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49. Aufräumen

Der erste Eindruck täuscht nicht. In den nächsten Stunden gehen wir alle Aufzeichnungen, die in den wenigen Sekunden des Höhlendeckeneinsturzes gemacht wurden, durch. Und es wird deutlich: Das Boot ist seiner eigenen Venichtung nur um Haaresbreite entkommen. Ganz besonders erstaunlich ist, daß die Vortriebsmaschinen genau in dem Zeitpunkt ihre maximale Leistung entwickelt hatten, als die einklammernden Felsen von den ersten Teilen der Höhlendecke getroffen wurden, daß diese Felsen dann nach außen gedrückt wurden und nicht nach innen, und daß dieses gerade ausreichte, daß Boot mit seiner eigenen Kraft sich zurückziehen zu lassen.

Mindestens ebenso ein erstaunlicher Zufall ist es, daß das Boot zum Zurücksetzen um seine eigene Länge gerade soviel Zeit brauchte wie die Trümmer der Höhlendecke vom ersten Kontakt mit den einklammernden Felsen bis zur Position des Bootes. Die optischen Aufnahmen zeigen Felsen, die nur zwei Meter vom Bug entfernt niedergehen. Eher weniger.

Schuld an dieser Verzögerung ist eine große Felsplatte, die sich nach dem ersten Kontakt mit dem Felsen über dem Boot drehen muß. Dabei zerbricht sie, und die Trümmer fallen schneller. Aber die Zeit hat dem Boot gereicht.

Und dann erst ist ein Unglück durch das Eingreifen eines Besatzungsmitgliedes vermieden worden: Hätte sich das Boot weiter auf seiner Symmetrieachse nach hinten bewegt, dann hätte es mit nicht unerheblicher Geschwindigkeit die Höhlenwand oder die Höhlendecke gerammt. Amerlingen hat das Boot aber virtuos auf ebenen Kiel gesteuert und wieder zum Stillstand gebracht - nur wenige Dutzend Meter vom Höhlensturz entfernt.

Da steht das Boot jetzt noch, und wir wundern uns, daß wir noch am Leben sind. Wir sind 184 Stunden eingeklammert gewesen. Und vielleicht hätte es ohne den Höhlensturz gar keine Möglichkeit gegeben, uns aus dieser Lage zu befreien.

Von den zwei Dronen, die die Explosion der seismischen Torpedos beobachten sollten, hat es eine erwischt. Man müßte einen Stollen in den Felshaufen sprengen, um ihre Reste wiederzufinden. Sie hat noch in der Sekunde ihrer eigenen Vernichtung Bilder übertragen, die aber nur die stürzenden Felsen zeigen, die sich plötzlich ins Bild schieben. Dann, während der Übertragung eines Bildes, bleibt das Sendesignal plötzlich aus.

Die andere Drone, die aus größerer Entfernung gleichzeitig die Explosion unter dem Sonnenstein, den einklammernden Felsen und das Boot beobachten sollte, konnten wir wieder unbeschädigt an Bord nehmen. Die Bilder, die sie übertragen hat, sind atemberaubend.

Tatsächlich war es so, daß der Felssturz durch die Außenscheinwerfer der CHARMION optimal ausgeleuchtet wurde. Man sieht auf den Bildern die herabtorkelnden Felsen, den ersten Kontakt dieser Felsen mit dem einklammernden Felsen und den Rückzug des Bootes. Für lange Sekunden sieht es aus dem Blickwinkel der Drone so aus, als könne sich das Boot nicht rechtzeitig vor dem Felssturz in Sicherheit bringen. Dann aber wird auch Amerlingens virtuoses Manöver auf das allerdeutlichste dokumentiert.

Wenn uns der Felsen erwischt hätte, denke ich, dann wäre die Drone wohl davongekommen. Aber ohne Steuerung wäre sie an Ort und Stelle geblieben, bis ihre Batterien verbraucht gewesen wären. Die Bilder, die sie übertragen hätte, hätte nie jemand zu sehen bekommen, weil sie von der Drone selbst nicht aufgezeichnet werden. Abgesehen davon, daß wohl nie jemand diesen Ort aufgesucht hätte.

Nachdem der Vorgang selber von allen aus allen möglichen Blickwinkeln angesehen und diskutiert worden ist, gibt es eine Reihe von Aktivitäten, die nun parallel von der Besatzung verfolgt werden.

Die Überprüfung des Schiffes in allen seinen Funktionen, nochmal die Untersuchung der Außenhülle mit einer ausgeschleusten Drone. Wellington möchte jeden Kratzer kennen.

Dann muß der Felssturz noch einmal aus allen Blickwinkeln photographiert werden. Von der Kultstätte mit dem Sonnenstein ist nichts mehr übrig - das war natürlich bei diesem Vorgang zu erwarten. Jeder Quadratzentimeter der Höhle wird von den Kamera-Augen der Drone inspiziert und die Bilder werden in den Speichern des Schiffes für alle Zeiten konserviert.

Im vorderen Unterdeck gibt es eine Warteschlange vor den Waschmaschinen, die jetzt wieder benutzt werden können - da möchten natürlich alle Besatzungsmitglieder so schnell wie möglich jede Spur der durchgehenden Salzwassertränkung der Kabinen beseitigen.

Und, wichtig genug, die Regelzellensteuerung muß wieder in Ordnung gebracht werden, damit das Boot wieder voll manöverierfähig ist. Wir wollen nicht noch einmal einen Wassereinbruch dort haben.

Allerdings ist dieses Vorhaben nur teilweise von Erfolg gekrönt. Carola findet Treiberprogramme, die temporär durch andere ersetzt gewesen sein müssen. "Unser großer Unbekannte hat die Spuren seines Tuns schon wieder beseitigt!" sagt sie, "Und er hat es verdammt geschickt gemacht."

Das nächste Problem ist die gelöschte Datenbasis für die Navigation. Sie muß unverzüglich wieder neu initialisiert werden. Dann werden wir präzise Navigation in einem Koordinatensystem machen können, dessen Lage nicht ganz so präzise bekannt ist. Das wird uns allerdings in der nächsten Zeit nur bedingt stören, sagt Amerlingen. Vorausgesetzt, wir machen weiter wie geplant.

Das allerdings werden wir tun. Von Umkehren redet niemand - dem stehen sowieso einige Probleme entgegen. Die Weiterfahrt wird für den nächsten Tag um 9:30 Uhr angesetzt.

An diesem Nachmittag und am Abend kann die Kantine endlich wieder normal genutzt werden - dank der hervorragenden Bemühungen unserer Nautischen sind von dem Wassereinbruch keine Spuren mehr zurückgeblieben. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, wie Natalie und ich mit unserem sogenannten Saubermachen die Kantine in einen schwimmenden Schweinestall verwandelt haben, kommt mir das doch etwas kindisch vor. Aber man hat wohl keinen echten Anspruch darauf, eine gewisse Zeitspanne seines eigenen Lebens hinter sich zu bringen, ohne etwas Peinliches zu machen. In keinem Alter. Es nimmt auch niemand mehr Bezug darauf, also war es doch ein unwichtigeres Ereignis in der Geschichte der Expedition. Nach dem, was jetzt passiert ist, sowieso. Wenn wir je wieder zurückkommen, dann wird es gewisse Erlebnisse geben, die die Besatzungsmitglieder noch ihren Enkeln erzählen werden. Meine erste Nachtwache mit Natalie, zum Beispiel, und deren spektakuläre Folgen. Die Kantinenpanscherei vielleicht nicht. Eher schon wieder den nächtlichen Wasserguß über Natalie und mich.

Woran aber einige sich genau erinnern ist, daß zu anderen Gelegenheiten ganz plötzlich Alkohol aufgetaucht ist. Wenn nicht jetzt, wann ist denn dann etwas zu feiern? Besonders Aldingborg und Kufferath drängen darauf. Dann erklärt Amerlingen aber, daß niemand mit einer so dichten Folge von bewältigten, gefährlichen Situationen gerechnet habe und daß man deshalb die restlichen Alkoholvorräte einteilen müsse. Wenn es welche gäbe. Es gibt natürlich keine mehr. Niemand glaubt ihm. Amerlingen stellt klar, daß die nächste Gelegenheit das Erreichen der Welthöhle selbst sei. Jedenfalls sei das die Meinung des Alten, und damit basta. Kufferath gibt sich zufrieden, ebenso Aldingborg, der aber besonders deshalb, weil er um 16 Uhr seine Wache antreten muß - er hätte also sowieso nüchtern bleiben müssen.

Trotz des fehlenden Alkohols ist die Stimmung in der Kantine gut, und was vielleicht noch merkwürdiger ist - trotz der unbestreitbaren Tatsache, daß unter uns ein Verräter sitzt. Mir wird rasch der Mechanismus klar: Die Besatzungsmitglieder sitzen in Cliquen zusammen und vermuten jeweils, daß jemand außerhalb dieser Clique der große Unbekannte ist. Bei den Nautischen hat man mehrheitlich einen der Wissenschaftliche in Verdacht, und umgekehrt.

"Jetzt kann eigentlich nicht mehr viel passieren," sagt Cohäuszchen, zu vorgerückter Stunde, "wir erreichen die Welthöhle, und dann kommen wir hinein - oder nicht."

"Ach Günther," meldet sich Solzbach ganz unerwartet zu Wort, während er sich ausgiebig seinen Bart kratzt, "du bist ja nur auf die Granitbeißerinnen scharf. Aber die werden schon einen Mann aus dir machen, sei getrost!"

Schwaches Lachen. "Stellt euch das bloß nicht in irgendeiner Form amüsant vor!" sage ich, "Da sind ganz fiese Charaktere drunter."

"Wieso? Du hast dich doch mit deiner Charmion auch ganz gut vertragen?" Solzbach scheint seit unserem letzten Abenteuer lebhafter geworden zu sein. Ob die Lebensgefahr jemanden tatsächlich so aus - berechtigten - Depressionen rausreissen kann?

"Laß Charmion aus dem Spiel." sage ich.

"Er hat jetzt doch eine andere!" erklärt Cohäuszchen, "Obwohl - in letzter Zeit seid ihr ja irgendwie nicht gut aufeinander zu sprechen, oder?"

Natalie sagt nichts. Aber ich: "Hast du aber gut beobachtet. Habe ich in der Pubertät auch gemacht. Wir hatten damals ein Spiel, das hieß 'Liebespaare beobachten'. Das haben wir immer im Sommer in der Nähe von Campingplätzen gespielt. Wir schlichen uns an und ..."

"Ja und?" fragt Solzbach, "Habt ihr's rausgekriegt?"

"Was?"

"Was die da treiben?"

"Wir haben uns redlich bemüht!"

"Ah." Solzbach ist zufrieden.

"Habt ihr so etwas als Kinder nicht gemacht?"

"Hat mich wenig interessiert." meint Cohäuszchen.

"Das glaube ich nicht. Das interessiert in dem Alter jeden. - Oder interessiert es dich erst in deinem jetzigen Alter?"

Auf das letzte geht Cohäuszchen nicht ein: "Eigentlich war es doch immer klar, daß die Erwachsenen irgendwie anders, aber untereinander gleich sind. Das habe ich damals so gesehen. Und es hat mich nicht interessiert."

"Naja, in den Jahren, wo du aufgewachsen bist, war Sex ja auch noch eine Erfindung von 'Bravo', nicht?"

"So'n Scheiß habe ich nie gelesen."

"Woher weißt du denn dann, daß es Scheiß ist?" fragt Kufferath.

"Tja, woher weißt du das?" insistiert auch Solzbach. Cohäuszchen ist rhetorisch in der Enge.

"Naja," komme ich ihm zur Hilfe, "Das war allgemein bekannt, daß gewisse Blätter absoluten Schwachsinn enthielten. Das war auch leicht zu erkennen, schon in den ersten Seiten. Manchmal muß man aber länger überlegen, ob etwas wertvoller Lesestoff ist oder nicht. Viele Leser kommen dann zum falschen Schluß, und von denen kriegt man dann ganz böse Leserbriefe."

"Aha," sagt Solzbach, "du bist auch schon von Literaturkritik geschädigt!"

"Das kann man nicht vermeiden, wenn man etwas schreibt. - Ich wußte ja lange nicht, daß ich bei der EG meine Fans habe, die mir jedes Wort geglaubt haben! - Aber im Ernst, es ist schwer. Ich habe da, kurz nachdem wir die Welthöhle wieder verlassen hatten, ein merkwürdiges Buch in die Hand gekriegt, das einige Jahre zuvor erschienen war. 'Ein Mann im Haus', von einer gewissen Ulla Hahn. Kurz nach diesem Erlebnis war mir eigentlich noch nicht zum Lesen zumute, aber dieses Buch fing gleich mit ziemlich bluttriefenden Phantasien einer Frau an, und dann habe ich es eben mal durchgelesen. Da wird von einer merkwürdigen, gewaltsamen Zweierbeziehung geschrieben, und einige Zeit bildete ich mir ein, ich könne im nachherein noch etwas über die Psyche der Granitbeißerinnen - oder die der Frauen allgemein - lernen. Aber diese Form von Gewalt in diesem Buch war ganz anders. Ich glaube, es hat nichts gebracht. Entweder, man kann dort nur etwas über die Psyche der Autorin lernen, oder, wenn das, was die so schreibt, im Unterbewußtsein vieler Frauen latent verborgen ist, dann ist die Frau einfach die paranoide Erscheinungsform des Mannes. Eine Subspezies, gewissermaßen. - Naja, dann hat die Bibel eben doch recht."

Aus verschiedenen Richtungen kommt ein protestierendes Räuspern. Klar, daß das mit der Redefreiheit schwierig ist, wenn man Frauen an Bord hat!

"Über die Psyche der Frauen kann man nichts lernen." sagt Cohäuszchen, "Das ist ganz prinzipiell unmöglich! Was steht denn so drin, in diesem Buch?"

"Wir haben es sicher in unserem Computer. Ließ es nach - es ist nicht lang! Aber mit den Granitbeißerinnen hat es nichts, überhaupt nichts zu tun."

"Mit wem könnte man die Granitbeißerinnen denn sonst vergleichen?"

"Weiß ich nicht," sage ich, "fällt mir im Moment nichts dazu ein. Aber diese Frau aus dem Buch könne man mit jemandem vergleichen. Nämlich mit unserer großen Unbekannten - wenn es eine Frau ist."

"Ich lese es." sagt Cohäuszchen, "Ich lese es sofort."

Das Gespräch erstarrt wieder. Ich habe eine falsche Bemerkung gemacht. Jede konkretere Bemerkung darüber, wer der große Unbekannte sein könnte, vergiftet die Atmosphäre.

Ich sollte besser auf das achten, was ich sage. Versuchen wir mal, das Thema zu wechseln:

"Ich habe dieses Buch damit aber nicht als empfehlenswert vorgeschlagen. Nicht, daß mir das später jemand vorhält."

"Was würdest du denn als empfehlenswert vorschlagen?" fragt Solzbach.

"Ist doch klar. 'Die Granitbeißerinnen', von einer gewissen - äh ..." wirft Kufferath ein und erntet damit nur einen schwachen Lacher.

"Vielleicht mal ein Fachbuch." schlägt Amerlingen vor, "Nehmen Sie sich an Aldingborg ein Beispiel. Der hat sich schon ganz hervorragend in die Informatik eingearbeitet."

"Dann könnte er uns eigentlich etwas mehr zur Hand gehen." sagt Carola.

"Er hat sein Aufgabengebiet. Bloß, weil sich jemand in seiner Freizeit Qualifikationen erarbeitet, muß man ihm nicht gleich mehr Arbeit aufbürden."

"Ist er am Ende der ..." fängt Carola an.

"Nun denken Sie doch einmal nach, verehrte Kollegin!" fällt Kufferath ihr ins Wort, "Würde er uns dann etwas über seine Interessen wissen lassen? - Sie sind ja auch mit einem Abenteurer befreundet, und trotzdem unterstellt Ihnen niemand ..."

"Gutgut," sage ich, "reicht. Pointe angekommen und gewürdigt. - Ich und ein Abenteurer - lachhaft!"

"Ich und mit Herwig befreundet? - Lachhaft." echot Carola, "Unser Verhältnis ist rein kollegial!"

"Hört, was sie sagt!" sage ich, "'kollegial'! Nicht: 'herzlich'! Aber ihr Name ist Programm: Unter einer rauhen Schale steckt ein ..."

"Ja?" fragt Carola.

"... absolut ungenießbarer Kern!" ende ich. Sie zischt mißbilligend.

"Ich wollte nichts unterstellen!" sagt Kufferath, "Aber Tatsache ist: So kriegen wir nicht heraus, wer der große Unbekannte ist."

"Wie dann?" frage ich, aber darauf bleibt er die Antwort schuldig.

Eine Weile klang droht das Gespräch schon wieder unersprießlich zu werden, weil es wieder Verdächtigungen in jeder Richtung gibt.

"Ihr braucht euch gar nicht anzustrengen," sage ich, "unser Freund ist so geschickt - der hat jeden Hinweis auf sich selbst sorgfältig verschleiert. Da hilft uns nur ein Zufall weiter."

"Haben Sie denn keine Ausbildung in Psychiatrie?" wendet Cohäuszchen sich an Doktor Morton, die sich kaum am allgemeinen Gespräch beteiligt und leise mit Vivian Grail gesprochen hat, "Könnten Sie nicht alle Besatzungsmitglieder analysieren und uns Hinweise geben?"

Mary Morton ist sichtbar unwillig, sich über dieses oder ein anderes Thema vor der Allgemeinheit auszulassen: "Diese Art der sogenannten Verrücktheit ist nicht Gegenstand der Medizin."

"Wieso? Wenn jemand alle anderen umbringen will und den eigenen Tod dabei in Kauf nimmt, ist das nicht verrückt?"

"Wir kennen die Motive nicht. Vielleicht sind sie gut nachvollziehbar, auch wenn man sie nicht billigen kann."

"Und wenn Motive nachvollziehbar sind, dann ist das nicht verrückt?"

"Nein."

"Was ist dann verrückt?"

"Jedenfalls nicht das, was nur einem unüblichen, verqueren Weltbild entspringt. Der Psychiater spricht dann von Paranoia. Das ist vielleicht im umgangssprachlichen Sinne verrückt. Nicht unbedingt für den Psychiater."

Sie überlegt einen Moment. Dann fährt sie fort: "Ich will Ihnen ein Beispiel von einer Art weit verbreiteter Verrücktheit, einer solchen Paranoia geben. Sie können viele Menschen finden, die tatsächlich der Meinung sind, die Erde wäre eine Kugel."

Cohäuszchen macht den Mund auf und wieder zu. Ihm fällt im Moment nichts ein. Dafür wirft Kufferath ein: "Wieso? Das ist sie doch auch!"

Dorktor Morton fährt fort, ohne direkt zu antworten: "Menschen, die tatsächlich allen Ernstes glauben, daß die Erde eine Kugel sei. Wo doch der Augenschein das genaue Gegenteil lehrt."

"Aber die Erde IST doch eine Kugel!" wiederholt Kufferath, und Cohäuszchen: "Würde ich auch sagen."

"Laßt sie doch mal ausreden!" sage ich.

"Diese Menschen," fährt Doktor Morton fort, "sind im allgemeinen in der Lage, ihre Ansicht genauestens zu begründen - die einen mehr, die anderen weniger. Das hängt vom Grad der Allgemeinbildung und von vorhandenem Fachwissen ab. Sie werden mit Argumenten aus der Geographie, aus der Physik und der Geophysik, aus der Astronomie kommen, sie werden historische und literarische Hinweise geben und zahllose Quellen zitieren. Sie werden Experimente angeben, die jeder ausführen kann, echte Experimente und Gedankenexperimente. Sie werden zeigen, daß ihre Meinung mit dem gesamten wissenschaftlichen Lehrgebäude der Menschheit konsistent ist. Sie werden auf alles eine Antwort haben. Sie werden einen solchen Menschen nicht davon überzeugen können, daß die Erde in Wirklichkeit eine Scheibe ist. - Oder etwas ganz anderes!"

"Sind wir jetzt verrückt?" fragt Günther, und dann hellt sich sein Gesicht auf: "Jetzt verstehe ich: Wir WÄREN mit dieser Ansicht verrückt, wenn die Erde tatsächlich eine Scheibe wäre!"

"Ob die Erde eine Scheibe ist, oder eine Kugel, ist dabei völlig unerheblich. Die Paranoia, der Wahn, die Vorstellung, daß die Erde eine Kugel sei, ist in unserer Gesellschaft sehr nützlich, weil ..."

"... weil sie tatsächlich eine ist!" sagt Cohäuszchen.

"Nein. Sondern weil Sie sich mit dieser Ansicht auf Seiten der Mehrheit befinden!"

Allmählich verstehe ich, worauf sie hinauswill. So fremd sind mir diese Gedankengänge nicht: "Stell dir mal vor, Günther," sage ich, "Du hättest diese Ansicht, daß die Erde eine Kugel ist, im Hochmittelalter vertreten! Gerade du!"

"Ich stelle es mir gerade vor!" grinst Kufferath.

"Jedenfalls hätten sie damals deine Verrücktheit wesentlich besser als solche diagnostiziert als heute! Wahrscheinlich hätten sie dich 'zur höheren Ehre Gottes' verbrannt!"

Rasch werfe ich einen Seitenblick auf Pater Palmer, ob er an dieser Bemerkung Anstoß nimmt. Das scheint aber nicht der Fall zu sein, oder er hat gerade nicht hingehört. - Schade.

"Also wird Verrücktheit - diese Art der Verrücktheit - durch die Mehrheitsverhältnisse definiert?" fragt Cohäuszchen.

"Mehr dadurch, ob Sie in der Lage sind, mit ihren 'verrückten Ansichten' das Leben zu meistern. - Wenn Sie im Mittelalter gewußt hätten, daß die Erde eine Kugel ist, und das weise verschwiegen hätten ..."

"Das kann der Günther nicht!" sagt Kufferath.

"Wenn Sie es weise verschwiegen hätten, dann würde niemand sie als verrückt bezeichnen. - Nun gibt es aber auch Fälle, wo diese Paranoinen durch echte, hirnorganische Vorgänge erleichtert oder erst ermöglicht werden."

"Ich glaube, das wird jetzt ein endloses Thema, wenn wir anfangen, die Klassifikationen der Schizophrenien durchzugehen, Doktor," mische ich mich wieder ein, "Bringen wir es mal mit einer hypothetischen Frage auf den Punkt: Wenn unser großer Unbekannte für einen Psychiater behandlungsbedürftig wäre - ich will das Wort 'verrückt' auch gerne vermeiden, - Wie sähe das denn aus? Welches psychiatrisches Krankheitsbild wäre denn mit dem bisher geschehenen konsistent?"

"Zunächst einmal," sagt Doktor Morten mit einem feinen Lächeln, "die ganz gewöhnliche zerebrale Insuffizienz, die zu umfassenden kognitiven Defekten führt. Der Handelnde vermag nicht zu erkennen, daß seine Handlungen nicht zielgerichtet sind und einen unerwünschten Nebeneffekt haben, nämlich seinen eigenen Tod."

"Zerebrale Insuffizienz - Kognitive Deffekte - kann man das auch in Englisch sagen?" fragt Cohäuszchen interessiert.

"Ja. Es handelt sich um die Dummheit."

Es gibt eine Lachsalve, und Cohäuszchen ist sich nicht sicher, ob sie ihm gilt.

"Allerdings," fährt Doktor Morton fort, "allerdings ist hier niemand an Bord, der daran leidet. Das war ja schließlich ein Auswahlkriterium."

"Niemand hat uns einem Intelligenztest unterworfen, bevor wir hierhergekommen sind." wirft Ulrich Solzbach ein.

"Doch. Die Stellung, die Ausbildung, die Sie qualifizierte, an dieser Expedition teilzunehmen, mußten Sie ja erst einmal erreichen. Ihr ganzes bisheriges Leben war ein Intelligenztest. Gewissermaßen."

"Schön, wenn einem das einmal von kompetenter Seite versichert wird," sagt Kufferath, "Hast du gehört, Günther? Das gilt sogar für dich!"

"Es gibt andere Deffekte, die zu nicht nachvollziehbarem Handeln führen." hebt Morton wieder an. Sie will offenbar länger erklären, und die meisten merken das. Es wird wieder etwas stiller.

"Stellen Sie sich zum Beispiel vor, daß etwas mit Ihrer Schmerzwahrnehmung nicht stimmt. Sie empfinden Schmerzen nicht in dem üblichen Maße als unangenehm. Ein bißchen vielleicht noch, aber immer erträglich. Solche Zustände kann man leicht vorübergehend mit Drogen hervorrufen - bei jedem Menschen. Ist das vorstellbar? - Gut. Nun stellen Sie sich vor, jemand wächst so auf. Seine ganze Lebenszeit lang lernt der nie Schmerz kennen, und nie die Angst davor. Dessen ganzes Verhältnis zur physischen Welt ist anders als bei uns. Dessen Verhältnis zum eigenen Körper ist anders. So jemand kann eher bereit sein, Körperverletzungen zu riskieren, um irgend etwas zu erreichen. So jemand kann aus diesem Grunde auch ein anderes Verhältnis zum eigenen Tod haben."

"Meinen Sie, daß es sowas ist?" frag Cohäuszchen.

"Das war nur ein Beispiel von vielen. Um die Möglichkeiten zu illustrieren. Eine nur leichte Verschiebung in der Wahrnehmung der subjektiven Grundentitäten der Welt - Angst vor Schmerzen, Hitze, Kälte, Vermeidung von Hunger, Sexualität - eine ganz leichte Verschiebung dieser Dinge, die die wahrgenommene Welt für einen Menschen sichtbar färben, können einen Menschen völlig verändern."

"Hervorragend ausgedrückt. Könnte ich nicht besser sagen!" sage ich.

"Homberg, halt den Mund! Was verstehst du denn davon?" sagt Kufferath.

"Hast du's in seinem Buch nicht gelesen?" fragt Solzbach ihn, "Er hat irgendwann einmal einen Artikel über Neuronale Netze gelesen. Seitdem glaubt er, er kennt sich in Psychiatrie aus!"

Jetzt könnte ich eigentlich eingeschnappt sein. Ich versuche es so: "Würdet ihr vielleicht Frau Doktor ausreden lassen?"

"Ich habe eigentlich schon das wesentlichste gesagt." nickt Mary Morton, "Die ganze Psychiatrie ist eine Variation über dieses Thema."

"Wie entsteht denn so eine Wahrnehmungsverschiebung?" fragt Natalie.

"Da gibt es viele Möglichkeiten," sage ich, "zum Beispiel ein Tumor im ..."

"Homberg, die Kollegin Yay hat doch Frau Doktor Morton gefragt, und nicht dich!"

"Okay. Ich sage kein Wort mehr." Jetzt bin ich eingeschnappt.

"Er hat recht. Tumor im Limbischen System. Stoffwechseländerungen, die das Funktionieren der einzelnen Neuronen beeinflußen. Drogen. Vergiftungen. Alkohol natürlich."

"Alkohol natürlich!" sagt Solzbach zu Kufferath, "Da hörst du's, Erny!"

"Sei still!" muffelt der zurück. Doktor Morton fährt fort: "Dann, die starke Prägung unüblicher Muster im Cortex, bedingt durch traumatisch erlebte Erfahrungen, vorzugsweise in früher Kindheit."

"Im Erwachsenen-Alter nicht mehr?" fragt Kufferath.

"Schwerer. Die Strukturen in einem erwachsenen Gehirn sind schon sehr festgefahren. Im Guten wie im Bösen."

"Die Begriffe 'gut' und 'böse' haben in der Psychiatrie doch eigentlich nichts zu suchen?" frage ich.

"Homberg, sei still! Da, setz dich dahin. Spiel mit den Brüsten deiner Freundin!" sagt Solzbach mit ungewohnter Aggressivität. Danach hält er einen Moment lang inne, als ob er selber durch seine gewagte Wortwahl überrascht worden wäre.

Mir bleibt einen Moment lang die Luft weg, jedenfalls zu lange für eine schlagfertige Antwort. Natalie steht empört auf und verläßt die Kantine. Ich sehe hinter ihr her, aber sie sieht mich nicht an.

"Wenn ihr schon jemanden runtermachen müßt, warum dann Unbeteiligte?" frage ich vorwurfsvoll.

Doktor Morton sieht von einem zum anderen. "Dann gibt es noch das weitverbreitete Problem der Infantilität."

Einige verstehen es. Ich stehe auf: "Ich habe für heute genug. Wir sehen uns morgen."

Natürlich schläft Natalie heute bei sich. Das wäre aber sowieso so gewesen und hat kaum etwas mit der Bemerkung von eben zu tun. Ist ja auch gut so. Wieder horizontal schlafen! Das versöhnt einen sogar mit dem beengten Platz in der Koje.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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