähnlich wie Sex," sage ich, "Nur die Bilder im Playboy ansehen ist auf die Dauer etwas unbefriedigend."
"Du hast vielleicht Vergleiche!"
"Wieso?" frage ich zurück, und dämpfe meine Stimme, um unsere Emanzen kommunikationsmäßig auszuschließen, "Eine schöne Frau ist doch auch eine Art Landschaft!"
"Naja." Gerald ißt weiter.
"Jedenfalls kann ich dich verstehen." sage ich dann, "Aber deine Landschaft hast du jetzt. Da draußen ist sie. Und in ihr hin- und hergehen wird uns vielleicht auch noch gelingen. Vielleicht."
"Naja." sagt Gerald wieder.
"Bist du nicht zufrieden?"
"Da ist auch das Gewohnheitstier in einem drin."
"Wieso?"
"Weil alles, was wir in der Geologie je verstanden zu haben glauben, in einem neuen Licht zu sehen ist - wer weiß, was sich jetzt alles als ganz falsch herausstellt."
"Na, nein, alles doch wohl nicht. Errosion wird es noch geben. Schwemmland. Sedimentgesteine. Ergußgesteine."
"Kontinentalplatten?" fragt Gerald, "Die Wegner'schen Theorien? Aufbau des Erdmantels? - Bricht doch alles zusammen! Alles, was wir gelernt haben!"
"Dafür lernen wir etwas neues. Schreiben etwas Wissenschaftsgeschichte. Wenn auch die Geologen das nicht ab und zu täten, dann wäre die Erde heute noch eine Scheibe!"
"Ja. Du hast recht. Ich habe keinen Grund, mich zu beschweren. Eher umgekehrt."
"Hätte ja schlimmer kommen können," sage ich, "Stell dir vor, wir wären dabei, die Hohlwelttheorie zu belegen!"
"Oder daß der Mond aus Schweizer Käse ist! - Nein, Herwig, es gibt Abstufungen der Absurdität!"
"Das hätte man vor einigen Jahren zur Welthöhle auch gesagt. Offiziell sagt man es ja noch immer - mein Buch ist in der Öffentlichkeit immer noch nur ein Abenteuerbuch unter vielen."
Ich muß mich ranhalten, um meinen Magen noch etwas zu füllen, bevor wir weiterfahren. Das ist eben der Nachteil, wenn man beim Essen zuviel redet.
Und auf die Frage nach der Herkunft des Gerölls haben wir auch keine befriedigende Antwort gefunden. Immerhin - Gerald besteht nicht unbedingt auf einen Transportvorgang, der irgendwann einmal stattgefunden haben muß.
Kurz nach 14 Uhr geht es weiter, weil es in dieser Höhle wenig zu untersuchen gibt. Ich weiß, daß, wenn wir nicht wie erwartet vorankommen, wir viele Möglichkeiten haben, alternative Wege auszuprobieren. Von dieser Höhle gibt es mehrere Möglichkeiten, und wenn die alle erschöpft sind, dann können wir den schrägen Geröllspalt und den Schacht bis zur Knochenhöhle zurück - da waren auch noch nicht alle Winkel erforscht.
"Daß diese Felsen überhaupt stabil sind ... Es ist doch wie ein Schweizer Käse durchlöchert!" sage ich zu Gerald, als wir wieder vor unseren Konsolen sitzen.
"Wundert mich gar nicht. Wenn die Welthöhle stabil ist, so, wie Sie sie beschrieben haben - so, wie du sie beschrieben hast - dann sind diese paar Kleinhöhlen nicht so stabilitätsschädigend."
"Wenn wir bereits in einem Material sind, daß dem der Welthöhle entspricht."
"Was wahrscheinlich der Fall ist. Soweit können wir ja nicht mehr von ihr entfernt sein, oder?"
"Nein." Ich mache eine umfassende Geste: "Genaugenommen müßte sie bereits rund um uns herum sein. Ich habe die Topographie der Welthöhle ja als lange, fractal gegliederte Höhlenstränge beschrieben - jedenfalls war das der unmittelbare Eindruck, wo immer man einen größeren Überblick hatte. Dieses Gebiet muß irgendwo zwischen den Höhlensträngen liegen."
"Das denke ich auch."
Cohäuszchen, der die Bildschirme beobachtet, uns aber zugehört hat, mischt sich ein: "Das muß doch zu zusätzlichen Kraftflüssen im Fels führen! - Können wir das nicht messen?"
"Du wirst Wellington kaum zu weiteren seismischen Sprengungen überreden können! - Mich auch nicht."
"Du hast ja nichts zu sagen! - Aber es muß doch auch anders gehen!"
"Glaube ich nicht. Wenn mich mein physikalischer Instinkt nicht täuscht, dann sind diese zusätzlichen Kraftflüsse sehr großräumig und homogen und damit schwer nachzuweisen. Ich kann mich aber irren. Wie ist es damit, Gerald?"
"Mußt du unsere Informatiker fragen!" sagt Gerald, "Die arbeiten doch dauernd mit der seismischen Auswertung!"
Edwin schüttelt den Kopf: "Wir lassen uns bloß auch immer wieder davon überraschen, was das Programm kann und was nicht. - Wir haben es nicht geschrieben!"
"Da hörst du's." sage ich zu Cohäuszchen.
Der Boden unseres Arbeitsraumes neigt sich wieder steil. Wir gewinnen rasch an Tiefe. Die Felswände, die im Scheinwerferlicht der CHARMION vorbeiziehen, sind nach wie vor unauffällig. Die Tiefenanzeige ist es, die aufregend ist. Um 14:40 unterschreiten wir eine Tiefe von 11 Kilometern. Und im Moment geht es rasch weiter in die Tiefe.
"Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber im Moment habe ich keinen Nerv, die Streßanalyse aufzurufen!" sagt Carola.
"Wieso?" frage ich, "Das ist doch Physik. Nach deinen eigenen Aussagen magst du Physik nicht besonders und verstehst deshalb auch nicht alles!"
"Wie macht man sich Kolleginnen gewogen!" sagt Cohäuszchen dazwischen. Carola sagt nichts.
"Okay." sage ich, "Ich sehe nach."
Nur ein kurzer Einblick in die Streßanalyse zeigt, daß die Belastungssituation des Bootes nach wie vor vollständig symmetrisch ist, wenn auch von einer bisher nicht erlebten Größenordnung. "Die Natur wehrt sich mit aller Macht gegen Hohlräume in dieser Tiefe, die einen so geringen Innendruck aufweisen!" sage ich, "Aber wir sind immer noch die Stärkeren."
Was ich nicht artikuliere ist, daß die Streßanalyse des Boote mir auch gezeigt hat, daß die Toleranz gegen mögliche asymmetrische Belastungen des Druckkörpers deutlich gesunken ist. Wir sollten das Boot besser nicht noch einmal zwischen ein paar Felsen festklemmen. Auch, es irgendwo anstoßen zu lassen sollte man jetzt vermeiden.
Das Gespräch versickert eine Zeitlang, weil die Steilheit der Höhle noch um soviel zunimmt, daß man sich beim Stehen irgendwo festhalten muß. Die Höhle macht wendeltreppenartige Windungen, die man mit dem Boot genau auszirkeln muß, und wäre sie nicht wassergefüllt, dann wäre das Klettern auf ihrem Boden sehr gefährlich - es liegt nämlich wieder viel loses Geröll herum.
Um 15:15 flacht die Höhle sich wieder ab, um sich dafür zu teilen. Die Tiefe ist 11700 Meter.
Nach einem Gang zur Toilette im zentralen Niedergang sehe ich mir die Einstiegsluke von nahem an, um rauszukriegen, ob sie irgendwo 'Wasser macht'. Eigentlich ist es extrem unwahrscheinlich, denn die Luken werden von immensen Kräften geschlossen gehalten - auf der Fläche einer Hand drückt das Gewicht von fünf Schwerlastwagen. Und tatsächlich ist der Lukenrand rundherum knochentrocken. Als ob das nächste Wasser kilometerweit entfernt wäre, und nicht nur 20 Zentimeter oder so.
Wieder in unserem Arbeitsraum angekommen wende ich mich per Interkom an Wellington: "Sollten wir nicht beginnen, mit der Aklimatisation an höheren Atmosphärendruck anzufangen? Außerdem würde es das Boot entlasten!"
Wellington sagt, er wird es sich überlegen. Dann wird er sich wahrscheinlich auch überlegen, daß es sich nur lohnt, die gesundheitlichen Risiken der Druckerhöhung einzugehen, wenn wir die Welthöhle tatsächlich erreichen sollten. Außerdem entspricht eine Druckerhöhung auf vier Bar nur der Kompensation einer zusätzlichen Wassertiefe von bloß 30 Metern. Wenn wir innerhalb der CHARMION einen Luftdruck aufbauen wollten, der hoch genug ist, um den Druckkörper wesentlich zu entlasten, dann würden wir das wohl nicht überleben. Das muß man sich immer wieder klarmachen, um sich vorstellen zu können, mit welchen physikalischen Bedingungen man es hier zu tun hat.
Ich hätte auch vorschlagen können, jetzt mit der Synchronisation an den Schlafrhythmus in der Welthöhle zu beginnen, weil dieser im Moment günstig liegt. Aber auch das ist nur sinnvoll, wenn wir tatsächlich dort ankommen.
Den Rest des Tages kreuzen wir ereignislos und gewinnen auch nicht viel mehr an Tiefe. Um 19 Uhr legen wir das Boot in einem überraschend regelmäßigen, schlauchartigen Tunnel von 18 Meter Durchmesser fest. Die Tiefe ist 11850 Meter.
Abends in der Kantine spürt man den Druck. Fast dreifache Werftgarantie. Die meisten sind sich dieser Tatsache bewußt. Und obwohl keiner es erwähnt, spürt man es aus den Gesprächen heraus. Fast würde ich sagen, 'man spürt die Dachbalken knacken', aber diesen Aphorismus hat der Buchheim schon gebraucht.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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