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47. Wie der Berg ruft
Die Stimme dringt laut durch die Wände herein, und es hört sich wie ein unwilliges Knurren an. Gleichzeitig zittert der Boden. Das ganze Schallereignis ist nicht sehr laut und dauert nur wenige Sekunden, und wenn die Diskussion gerade hoch hergegangen wäre, dann hätte niemand etwas gemerkt. Vielleicht. So haben alle es gehört, und jeder sieht den besorgten Blick der anderen.
"Was war das?" flüstert Gabi, stellvertretend für viele. Vielleicht hat jetzt jeder die Vision, daß der Felsen sich auf das Boot neigt und es langsam zerdrückt. Wenn es so ist, wenn das jetzt passiert, dann gibt es nichts, was wir dagegen tun können.
Wir tun auch nichts dagegen. Verschrecktes Warten. Warten auf die Wasserstrahlen, die sogar Beton sägen können, und menschliche Körper sowieso. In die Stille tönt das Interkom. Edwin's Stimme: "Chef! Da ist was Komisches!"
Ungewöhnlich. So redet Edwin seine Vorgesetzten im allgemeinen nicht an. Und ob der Begriff 'komisch' im Moment angemessen ist, das ist diskutierbar.
Wellington greift zum Interkom: "Was ist, Herr Daum?"
"Unser Modell ist kaputt. Draußen ist alles anders. Irgend etwas hat sich gesetzt, und alle Reflexe haben sich geändert. Wir können noch einmal von vorne anfangen!"
"Was sagt sie Streßanalyse über den Schiffskörper?" fragt Wellington.
"Moment, ich sehe nach. Sie läuft auf einem Bildschirm ja dauernd."
Edwin's Stimme flaut ab, und im Hintergrund hören wir Carola. Beide reden erregt miteinander. Dann ist Edwin's Stimme wieder ganz laut:
"Die Kraft auf das Schiff hat sich geändert. Ich habe mir die Zahlen nicht gemerkt, aber die Carola behauptet, vorher wäre es doppelt soviel gewesen!"
"Uhp!" Das war Priest. Er wirbelt herum, springt nahezu zur nächsten Console. Wie ein Wirbelwind fliegen seine Hände über Tastatur und Rollkugel. Schon nach einer halben Minute dreht er sich um: "Es stimmt! Die Kraft hat nachgelassen! Es ist nur noch 55 Prozent von dem, was vorher da war!"
Nach einer Sekunde bricht Jubel aus, den Wellington nur mühsam dämpfen kann. "Das ist immer noch vielzuviel. Das Boot kann sich auch daraus nicht mit eigener Kraft befreien!" ruft er. Man hört es und man will es nicht hören.
Nun sitzen alle Schiffsingenieure an den Konsolen. Amurdarjew ist wieder nach vorne, um sich um sein nun obsoletes Felsenmodell zu kümmern. Ich folge ihm. Wellington auch. Die Besprechung ist erst einmal zu Ende.
Was ist passiert? Genau wissen wir es nicht. Die plausibelste Erklärung hat Amurdarjew nach wenigen Minuten parat:
"Der Untergrund unter dem Felsen muß nachgegeben haben. Wahrscheinlich handelt es sich tatsächlich um komprimiertes Kleingeröll. Das kann plastisch reagieren. Der große Felsen sitzt ja ganz anders auf dem Grund, seit er das Boot einklemmt."
"Und das ist jetzt ganz plötzlich passiert?" fragt Wellington.
"Ja. Es hätte schon längst passieren können. Oder auch erst in zehntausend Jahren. Seit das Boot gegen den Felsen drückt, oder der Felsen gegen das Boot. Vielleicht hat es auch etwas damit zu tun, daß sich das Gewicht des Bootes dauernd ändert. Wir sind seit Lenzbeginn ja um einige hundert Tonnen leichter geworden. Das wirkt sich eben auch irgendwie aus."
"Mmh. Chancen, daß sich das noch einmal auswirkt? Wir sitzen immer noch fest! Was meinen Sie?"
"Ich habe nicht die geringste Ahnung, Sir!"
In der Tat ist es müßig, darüber zu spekulieren, was passieren könnte. Immerhin hat Amurdarjew noch eine beruhigende Aussage für uns: "Es ist extrem unwahrscheinlich, daß uns der Felsen wieder fester in die Zange nimmt, wenn sich noch einmal etwas derartiges tut." Wir hören es und wollen ihm gerne glauben. Natürlich: Wenn irgend etwas dem Felsen die Neigung zur anderen Seite erleichtert, dann wird genau dieser Einfluß eine Neigung des Felsens in unsere Richtung unwahrscheinlicher machen. Und der Felsen auf der anderen Seite des Bootes, das Widerlager, ist sowieso so massiv, daß er sich noch nie bewegt hat - von daher droht also keine Gefahr.
Für den schlimmsten Fall der Fälle fangen wir aber noch einmal an, ein numerisches Modell der Felsen draußen zu entwickeln. Diesmal geht es aber viel schneller, weil die meisten der großen Brocken um uns herum sich überhaupt nicht und der eine nur ganz wenig bewegt hat. Es handelt sich um Verschiebungen im Millimeter und Zentimeterbereich. Was sich wesentlich mehr geändert hat, das sind die Kraftfelder durch den Felsen, da das Boot nunmehr nur noch mit der halben Kraft festgehalten wird.
So kommt es, daß wir mit unserer Arbeit um 19 Uhr schon wieder fertig sind. Damit allerdings sind wir zunächst wieder zur Untätigkeit verdammt. Aber es gibt wenigstens eine positive Nachricht: Die Schiffingenieure lassen uns wissen, daß heute Nacht um halb zwei damit zu rechnen ist, daß das Lenzen fertig ist. Im Laufe des morgigen Tages werden dann die letzten Spuren des Wassereinbruches beseitigt sein. Außer der Positionierung des Bootes, natürlich.
Am nächsten Tag erfahren wir dann auch, was zunächst gemacht werden soll. Schon am frühen Morgen ist das Boot so eingetrimmt, daß es genau in der jetzigen Lage schwimmen würde, wenn es nicht eingeklemmt wäre. Dann fangen die Schiffingenieure an, Wasser zwischen den Trimmtanks achtern und vorne hin und herzupumpen. Gleichzeitig werden die Signale von allen Außenmikrophonen analysiert. Wer will, kann sich das live über die Kopfhörer anhören - über die Lautsprecher natürlich nicht, um akustische Rückkopplungen zu vermeiden.
Ich kann der Versuchung auch nicht widerstehen: Das muß ich mir anhören!
Der rechte und der linke Kopfhörer erhalten die verstärkten Signale verschiedener Mikrophongruppen. Daher kommt es, daß ich sofort, als die Muscheln meine Ohren ganz eingeschlossen haben, den Eindruck habe, den Kopf akustisch in einen seltsamen, unirdischen Hohlraum hineinzustecken. Da ist das Brummen der Pumpen zu hören, die die Wassermengen zwischen den Trimmtanks hin- und herpumpen. Dumpfes Poltern, wenn irgenwo im Schiff jemand geht. Zahllose andere Aggregate, die an der Grenze der Lautlosigkeit ihren Dienst verrichten, aber eben doch nur an der Grenze. Das Schiff ist so gebaut, daß Geräusche schwer rein- und ebenso schwer rauskommen. Und die Mikrophone sind so gebaut, daß sie solche Geräusche doch noch auffangen.
Vor all dem dumpfen Hintergrund der Geräusche aus dem Schiff höre ich aber auch das, worauf die Schiffsingenieure es abgesehen haben: Ein gelegentliches Knirschen und Knarren. Das Umpositionieren tonnenschwerer Wassermassen arbeitet in den Flächen, die der Fels auf das Boot drückt. Da werden erhebliche Drehmomente erzeugt, mal so rum, mal andersrum. Die große Frage: werden die Geräusche lauter? Das würde für eine baldige Lockerung des eisenharten Griffes, mit dem das Boot festgehalten wird, sprechen.
Einen solchen Trend kann ich nicht erkennen, und nachdem ich eine Viertelstunde reingehört habe, gebe ich es auf. Die Kopfhörermuscheln drücken.
Kurz, bevor ich die Kopfhörer abnehme, glaube ich, noch einen Moment lang ein Geräusch zu hören, das nicht vom Schiff verursacht sein kann: Da ist ein fernes, verhaltenes Grollen oder Ächzen. Das Geräusch läßt sich schwer charakterisieren, und es ist an der Hörschwelle - zu schwach, um sich wirklich sicher zu sein. Vielleicht entsteht es auch in meinen eigenen Ohren - meine Jugendzeit, in der ich Kopfhörer zu tragen pflegte, um mir laute Musik in die Ohren hineinzudrönen, ist schon lange her. Vielleicht hat sich an meinen Ohren seit der Zeit etwas geändert. Ich entschließe mich, diesen Lauteindruck zu ignorieren und nehme die Hörer ab. Niemand anders scheint etwas bemerkt zu haben.
Jedenfalls geschieht irgend etwas, auch wenn ich nicht weiß, ob es uns weiterbringt. Die anderen fühlen wohl genauso - es breitet sich bald eine Atmosphäre gespannter Untätigkeit im Boot aus. Bis auf vorne, wo immer noch die letzten Spuren des Wassereinbruches beseitigt werden.
Dann kümmern wir uns noch einmal um die Systembelastung durch die Prozesse, auf die wir keinen Einfluß haben und von denen wir nicht wissen, was sie machen. Diese Prozesse sind immer noch da. Das ist aber auch schon alles, was wir rauskriegen.
"Wenn es ein Jucks ist, dann ist die Pointe schon längst totgeritten!" sagt Carola. Und ich denke daran, wie passend das Wort 'totreiten' jederzeit werden könnte.
"Kann es sein, daß es Reorganisationsprobleme sind, die nur eine größere Systembelastung vortäuschen?" frage ich, "Defragmentierte Dateibelegung auf den Massespeichern oder ..."
"Nein." sagt Carola.
"Oder könnte es sein, daß bloß ..."
"Auch nicht."
"Du weißt doch noch gar nicht, was ich fragen will!"
"Ich will ja nur sagen, daß diese Systembelastung echt ist."
Irgendwie habe ich das Gefühl, daß eine fachliche Diskussion mit mir jetzt nicht erwünscht ist. Ich ziehe mich deshalb in die Zentrale zurück. Dort wird immer noch, oder schon wieder, über das Thema diskutiert, wie man das Boot freibekommt. Nach der ersten Euphorie ist jedem nur zu klar, daß auch ein Einklemmen des Bootes mit der halben Kraft immer noch zuviel ist und unsere Lage nicht im mindesten verbessert. Außer vielleicht, daß die Struktur des Bootes weniger belastet wird.
Die Idee mit der kalten Salzsole ist inzwischen gestorben. Es ist einfach nicht machbar, die Sole zum Felsen zu bringen - sie würde ganz woanders hinfließen und sich wahrscheinlich beim Austritt aus dem Bootskörper zu sehr mit dem umgebenden Salzwasser vermischen. Auch von der Erwärmung des Felsens durch die Bordscheinwerfer redet niemand mehr, nachdem man etwas nachgerechnet hat. Im Moment zielt der Konsensus darauf hin, zunächst mal eine ganze Weile mit den Trimmtanks des Bootes dasselbe zu wippen. Das nächste wäre die Option mit dem seismischen Torpedo. Darüber hinaus gibt es keine weitere Ideen. Ich klemme mich in einen Winkel zwischen der Wand und einer Konsole und höre zu. Schließlich habe ich auch keine Ideen, und es ist hier nicht der geeignete Platz, sich trotz absoluter Ideenlosigkeit zu profilieren, wie es im Obersten Führungskreis meiner alten Firma der Brauch war.
Amurdarjew kommt vom vorderen Oberdeck zu uns. Er hat eine Idee:
"Dieser Sonnenstein - wir können nicht nachweisen, daß er den großen Felsen im mindesten stützt. Er lehnt sich wahrscheinlich nur dagegen. Einfach so." beginnt er, nachdem er so in die Runde gesehn hat, daß jeder gemerkt hat, daß er etwas sagen will.
"Haben wir etwas davon?"
"Ja. Wir könnten ihn mit einem der Kameraträger anheben!"
"Kaum." sagt Amerlingen, "Der hat um die zwei bis drei Kubikmeter. Circa fünf bis acht Tonnen.
"Oder mit zweien. Sehen Sie doch - er steht fast senkrecht!"
"Selbst, wenn das ginge - wollen Sie ihn dann wieder zurückfallen lassen? Es gäbe nur einen schwachen Stoß - eben weil er praktisch senkrecht steht!"
"Ich will ihn zur anderen Seite fallen lassen!"
"Davon haben wir doch noch weniger."
"Sehen Sie doch mal genau auf das Bild! Rechts und links von dem Sonnenstein sind diese Steinbänke. Von oben gesehen bilden diese mit dem Sonnenstein zusammen einen groben Zirkel, dessen Segmente nur ungenau ineinander passen. Der Sonnenstein kann nicht ganz ungehindert nach innen fallen, weil ihm die Bänke zur Rechten und zur Linken dazu etwas zuwenig Platz lassen."
"Dann wird er diese Bänke beim Fallen wohl zur Seite schieben."
"Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Sehen Sie mal genau hin: Wenn wir von der Kreismitte auf den Sonnenstein sehen, dann würde dieser beim Fallen die rechte Bank nach rechts und die linke nach links schieben. Die rechte Bank zumindestens kann er aber gar nicht verschieben - jedenfalls nicht in ihrer Längsrichtung. Die endet nämlich in dem Geröllhaufen."
"Das müßte man mit Ihrem Modell nachprüfen." schlägt Amerlingen vor.
"Das habe ich getan. Deshalb bin ich ja auf die Idee gekommen. Die rechte Bank hat keinen Millimeter Spielraum. Jedenfalls, wenn man sie in ihrer Längsrichtung verschieben möchte."
"Mmh."
"Auf der linken Seite ist der Kreis vollständig. Wenn die linke Bank nach links verschoben wird, dann würde sie dazu die nächste Bank verschieben müssen, aber es wäre möglich. Bis dahin einverstanden?"
"Ja. Gut. Der Sonnenstein würde also nicht ganz ungehindert umfallen. Aber er würde umfallen."
"Er würde umfallen. Meiner Meinung nach würde er aber dabei die Bänke mit großer Kraft auseinander und zur Kreismitte hin drücken. Sie sehen ja den Hebelarm. Wie's genau abläuft, kann man nicht sagen."
Amerlingen kratzt sich am Kopf. Amurdarjew redet weiter: "Sehen Sie, was der Fuß des Sonnensteins machen würde? Wie der sich bewegen würde, wenn der große Stein kippt? Sieht es jeder?"
Wellington wendet sich an Makenzie: "Holen Sie uns mal aus den bisherigen Aufnahmen eine Auswahl heraus. Ich möchte den Stein von allen Seiten sehen!"
Während Makenzie arbeitet, spricht Kufferath, der gerade aus seinem Reaktorraum in die Zentrale gekommen ist, aus, was den anderen vielleicht schon aufgefallen ist: "Der drückt da unten gegen!"
Amurdarjew präzisiert: "Ja. Wenn die Bänke rechts und links unverrückbar währen, dann würde er gegen den Fuß den großen Felsens drücken. Einen kurzen Moment nur, das aber mit großer Kraft. Wahrscheinlich würde er zurückfedern und dann doch irgendwie zwischen den Bänken durchrutschen, vielleicht auch dabei zerbrechen. So wird er die Bänke verschieben - die linke wahrscheinlich mehr als die rechte. Der Effekt ist nicht ganz so groß. Und man weiß nicht, wie groß er genau ist. Die Oberflächen reiben gegeneinander, verhaken sich, oder auch nicht, Unebenheiten brechen heraus. Und darüber hinaus wissen wir nicht, ob eine kurze Kraftanwendung gegen den Fuß des großen Felsens irgend etwas bringt."
Wellington sieht Amerlingen an: "Was meinen Sie?"
"Die Kameraträger sind zu schwach! Um Größenordnungen zu schwach. Das sind keine Zugmaschinen!"
Da fällt mir aber etwas ein: "Dann werfen wir das Ding eben mit einem seismischen Torpedo um. Das geht sicher!"
"Wir wollen die Explosionsdruckwellen doch vermeiden!" protestiert Amerlingen.
"Wenn's doch nicht anders geht!"
Wir reden weiter über das Problem. Rasch stellt sich heraus, das ein seismisches Torpedo gar nicht zwischen den Fels und den Sonnenstein paßt, höchstens ganz unten, wo es für diesen Zweck nichts nützt. Das macht es noch schwieriger, den Sonnenstein umzuwerfen. Nur in einem Punkte hat Amurdarjew recht: Das Ding steht fast senkrecht.
"Worauf steht er denn?" will Amerlingen wissen, "können Sie das rauskriegen?"
"Denken Sie an Kleingeröll? Ich rede mal mit Herrn Daum. - Aber dies Kleingeröll zwischen den Felsen ist kaum nachzuweisen! - Alles, was wir da machen, ist bessere Spekulation."
"Trotzdem," sage ich schließlich, "wenn wir schon eine Explosion machen, dann könnte der Stein unsere Chancen verbessern. Irgendwo am Fuße, wo der große Fels aufsitzt, sollte die Explosion sowieso stattfinden. Wenn dann noch zusätzlich der Sonnenstein umkippt, dann wären das zwei Versuche in einem: Die Explosion selber könnte die Standfestigkeit des großen Felsens erschüttern, und der kippende Sonnenstein gleich darauf noch einmal. - Wenn er kippt."
"Meinen Sie, daß er kippen würde?" fragt Amerlingen, "Dazu fände die Explosion schließlich an der ungeeignetsten Stelle statt - da ganz unten."
"Könnte man vielleicht auch durch Simulation feststellen. Weiß ich nicht. Genauso gut könnte es sein, daß der Fuß des Sonnensteins verschoben wird, und davon haben wir natürlich gar nichts." Ich kann genauso wenig Konkretes sagen wie alle anderen auch.
"Was glauben Sie, wie sich die Druckwellen der Explosion verändern, wenn das Torpedo zwischen Fels und Sonnenstein explodiert?" fragt Wellington.
"Das kriegen wir am besten auch mit Simulationen heraus."
"Gut," entscheidet Wellington, "warten wir die Ergebnisse der Simulationen ab." Damit ist diese informale Besprechung wieder zu Ende
Der ganze Montag vergeht in äußerer Untätigkeit, jedenfalls für die meisten. Edwin, Carola und Amurdarjew sind mit den seismischen Simulationen beschäftigt. Andere dürfen kaum mitmachen, weil dann der Kommunikationsoverhead so ansteigen würde, daß letzten Endes weniger Arbeit erledigt würde. Die alte Erfahrung vieler Software-Projekte: 'Adding manpower to a late projekt makes it later.' Ich selbst vertreibe die Zeit damit, durch die Schiffsdokumentation zu wühlen, ein bißchen in der Hoffnung, daß ich irgend etwas finden könnte, was uns weiterhilft.
Am Abend wendet Edwin sich über das Interkom an Wellington und schlägt eine weitere Besprechung vor. Wenig später sind wieder alle, die sonst nichts zu tun haben, in der Zentrale.
"Also, wir haben fast nichts herausgekriegt, was richtig konkret ist. Alle Simulationen hängen von Randbedingungen ab, die wir nur ungenau kennen: Wie fest stehen diese Steinbänke und der Sonnenstein selbst auf dem Boden, wo ist welche Unebenheit, was ist direkt unter dem großen Fels und so weiter. Ich habe einige Bilder vorbereitet."
Edwin macht sich an der Tastatur des Koppeltisches zu schaffen, wozu Wellington, Fahlenbeek und Makenzie zur Seite rücken müssen. Auf dem Koppeltisch und auf dem großen Bildschirm an der Stirnwand der Zentrale erscheint eine Querschnittszeichnung des Felsens, der uns festhält. Deutlich ist, vergleichsweise klein, der Sonnenstein zu erkennen, der dagegen lehnt.
"Wenn man eine Explosion zwischen Felsen und Sonnenstein auslösen möchte, so hat man aus Platzgründen nur die Möglichkeit, dies genau hier unten zu tun. Wie Sie sehen, ist dabei das Kippmoment auf den Sonnenstein denkbar gering. Mindestens genauso wahrscheinlich ist es, daß der Fuß des Sonnensteins zur Seite gerückt wird - das wurde ja schon angesprochen - und noch wahrscheinlicher ist es, daß der Fuß des Sonnensteins zerschmettert wird."
"Von dem bißchen Explosion?" fragt Fahlenbeek.
"Die Simulationen haben es so herausgekriegt. Vergessen Sie nicht, daß diese seismischen Torpedos, trotz ihrer geringen Sprengstoffbeschickung, auf einen sehr kurzzeitigen Druckimpuls optimiert worden sind. Dabei werden, fedenfalls in der unmittelbaren Nähe der Explosion, sehr hohe Drucke erreicht. - Wir kennen die Festigkeit des Sonnensteines nicht. Es ist eine Art Granit, aber Herr Amurdarjew ist sich da auch nicht sicher. Es wäre sehr hilfreich, ein Stück davon ins Boot zu bringen."
Jeder weiß, daß wir das nicht ohne weiteres können. Vielleicht kann man mit den Kameraträgern etwas in dieser Richtung improvisieren, und ich mache mir eine geistige Notiz, um das eventuell noch einmal zur Sprache zu bringen.
Einen Moment lang schiele ich zu Cohausz rüber. Aber Günther hört aufmerksam zu und hat offenbar keine Absicht, zu bemerken, was mit seismischen Torpedos während dieser Reise schon angerichtet wurde, und von wem und unter welchen Umständen.
"Der nächste Punkt sind die möglichen Einflüße der Druckwellen auf das Boot." fährt Edwin fort, "Ich kenne mich nicht in Druckwellenphysik aus und muß einfach wiedergeben, was das Simulationsprogramm herausgefunden hat. Da sind die Nachrichten nämlich etwas besser."
Wie schön!" sagt jemand, ich kriege aber nicht heraus, wer.
"Diese sehr hochfrequenten und scharfen Druckwellen erreichen das Boot nur auf mehrfach indirektem Wege. Schon am Explosionsort werden sie mehrfach reflektiert. Es werden rechts und links unter dem Sonnenstein heraus die stärksten Druckwellen herauslaufen - leidlich gut gerichtet, und glücklicherweise dahin gerichtet, wo sich diese Höhlen forterstrecken. Wir werden also keine starken Reflexionen bekommen. Zusätzlich handelt es sich , wie ich schon gesagt habe, um ein Paket aus sehr inhomogen zusammengesetzten Druckwellen, die an Stärke viel eingebüßt haben. - Sollte übrigens der Sonnenstein zerbrechen, dann werden die Druckwellen noch viel geringer sein, weil ein Teil der Druckwellenenergie zur Zertrümmerung des Steines verbraucht wurde."
Ich bin überrascht, wie zutreffend Edwin die physikalischen Sachverhalte schildert. Da hat er sich offenbar mehrfach mit den Ingenieuren oder mit Amurdarjew unterhalten.
"Dann gibt es noch die Druckwellen, die direkt durch den Fels hindurch auf das Boot zulaufen. Die sind aber sehr schwach, und sie werden durch Inhomogenitäten im Fels selbst gebrochen, so daß sie auf mehrfachem Wege mit geringen zeitlichen Unterschieden bis zum Boot kommen. Alles zusammen: Das Boot ist durch die Explosion viel weniger gefährdet, als wir zunächst angenommen haben."
"Großartig," sagt Amerlingen, "wir könnten das also auch riskieren, wenn die Aussichten, daß es uns etwas bringt, gering sind - verstehe ich das richtig?"
"Ja." sagt Edwin.
Amerlingen sieht Wellington an: "Dann sollten wir das auf jeden Fall tun." Wellington nickt, sagt aber nichts, und Edwin fährt fort.
"Das war das konkrete Ergebnis: Das Boot wird durch eine Explosion eines seismischen Torpedos, jedenfalls an dieser Stelle, nicht gefährdet. Nun der unkonkrete Teil: Ob es was bringt, bleibt nach wie vor Spekulation. Wir haben alles, was passieren könnte, schon durchgesprochen. Dabei bleibt es. Ich kann nicht einmal sinnvoll irgendwelche Wahrscheinlichkeiten angeben. Wenn man bei den Simulationen nur eine Kleinigkeit verändert, dann kommt etwas völlig anderes raus."
"Was ist denn mit den anderen Felsbrocken, die auch noch an dem großen Felsen anliegen?" frage ich, "kann man da auch etwas machen?"
"Müssen wir auch erst ausprobieren. Da sind die Geometrien komplizierter, und deshalb haben wir das erst einmal zurückgestellt. Es war nicht genug Zeit."
"Es kritisiert Sie ja niemand," sagt Wellington, "es ist schon sehr wertvoll, was Sie rausgekriegt haben. Das Boot würde nicht gefährdet. Oder sieht jemand methodische Fehler in dem bisherigen Vorgehen und der Argumentation?" Als niemand einen Einspruch hat, fährt Wellington fort: "Dann schlage ich für morgen früh die erste Versuchsexplosion vor. Das Schiff ist soweit okay, bis dahin?" Er sieht Fahlenbeek, Amerlingen und seine Schiffsingenieure an.
"Jetzt schon," sagt Makenzie, "wir könnten sofort auf ebenen Kiel gehen und davonfahren - wenn der Felsen uns ließe."
"Gut." entscheidet Wellington, "Dann setzen wir den Knall um morgen früh neun Uhr an. Feierabend, meine Damen und Herren!"
Das mit dem Feierabend ist natürlich im Moment nur eine Redensart. Jeder ist sich ständig der bedrohlichen Situation bewußt. Es ist interessant, wie unterschiedlich die Mitarbeiter reagieren: Manche reden über nichts anderes, und andere wollen gar nichts mehr von der ganzen Sache wissen - wenigstens für ein paar Stunden. Einige - auch Natalie, die mir irgendwie gram ist, ziehen sich zurück, vielleicht, um im Schlaf Vergessen zu suchen. Und wer bin ich denn, die Verhaltensweise von irgend jemandem zu kritisieren?
Die Kantine ist an diesem Abend wieder in Betrieb. Sie liegt natürlich genauso schief wie alle anderen Räume, aber schon die bloße Tatsache, daß sich nicht mehr alle Mitglieder der Besatzung des Schiffes auf den Quadratmetern drängen, auf denen wirklich gearbeitet wird, ist ein Gewinn. In der Kantine kann laut geredet und diskutiert werden, ohne daß es jemanden stört.
Daß bei dieser Lage des Bootes die Kantine wieder als erstes vollaufen würde, wenn jetzt wieder erneut Wasser einbräche, fällt jetzt wahrscheinlich nicht nur mir ein. Aber es ist unwahrscheinlich, und ebenso unwahrscheinlich ist es, daß ein erneuter Wassereinbruch sich wieder rechtzeitig stoppen ließe. Am anderen Ende des Bootes hätte man also kaum einen Sicherheitsvorsprung. Außerdem sind die Reaktorräume nicht direkt gemütlich. Also sitzen wir in der Kantine.
Carola, Edwin und ich sitzen eine Weile zusammen am selben Tisch - soweit 'sitzen' der richtige Ausdruck ist. Das hat jetzt nichts mehr mit Cliquenbildung zu tun, weil das ganze Team sich inzwischen schon gut zusammengefunden hat.
"Wenn du das gewußt hättest, dann wärst du wohl nicht nach Ullapool gekommen, bloß um dir das Boot anzusehen, oder?" frage ich Edwin.
"Das weiß ich nicht," sagt er zu meiner Überraschung, "irgendwie glaube ich, daß wir durchkommen. Es sah ja sogar schon schlimmer aus. - Irgendwie lebt man intensiver, wenn man sich dauernd darum bemühen muß, am Leben zu bleiben."
"Spricht so ein Familienvater?"
"Er spricht ja nicht zu seiner Familie."
"Mmh. Und du, Carola?"
"Ich wünschte, ich hätte dein Buch nie gelesen. Oder dir nie geglaubt."
"Komisch," sage ich, "wenn man mich vor einer Minute gefragt hätte, dann hätte ich eure Reaktion genau andersrum erraten!"
"Was ist daran komisch?" fragt Carola, "Ich möchte nur ein hohes Alter erreichen!"
"Das wirst du."
"Woher willst du das wissen?"
"Statistische Erwägungen sprechen dafür. Die größte zeitliche Strecke zu einem hohen Alter haben wir bereits zurückgelegt, wir alle hier!"
"Bist du bei Natalie auch so charmant?"
Ich weiß, wann es an der Zeit ist, ein Thema wieder zu verlassen. Bevor wir in tiefsinigere Diskussionen einsteigen, ziehe ich mich zurück. - Vielleicht ist es die letzte Nacht in einem schiefen und schlagseitigen Bett.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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