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48. Und wie der Berg kommt
Dienstag, der 26. Januar 1999. Der 13. Expeditionstag nach offizieller Zählung. Die Besatzung ist früh auf den Beinen. Schon kurz nach acht werden zwei Kameraträger und ein scharfes, seismisches Torpedo ausgeschleust. Jeder, der nichts anderes zu tun hat, hockt an einer Konsole. Besonders von der nautischen Besatzung weiß aber auch jeder, wo er zugreifen muß, wenn irgend etwas am Schiff beschädigt werden sollte. Was sehr unwahrscheinlich ist - wahrscheinlich werden wir von der Explosion kaum etwas hören.
Ich bin im vorderen Oberdeck und beobachte auf meiner Konsole, wie die Bombe vorsichtig unter den Sonnenstein dirrigiert wird. Mit halbem Ohr höre ich über das Interkom die Diskussion aus der Zentrale - man ist sich noch nicht einig, wo die beiden Kameraträger positioniert werden sollen. Die sollten ja eigentlich auch unbeschädigt bleiben, und deshalb ist es nicht möglich, aus nächster Nähe seitlich unter den Sonnenstein zu sehen, wenn die Bombe hochgeht, wenn man nicht eine der Dronen opfern will.
Schließlich entscheidet man sich dafür, den einen Kameraträger etwa 15 Meter vom Felsen entfernt in fünf Metern Höhe zu positionieren, und der andere entfernt sich soweit, daß Explosionsort, der große Felsen und der größte Teil des Bootes gleichzeitig ins Bild kommen. Die Außenscheinwerfer der CHARMION werden so gerichtet, daß eine möglichst gute, gleichmäßige und indirekte Ausleuchtung der Szenerie erreicht wird: Der Kameraträger soll nicht direkt geblendet, aber es soll möglichst viel Licht erzeugt werden. Es werden auch Scheinwerfer nach oben gerichtet.
Als alles bereit ist, haben wir nur noch wenige Minuten bis 9 Uhr. Echolot- und Radarmessungen laufen dauernd, um jede Veränderung in der Umgebung zu erfassen. Das Streßanalyseprogramm überwacht die mechanische Bootsbelastung laufend. Das Boot ist, bis auf seine eingeklemmte Lage, voll funktionsfähig, und wir werden dafür sorgen, daß das so bleibt.
Als der SISC genau 9 Uhr anzeigt, passiert wenig. Wie zu erwarten ist die teilweise abgeschirmte Explosion kaum zu hören, und im Moment trage ich keine Kopfhörer, um die Signale der Außenmikrophone zu verfolgen. Ein gedämpfter, dumpfer Schlag, das ist alles. Ein fahler Lichtblitz auf den Übertragungen der Dronen, ein schemenhafter Schein rechts und links vom Sonnenstein.
Der Sonnenstein kippt nicht.
Während von der Zentrale aus die Dronen wieder zum Explosionsort gesteuert werden - beide sind unbeschädigt - kümmern wir uns hier um die Auswertungen der Streßanalyse und der Echomessungen.
Schnell steht fest: Die klammernde Kraft auf das Boot hat sich nicht im geringsten verändert. Bei den Echolotmessungen gibt es Änderungen, aber was diese bedeuten, muß man erst rauskriegen. Irgendwelche Steine sind umpositioniert worden, wenn auch nicht der Sonnenstein. Und schon gar nicht der große Felsen.
Dann haben wir den Fuß des Sonnensteines wieder groß im Bild. Wenn wir es nicht wüßten, würde es auf den ersten Blick nicht auffallen, daß dort eben eine Explosion stattgefunden hat, die einen Menschen in einigen Metern Umkreis auf der Stelle getötet hätte. Amurdarjew erläutert, daß einige heller gefärbte Flecken von abgeschehrtem Material zeugen, und in der Tat, wenn man diese Aufnahmen mit Aufnahmen vor der Explosion vergleicht, dann sieht man es deutlich.
Wenig Resultate. Und dann teilt uns Carola noch mit, daß die Rechnerauslastung vom Zeitpunkt der Explosion an für etwa eine halbe Minute steil angestiegen ist, und zwar nicht aus Gründen der laufenden Auswerte-Programme, die wir ja alle selbst veranlaßt haben.
"Also deine Phantomprozesse haben auf die Explosion reagiert?" frage ich.
"Ja. Sieht so aus. - Und ich habe nicht die mindeste Ahnung, warum!"
Wellington meldet sich: "Hat der Sonnenstein wenigstens abgehoben, Herr Daum?"
"Können wir nicht sagen," sagt Carola stellvertretend, weil Edwin gerade wieder viel zu tun hat, "Zu viele Signale gleichzeitig."
"Und was ist mit dem - nanu! Waren Sie das?"
Wir sehen, was er meint: Auf unseren Bildschirmen taucht eine Meldungsbox auf. Auf allen Bildschirmen:
SUPERVISOR CRASH PRIORITY MESSAGE: ADVISE IMMEDIATE WITHDRAWAL FROM CURRENT POSITION SUPERVISOR UNABLE TO MANOVER
"Oh," sage ich, "Ist das eines von den laufenden Anwenderprogrammen?"
"Nein," sagt Edwin, "die kenne ich inzwischen gut genug."
"Mmh. Klingt wie eine Warnung, nicht?"
"Würden Sie mir vielleicht antworten! Haben Sie diese Message auf den Bildschirmen ausgegeben?" fragt Wellington ungeduldig nach.
Ich informiere ihn stellvertretend, daß dem nicht so ist. "Wir wissen im Moment noch nicht, welche Systemkomponente dafür verantwortlich ist." schließe ich.
"Immerhin," sagt Carola, "welcher Systemteil auch immer dafür veantwortlich sein mag, er weiß ganz genau, daß das Boot sich nicht bewegen kann."
"Trotzdem ist dieser Teil des Systems der Meinung, daß wir uns jetzt bewegen sollten - gerade jetzt! - Warum?"
"Vielleicht hat es sich erschreckt, bei dem Knall!"
"Im Ernst, jetzt."
"Ich meine es im Ernst. Es muß mit der Explosion zusammenhängen."
"Die hat doch gar nichts gebracht!" sagt Edwin.
"Bist du sicher? Wir haben noch nicht zu Ende ausgewertet!" erwidert Carola.
"Dann tut das doch mal." schlage ich vor.
Jetzt meldet sich Amerlingen über das Interkom: "Wir probierens nochmal - wahrscheinlich sind wir um 10 Uhr soweit. Haltet euch bereit!"
"Na, ob das was nützt." sage ich, und laut über's Interkom: "Verstanden. Nächster Knall um zehn. Sollen wir uns melden, wenn wir bis dahin etwas herausfinden?"
"Das wäre ganz reizend!" sagt Amerlingen's Stimme.
Wir teilen uns die Arbeit. Ich gehe die Ausgaben des Streßanalyseprogrammes genau durch, während die anderen sich mit der Umgebung beschäftigen. Das war eine günstige Arbeitsverteilung, denn ich bin sehr schnell fertig: Die mechanische Belastung des Bootes hat sich nicht geändert, weil die klammernde Kraft sich nicht geändert hat, und die Reste der Druckwelle, die das Boot erreicht haben, haben nichts schädliches bewirkt.
In unregelmäßigen Abständen taucht die Meldungsbox, die uns einen schnellen Rückzug aus dieser Position nahelegt, erneut auf. Wir würden es ja gerne tun, denke ich, wenn wir könnten.
So um halb zehn stellen Edwin und Amurdarjew fest, daß sich draußen auch wirklich nichts geändert hat, was für uns irgendeinen Nutzen bringt. "Wir machen vor der nächsten Explosion noch einmal eine aufintegrierende Echolotmessung der gesamten Umgebung." sagt Edwin, "Wenn sich irgendetwas ändert - wir finden es!"
Dann streiten sich Gerald und Edwin darum, ob nur die Felsen an unserer Steuerbordseite angemessen werden sollen, oder die gesamte, durch Echolot und Radar erreichbare Umgebung. "Macht alles," versuche, ich zu vermitteln, "Wir haben genug Rechenkapazität dafür." Also wird alles vermessen: Rechts und links, oben und unten, hinten und vorne.
Während die Minuten verstreichen, sehen wir auf verschiedenen Bildschirmen, wie sich die schleierartigen Felsformen zunehmend konkretisieren. Gleichzeitig versucht der Rechner, diese Informationen mit allen Informationen, die er schon kennt, zur Deckung zu bringen.
Ich denke daran, daß wir allmählich zahlose verschiedene Modelle der Umgebung außerhalb des Bootes haben. Durch jede der stereoskopischn Korrekturen wird ein neues erzeugt, durch jede Explosion und durch jede spontane Bewegung im Geröll werden die tatsächlichen Daten geändert, jede tentative Füllung von Meßlücken erzeugt ein neues Modell. Wenn wir hier raus sind, dann wird viel Datenkomprimierung notendig sein, und natürlich auch Wegwerfen von belanglosem Material.
"Guck mal, da ist ja schon wieder sowas!" sagt Edwin plötzlich.
"Was? Wie? Wo? - Ich war in Gedanken!"
"Da, an der Höhlendecke!"
Ich sehe genauer hin. Und dann erkenne ich es auch wieder:
"Wie am letzten Samstag! Horizontale Risse in der Höhlendecke! - Das ist es, wovor das Boot uns dauernd warnen will! Das hatten wir schon!" erklärt Edwin.
Amurdarjew kratzt sich den Kopf: "Also, allmählich glaube ich das nicht mehr. Das wäre das zweite Mal, daß wir uns an einer Stelle aufhalten, die angeblich vom Einsturz bedroht ist! - Aber diese Höhlen sind uralt, also sind sie sehr stabil. Da kann nicht alle Tage etwas einstürzen!"
Edwin dreht das Bild der Höhlendecke über uns in einen Winkel, der uns erlaubt, von der Seite hineinzusehen. Diesmal ist es eine ganze Gruppe von horizontalen Rissen, die so am besten zu sehen sind. Wir sehen es jetzt erst - das Boot hat es schon längst bemerkt. Unglaublich. Was weiß der Rechner denn noch, was wir nicht wissen?
"Also erst einmal" denke ich laut nach, "ist es gar nicht gesagt, daß diese Risse tatsächlich einen Einsturz ankündigen. Beim letzten mal haben wir ja das Weite gesucht, bevor etwas passierte. Und es kann sein, daß diese Risse schon immer da waren. Seht doch nach draußen - es liegt ja genug Geröll herum, das irgendwo aus der Decke gebrochen sein muß!"
"Das ist nicht von hier!" protestiert Amurdarjew, "Ich sehe nichts, was nachweislich gerade hier aus der Decke gebrochen sein könnte!"
"Mag sein." fahre ich fort, "aber es kann natürlich auch sein, daß es, hier wie damals, unsere bloße Anwesenheit ist, die die Höhlendecke verändert hat."
"Unsere Hitzeproduktion." sagt Edwin.
"Genau."
"Dann könnte es aber runterkommen."
"Besonders," sagt Amurdarjew, "Wenn wir noch mit einem Knall nachhelfen."
"Ja. Wir müßten erst - Himmel, wie spät ist es?" Jeder sieht zum SISC: Die letzte Minute vor 10 Uhr ist gerade angebrochen.
"Ich würde die Risse da oben lieber noch eine Weile beobachten, bevor wir noch einmal eine Explosion machen. Was meint ihr?"
Amurdarjew nickt. Edwin auch. Ich greife zum Interkom. Amerlingen meldet sich.
"Können wir die Explosion noch stoppen?"
"Warum sollten wir das tun?" fragt Amerlingen, "Geht auch gar nicht - Beide Torpedos sind schon auf Eigen-Countdown!"
"Was? Zwei? Wieso sagt uns das niemand?"
"Wir können es uns leisten! Die Wirkung am Boot war gering!"
"Die Wirkung an der Höhlendecke war weniger gering! Geht es wirklich nicht, die beiden ..."
"An der Höhlendecke?" Amerlingen begreift schnell. Aber es nützt nichts mehr. Die beiden Torpedos sind an Ort und Stelle, und sie zählen völlig unabhängig und selbstständig ihre letzten Sekunden aus.
"Hoffentlich irren wir uns." sagt Edwin. "In acht Sekunden wissen wir's." füge ich hinzu.
Diese acht Sekunden lang sagt niemand etwas. Ich denke daran, daß ich wenigstens die Alternative hätte, daran zu glauben, in Kürze da zu sein, wo Irene jetzt ist, wenn etwas schief geht. Aber ich habe keinen Glauben. Ich habe nur Angst vor dem Tod. Vielleicht nicht wegen Schmerzen - wenn jetzt etwas passiert, dann wird es schnell geschehen - aber das Leben ist doch so wahnsinnig interessant. Gerade jetzt. Ich will nicht mitten in einem aufregenden Film abschalten. Noch vier Sekunden. Was man sich in der kurzen Zeit so überlegt!
Der dumpfe Knall, der dann durch die Wände des Bootes dringt, ist kaum stärker als der vor einer Stunde. Klar: Die Lautstärkewahrnehmung ist in etwa logarithmisch. Auch wird ein Teil der Druckwelle jeder der beiden Explosionen in die Gasblase der jeweils anderen Explosion hineingelaufen sein, was weiter zu einer gewissen Dämpfung der gesamten Druckwelle führt.
Es gibt noch ein paar weitere Überlegungen, mit denen ich mich zu beruhigen versuche. Was die anderen sich denken, weiß ich natürlich nicht, aber wir alle kleben an den Bildschirmen.
Es bleibt still. Kein dumpfes Grollen, das den Einbruch der Höhle ankündigt. Und die Echolotbilder bleiben unverändert. Das allerdings müssen sie sowieso, weil es die aufintegrierten Bilder sind - auf den Echolotaufnahmen der momentanen Außensituation sind die Risse in der Höhlendecke auch mit gutem Willen kaum zu erkennen.
Ein paar Sekunden sind wir schon über den Detonationszeitpunkt hinaus. Und noch ein paar Sekunden. Jede Sekunde fällt die Wahrscheinlichkeit, daß unerwartete Auswirkungen der Explosion eintreten. Jede Sekunde vergrößert die Wahrscheinlichkeit, daß wir noch weitere Sekunden leben werden.
Und dann denke ich: Reg dich ab, Herwig! So kritisch war die Situation gar nicht.
Wieder drängt sich eine Alarmbox in den Vordergrund. Entweder weiß das Boot schon wieder mehr als wir, oder diese Meldungen kommen immer in gewissen Zeitabständen.
So," hören wir Wellington über das Interkom, "jetzt möchte ich aber mal genau wissen, was los ist! Wieso hätten wir die Explosionen stoppen sollen?"
"Am besten, Sie kommen mal rüber und sehen sich's an!" schlage ich vor. Und leise zu den anderen: "In seinem Alter kann ein bißchen Bewegung nicht schaden!" Dabei habe ich einen Moment lang wie zufällig die Hand auf dem Mikro.
"Apropos Bewegung," sagt Amurdarjew, "da oben bewegt sich was!"
"Was?" Gerade noch die Entwarnung, jetzt der Schreck: "Du mußt dich irren!"
"Doch. Und Eigengeräusche aus der Decke. Seht doch - die Momentanaufnahme!"
Wir sehen es alle. Der blutigste Laie kann es sehen: Einige der schwachen Reflexionen, die wir als Risse in der Höhlendecke interpretiert haben, sind deutlicher geworden - viel deutlicher.
"Jetzt geht's rund - Scheiße. Das ist genau über uns."
"Ja," sagt Amurdarjew, "und es sind ein paar tausend Tonnen."
Panik erfüllt mich. Ich will hier nicht krepieren. Nicht jetzt. Ich greife wieder zum Interkom: "Amerlingen! Volle Kraft zurück! Mit allem, was drin ist - Batterien und Reaktor!"
In dieser Sekunde schwenkt Wellington sich durch das Schott vom zentralen Niedergang zu uns herein.
Und das Echo auf dem Bildschirm wird deutlicher.
"Homberg, sind Sie verrückt?"
Es ist mir egal, was Wellington sagt. "AMERLINGEN! VOLLE KRAFT ZURÜCK!"
Wellington will gerade zum Interkom greifen. "Großer Gott." sagt Edwin. Leise, aber alle hören es. Und wir sehen es:
Von einer Sekunde zur anderen sind die Risse auf der Momentaufnahme deutlichst zu sehen. Und sie teilen sich. Mir ist, als ob ich aus der Höhe ein Grollen höre - aber das kann jetzt noch nicht sein. Erst, wenn die Felsen auf das Boot fallen.
Der Boden zittert leicht. Amerlingen hat es getan. Er fährt die Maschinen an. Es nützt nichts, das Boot wird ja festgehalten. Wie in einem Schraubstock. "Großer Gott." sagt Edwin noch einmal. Der Pater, fällt mir plötzlich ein, der sagt ja gar nichts. Reklamieren denn die Religionen die Zuständigkeit in solche Extremsituationen nicht für sich? Aber Palmer sieht mit schreckgeweiteten Augen auf die Bildschirme, wie die anderen auch.
Träge kommen sie herunter. Es sieht aus wie ein Computerspiel. Jetzt sind sie scharf gezeichnet - der Übergang Wasser - Fels läßt sich gut vom Echolot erfassen. Wir werden über unsere Todesursache nicht mehr im unklaren gelassen.
Wie ein Computerspiel, denke ich. Tetris. Nur weniger regelmäßig. Irene, was für ein Schicksal - dich hat es über Cape Wrath zerrissen, abgeschossen in einer militärischen Flugmaschine, wie in einem Krieg, und ich werde tief unter Wasser zerquetscht. Ob es wohl wirklich schnell gehen wird? Hoffentlich. Ich bin kein Held. Ich will keine Schmerzen ertragen.
Rechts und links von uns ragen die Felsen, die uns einklammern, auf, höher als das Boot. Deutlich sieht man es auf den Echolotaufnahmen. Sie werden zuerst getroffen. Der Donner ist da, wie ein Gewitter, von allen Seiten gleichzeitig. Und ein Kreischen. Metall auf Fels. Das Boot - der Felsen - der Aufschlag hat ihn bewegt!
Der Boden ruckt heftig. Alles bewegt sich. Wellington stürzt, kann sich aber noch an einer Lehne festhalten. Nun zeigt das Echobild deutlich genug, daß der Felsen das Boot selber erreicht.
"Neeeiiinnn!" War das Carola? Oder war ich es? Erkenne ich meine eigene Stimme nicht mehr? Der Boden ruckt wieder. Und wieder. Eine unbarmherzige Kraft wirft mich zu Boden.
Es ist ein Gefühl wie in einem Fahrstuhl. Oder so, ich kann darüber nicht reden, weil es zu laut ist. Jede Sekunde muß der Druckkörper einknicken. Es gelingt mir wieder, mich irgendwo festzuhalten, um nicht vorher auf den Niedergang der Kantine zuzurutschen und mir dabei das Genick zu brechen. Da bin ich eigen: Ich will die letzten Sekunden noch haben. Todesursache: Versagen des Druckkörpers. Nicht profanes Hinfallen - das kann man später im Altersheim auch noch haben.
Der Donner hört nicht auf. Wenigstens werden wir nicht auf einer Intensivstation verrecken, denke ich.
Das Boot schwankt, wie ein Boot schwanken sollte. Im Sturm. Hat unser Boot noch nie gemacht. Merkwürdig - der Boden - er ist fast eben. Bringen die Felsen das Boot noch auf ebenen Kiel, bevor sie es zerdrücken? Das Licht flackert nicht einmal. Schade. Es ist ein gutes Boot. Hält bis zum Schluß. Aber tausend und mehr Tonnen auf's Oberdeck, in dieser Wassertiefe - das kann das beste Boot nicht aushalten.
Edwin stöhnt. Keine Verletzung - es muß die physische Anspannung sein. "Das war knapp!" sagt er. Trottel. Wo wir gleich tot sind. Unpassende Bemerkung. Sehr unpassend. Ich sehe nach oben.
Wellington hat es auch von den Füßen gehauen, aber sonst saßen alle in ihren Sitzen. Da sitzen sie noch. Hatten die ganze Zeit die Bildschirme im Auge. Natalie wendet mir ihren Blick zu:
"Bist du verletzt?"
"Ist das wichtig?"
"Er ist nicht verletzt!" sagt sie zu den anderen und wendet ihren Blick wieder den Bildschirmen zu. Es muß enorm interessant sein, was da zu sehen ist.
Ich versuche, aufzustehen. Wellington auch. Das Boot hält immer noch. Der Donner ist immer noch da, aber er wird dumpfer. Der Boden zittert, aber was mich am meisten stört ist, daß er fast eben ist. Das ist ungewöhnlich.
"Du hast das Interessanteste versäumt, Herwig!" sagt Edwin. Aber seine Stimme zittert. Ihm ist nicht nach Scherzen zumute. Es ist ein Reflex, was er sagt, und wie er es sagt.
"Sind wir denn nicht ... ?"
"Nein, wir sind nicht."
"Gerade eben verfehlt." sagt Amurdarjew.
"Wir waren doch genau drunter!"
"Die Felsen sind zuerst getroffen worden. Einen Moment lang ist er zur Seite gedrückt worden. Und das Boot hat sich selbst herausgezogen. Die Maschinen liefen ja mit voller Kraft rückwärts."
Ich sehe die optische Außenbeobachtung nach vorne hinaus an. Es ist kaum etwas zu erkennen.
"Da waren wir eben noch." Amurdarjew scheint am unerschrockensten von uns zu sein, "Es ist viel Staub im Wasser. Das dauert noch eine Zeit, bis man wieder was sehen kann. Aber sieh dir die Echoaufzeichnung an."
Die ist in der Tat am deutlichsten. Ein paar Dutzend Meter vor unserem Bug war die Hölle los. Jetzt legt sich der Donner rasch. Nur ein Rumpeln ist noch zu hören. Eine Zeitlang. Dann - Stille.
"Herwig - du hast uns das Leben gerettet." Das war Carola.
"Ich?" So ein Kompliment habe ich von ihr noch nie gehört. Das kann ich nicht so ohne weiteres glauben, das sie meint, was sie sagt.
"Ja. Amerlingen hat deine Panik ernstgenommen."
"Tja," sagt Wellington, "wenn ich noch in der Zentrale gewesen wäre, dann hätte ich ihn daran gehindert, die Maschinen anzufahren. - Tja."
"Oh," sage ich. Jetzt ist es für alle klar: Das war knapp. Das war verdammt knapp.
Und das Boot ist frei!
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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