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46. Wie man Berge versetzt

"Schnell," sage ich, "Systemaktivität dämpfen! Wir kämmen alle Speicher durch. Vielleicht ist noch etwas zu retten!"

Zwecklos!" widerspricht Edwin, "Freigegebene Speicherbereiche leben in PRO-UNIX nicht lange. Wir hätten viel Arbeit und wenig Resultate. Selbst, wenn wir das System jetzt einfrieren würden. Was nicht geht. Und mit Dateibruchstücken können wir schon gleich gar nichts anfangen. Nein nein, wir müssen von vorne beginnen. Alles noch mal"

"Wie konnte das passieren?" fragt Wellington, der von der Zentrale her zu uns gekommen ist.

"Die Suche nach Carola," vermute ich, "eine kurze Zeit war etwas Durcheinander. Und das hat unser großer Unbekannter wieder ausgenutzt."

"Kann das geplant gewesen sein?"

"Nein," sage ich bestimmt, "denn dann hätte Carola etwas damit zu tun, indem sie absichtlich die falsche Kabine aufgesucht hat. Und das glaube ich nicht."

"So ist es." stimmt Edwin mir zu. Wellington sieht von einem zum anderen, sagt aber nichts. Er ist nicht überzeugt. Die anderen vielleicht auch nicht. Wie schön, daß Natalie nicht gerade jetzt ihrer Antipathie gegen Carola Ausdruck gibt.

Wir haben keine andere Möglichkeit, als wieder von vorne anzufangen. Ganz von vorne. Sogar die Langzeit-Echolot- und Radarmessungen müssen wiederholt werden.

Wie anders wäre das auf einem kleinen, übersichtlichen Rechner. Unmittelbar nach dem Löschen einer Datei kann man im allgemeinen noch alles retten. Schon vor mehr als zehn Jahren gab es für MS-DOS sogenannte Utility-Pakete, in denen alles mögliche drinnen war: Massenspeicher-Editoren und Diskdoktoren und wie sich das Zeug alles nannte. Die äquivalenten Werkzeuge haben wir natürlich auch - sogar viel bessere - aber da das PRO-UNIX nie schläft, ist es sinnlos, sie zu verwenden.

Böse Zungen behaupten, daß Betriebssysteme des UNIX-Typs 99 Prozent ihrer Zeit damit verbringen, in einer Datei nachzuschauen, um herauszufinden, in welcher Datei es als nächstes nachschauen muß. Das hat natürlich ein bißchen seine Richtigkeit. Und für die Dateien, die dauernd aktiv verändert werden, kann man es ähnlich ausdrücken: Dauernd muß in irgendwelchen Dateien protokolliert werden, welche Dateien sich sonst noch verändert haben. Plus die ganzen Anwendungen, die andauernd in Dateien schreiben. Nein, eine Datei, die erst vor wenigen Minuten gelöscht worden ist, wenn auch nur logisch, ist zum großen Teil schon von anderen Dateien überschrieben.

Eine Möglichkeit hat aber noch niemand ausgesprochen: Man kann ohne weiteres auch gründlich löschen, nämlich mit absichtlichem sofortigen Überschreiben der zu löschenden Datei. Dann reicht es nicht mehr, den Eintrag in der Dateiverwaltung, im Inhaltsverzeichnis zu restaurieren. Dann geht nichts mehr.

Und wenn ich der große Unbekannte wäre, dann hätte ich es so gemacht.

Jedenfalls kann es jeder gewesen sein, soviel steht rasch fest. Anhaltspunkte keine. Sieht so aus, als brauchten wir uns keine Unterhaltungsstrategie für das Wochenende mehr zu überlegen.

Die Stimmung ist gespannt, weil jeder über die zusätzliche Arbeit verärgert ist. Bis in den späten Abend hinein wird gearbeitet, und es wird wenig geredet. Außerdem werden Kopien des neuen numerischen Modells der Felsen draußen auf 36-64-er Speicher geschrieben - für alle Fälle.

Natalie schläft diese Nacht kommentarlos in ihrer eigenen Kabine, und daß Carola mein Bett zerwühlt hat, bessert meine eigene Laune durchaus nicht.

Am nächsten Tag, Samstag den 23. Januar 1999, geht es weiter. Carola ist wieder dabei, ausgeschlafen, aber genauso verärgert wie wir. Glücklicherweise macht niemand ihr Vorwürfe, weil dazu objektiv auch kein Grund besteht. Ich hatte etwas die Befürchtung, daß das der Fall sein könnte, weil unter einer solchen Anzahl von Menschen immer jemand unter Unkenntnis des genauen Herganges vorschnell konkret Verantwortliche benennt.

Wir haben eine Routine-Tätigkeit für die letzten Tages des Lenzens erwartet, aber es bleibt nicht so. Und es ist Carola, der es kurz vor zehn Uhr zuerst auffällt:

"Was ist denn da los?" fragt sie, "Die Systemauslastung ist so hoch. Kosten denn unsere grafischen Korrekturen soviel Rechenzeit?"

"Vielleicht," meint Edwin, "ich habe es gestern nicht gemessen. Woran merkst du es überhaupt?"

"Da sind CPU-Warteschlangen von nicht unerheblicher Länge."

"Tatsächlich? Dann müßten mehr Prozesse als Prozessoren vorhanden sein. Kann ich mir nicht vorstellen."

Unsere beiden Chefinformatiker klemmen sich hinter das Problem, wenn auch nicht allzu lange, weil es ja eigentlich niemanden und nichts behindert. Sie finden wenig heraus:

"Die meisten Prozesse sind unsichtbar. Also wahrscheinlich unter der Supersuperuser-Kennung." stellt Carola fest, "Der supersuperuser verbraucht also im Moment die meisten Systemresourcen."

Die Mitarbeiter sehen sich betreten an. Schon wieder geht etwas vor sich, und keiner weiß, was es zu bedeuten hat. Kein Hinweis, ob uns in der nächsten Sekunde weitere böse Überraschungen blühen.

Es ist anders als am letzten Montag, wo auch zahllose Prozesse die Rechnerauslastung und damit die CPU-Warteschlangen in die Höhe trieben. Damals haben wir gesehen, wie das Programm hieß, mit dem alle Rechenresourcen bedroht wurden, weil dieses Programm auf allen möglichen User-IDs lief. Jetzt sehen wir in der Prozeßübersicht nichts. Das läßt nur den Schluß zu, daß diese unsichtbaren Aktivitäten ausschließlich unter der supersuperuser-Kennung ablaufen.

Was hat der supersuperuser vor?

Wir finden es nicht heraus. Der Samstag vergeht arbeitsam und unspektakulär. Bis in den späten Abend hinein arbeiten wir, und dann haben wir wieder ein so genaues Modell des Felsens da draußen, daß wir tatsächlich die ersten wohlbegründeten Aussagen über die herrschenden Kraftfelder machen können. Kurz nach 22 Uhr ist Wellington wieder bei uns, und Edwin faßt die Ergebnisse des Tages zusammen:

"Also, wir wissen jetzt ziemlich genau, wie groß die Unterstützungsfläche des großen Felsens da draußen ist, Das heißt, die größtmögliche Fläche, die noch mit den Messungen vereinbar ist, und die kleinste Fläche sind kaum unterschiedlich. Außerdem wissen wir auch schon ziemlich genau die Dichte und die Masse des Felsens, und wo er von wesentlichen Kraftflüssen durchsetzt wird."

"Das haben sie aber nicht durch die optische Korrektur herausgefunden?" fragt Wellington.

"Nein. Das sind im wesentlichen die Echolotresultate. Allerdings ist das numerische Modell durch die optischen Korrekturen verbessert worden, und dann findet sich das Auswerteprogramm tatsächlich in den vielen Reflexionen zurecht. Unsere Arbeit war nicht umsonst."

"Wunderbar."

"Ja. Also, es sieht so aus: Zum einen scheint es nicht so zu sein, daß der Sonnenstein, oder der Altarstein oder wie wir ihn nennen wollen, den Felsen stützt. Frau Gohlmann's Idee war nicht richtig."

Edwin sieht Gabi an: "Eine hervorragende Idee, und es hätte ja sein können. Wir mußten dem nachgehen."

Gabi zuckt mit den Schultern, sagt aber nichts, und Edwin fährt fort:

"An der anderen Seite des Felsens gibt's kaum Kraftflüsse. Die Idee, daß man durch Entfernen dieses Sonnensteins eine Stütze entfernen kann, war also nichts. Aber, und das wenigstens ist erfreulich, die Unterstützungsfläche des großen Felsens ist kleiner, als wir früher angenommen haben - rund um sein Fuß herun liegt Kleingeröll, das vermutlich nicht sehr viel zur Stabilisierung des Felsens beiträgt."

"Vermutlich?"

"Bei diesem Kleingeröll kann man kaum etwas machen, weder mit Radar noch mit Schallwellen. Wir kennen die mechanischen Eigenschaften dieses Kleingerölls einfach nicht. Allerdings nehme ich an, daß, gemessen an der Gesamtmasse des Felsens und an den Gewichten, mit denen wir es hier zu tun haben, dieses Kleingeröll praktisch vernachlässigt werden kann."

"Gut."

"Dann läuft das gesamte Modell darauf hinaus, daß der große Felsen da draußen auf seiner äußersten Kante steht. Wenn unser Boot nur einen geringfügig größeren Durchmesser gehabt hätte, dann wäre er übergekippt, und das Boot wäre nicht eingeklemmt worden. - Aber es ist vielleicht ganz gut, daß es so gekommen ist, weil, wenn dieser Felsen kippt, dann wird er sich unkontrolliert bewegen, bis er zur Ruhe kommt. Und dabei könnte er durchaus zurückrutschen und das Boot wirklich zerquetschen. Das heißt, wenn das Boot am Boden läge. Das tut es im Moment aber nicht."

"Sie haben das Problem schon gut durchdacht!" stellt Wellington fest.

"Ich möchte ja auch am Leben bleiben!"

"Natürlich. - Also, was Sie herausgekriegt haben ist, daß es nur noch einer kleinen, zusätzlichen Kraft bedarf, und wir sind frei!"

"Ja. In einem Satz gesagt. So ist es."

"Und daß der Felsen dabei unkontrolliert herumrollen könnte, so daß das Boot in um so größerer Gefahr ist, je näher es sich am Höhlenboden befindet."

"Ja."

"Sind wir bei der momentanen Position des Bootes außer Gefahr?"

"Glaube ich nicht," sagt Edwin, "vergleichen Sie doch die Größe des Bootes mit der Größe des Felsens! - Es ist nur so, daß wir noch schlimmer dran sein könnten."

"Kann man auf dem Rechner eine Simulation des Kippvorganges machen?"

Edwin sieht mich und Carola an: "Das müßten wir noch untersuchen. Von der Rechenkapazität her sicher. Ist eine Softwarefrage."

"Zweite Frage wäre natürlich, wie wir den Felsen zum Kippen bringen." denkt Wellington laut nach, "Wahrscheinlich denken wir alle an eine Explosion am Fuße des Felsens. Und möglicherweise wäre das sogar ohne Gefährdung des Bootes machbar, weil der Felsen selbst die Druckwelle vom Boot abschirmt."

Niemand äußert sich dazu.

"Könnte man auch das simulieren?"

"Müssen wir alles erst rauskriegen." sagt Edwin.

"Das werden wir heute wohl nicht mehr schaffen. - Machen Sie sich bitte alle Ihre Gedanken darüber. Gute Nacht, meine Damen und Herren!"

Und das tun wir. Die Aussicht, bald wieder in der Kantine, die jetzt völlig frei von Wasser ist, an ebenen Tischen zu essen und überhaupt nicht jede denkbare Tätigkeit irgendwie zwischen den schiefen Winkeln von Wänden und dem Fußboden hineinzuimprovisieren ist zu verlockend. Im Laufe des Sonntages wird das Boot ganz frei von Wasser sein, wenig später werden sämtliche Folgen des eingedrungenen Wassers behoben sein - es sind wenige: Es zahlt sich aus, von allen Materialien das Beste zu nehmen.

Dumpf erinnere ich mich an einen Vorfall aus der Geschichte der deutschen Bundesmarine: Da wurden irgendwelche Bauteile für U-Boote angeliefert, und sowohl aus Sparsamkeitsgründen als auch aus Geheimhaltungsgründen - der Lieferant oder Hersteller wußte nicht einmal, daß seine Teile für ein U-Boot bestimmt waren - waren eben diese Teile nicht einmal rostfrei geschweige denn seewasserfest. Ich weiß nicht, ob diese Anekdote wirklich auf Tatsachen beruht.

Also den Felsen zu kippen, das ist jetzt das Hauptproblem. Das numerische Modell der Felsengeometrie da draußen noch weiter zu präzisieren lohnt nicht, und besonders Edwin und Carola sind am Sonntag damit beschäftigt, herauszufinden, ob mit der Bordsoftware ein Kippen des Felsens simuliert werden kann. Das ist das eine Problem, das andere ist, wie man das Kippen zustande bringt. Sonntag um elf Uhr gibt es dazu eine Besprechung in der Zentrale. Wer nichts zu tun hat ist zugegen.

Amerlingen ergreift das Wort: "Sie wissen, worum es geht. Den Felsen zu kippen. Wir wollen immer noch die Anwendung von Explosivmitteln vermeiden. Hat jemand Vorschläge? Ideen?"

Seltsam hat eine Idee: "Zertrümmerung durch Temperaturschock. Mit Flüssigluft!"

"Schwachsinn!" sagt Reinhardt, "Wie soll die dahinkommen?"

"Durch ein Rohr!"

"Und wie verlegt man das? Und können wir Flüssigluft gegen den Außendruck anpumpen? - Völliger Schwachsinn!"

"Nicht so schnell, Herr Doktor Reinhardt!" rügt Amerlingen, "Das müssen wir schon genauer durchsprechen, bevor wir es ausschließen können!"

Mir scheint die Idee auch weit hergeholt, insbesondere auch deshalb, weil es nicht möglich ist, dabei explosive Vorgänge vollständig zu vermeiden, wenn man tatsächlich das Kunststück zustande gebracht haben sollte, die Flüssigluft bis an den Fuß des Felsens gebracht zu haben.

McKenzie schüttelt den Kopf: "Unsere Möglichkeiten, außerhalb des Bootes irgend etwas zu bauen, sind praktisch Null. Wir können Kameras und seismische Sprengkörper spazierenfahren. Das ist alles."

"Und wenn man in einem der seismischen Torpedos statt einer Sprengladung einen Behälter mit Flüssigluft spazieren fährt?"

"Wie wollen Sie verhindern, daß der nicht vorher verdampft?" fragt Priest, "Es würde nämlich eine Weile dauern, bis man den Behälter an Ort und Stelle hat. Das braucht alles seine Zeit - Ausschleusen und draußen manöverieren. - Außerdem möchte ich an den Hochdruckschleusen unter keinen Umständen flüssige Luft haben! Wenn da irgend etwas schief geht, der Rumpf zerknackt uns wie nichts!"

"Und wenn man schnell arbeitet!" schlägt Seltsam vor.

"Manche Dinge lassen sich nicht beschleunigen. Und dann, das kommt auch noch dazu: wenn ein Flüssigluft-Torpedo erst draußen ist, wo soll das Gas hin, das ständig verdampft? Ob das Torpedo dann noch funktioniert, unter Druck und Kälte, das müssen wir erst prüfen. - Noch was: Temperaturschock kann man am besten applizieren, wenn man das zu zerstörende Material in direkten Kontakt mit der verflüssigten Luft bringt. Das können wir aber auch nicht. Gesetzt den Fall, wir haben ein Flüssigluft-Torpedo. Das könnten wir zum Fuße des Felsens bringen und dort liegenlassen, um abzuwarten, bis es durch den Gasdruck gesprengt wird. Dann ist der größte Teil der Flüssigluft bereits verdampft, und es gibt nicht viel Temperaturschock. Und schon gar nicht kommt es dazu, daß Fels und Flüssigluft direkten Kontakt miteinander bekommen. - Nein, es geht nicht."

"War ja auch nur ein Laienvorschlag." hören wir Dr. Reinhardt. Es ist unverschämt, wie der mit Seltsam umgeht.

Das findet Amerlingen offenbar auch: "Es ist aber der erste Vorschlag überhaupt gewesen. Was haben Sie denn vorzuschlagen, Herr Doktor Reinhardt?"

"Seismische Torpedos mit reduzierter Sprengladung. Das bringt das Boot nicht in Gefahr!"

"Nein nein," schüttelt Priest den Kopf, "auf keinen Fall. Wir wollen den Felsen nicht streicheln, sondern umkippen. Zum Einen. Und zum anderen: Ich will außerhalb der Torpedos diesen Sprengstoff nicht an Bord haben. Wir müßten ja welchen herausnehmen. Und auch das ist schon zu gefährlich. - Nein. Wenn es nicht unbedingt notwendig ist, werden wir diese Torpedos nicht öffnen. Da ist es schon ungefährlicher, ein seismisches Torpedo in seiner vollen Stärke dort explodieren zu lassen."

"Kann man die Explosion dieser Torpedos nicht sowieso beeinflussen?" frage ich, "Ich erinnere mich so dunkel, daß das möglich ist!"

"Jaja, Sie haben recht. Das ist vorgesehen. Durch die Art der Zündung kann man einige Explosionsparameter beeinflussen. Aber wir werden die volle Wirkung brauchen. Worüber wir uns unterhalten sollten ist, wie wir, trotz maximaler Wirkung, die Druckwellen vom Boot selbst möglichst fernhalten." Priest lehnt sich zurück: "Meiner Meinung nach gibt es nur eines, was wir variieren können: Den Ort der Explosion. - Da sind wir vielleicht wieder auf Simulationen angewiesen."

"Rau und Daum sind schon bei der Arbeit," sage ich, "wenn die rauskriegen, wie man das Kippen des Felsens simulieren kann, dann können sie auch rausfinden, wie die Druckwellen sich verhalten, in Abhängigkeit vom Ort der Explosionen. Herrgott, was sage ich: Das ist doch die ureigenste Aufgabe dieser seismischen Software. Natürlich können sie es rausfinden!"

"Dann lassen Sie mich mal zusammenfassen," mischt Amerlingen sich wieder ein: "Wir können den Ort der Explosion eines seismischen Torpedos optimieren - keinen Schaden am Boot, und der Felsen kippt. Andere Felsen klammern das Boot nicht ein, jedenfalls nicht wesentlich - richtig?"

"Richtig," sage ich, "das ist unser Erkenntnisstand. Bis jetzt."

"Gut. Der Felsen würde kippen, könnte dann aber innerhalb der nächsten Sekunden wieder auf das Boot zurollen. Das Boot muß also nach oben weg. Momentan."

"Auftrieb haben wir bis dahin." sagt Makenzie, "Vorher machen wir das ganze sowieso nicht."

"Ja. Frage ist: Haben wir genug Auftrieb? Der kippende Felsen macht Wirbel. Sog. Ein paar Sekunden lang, aber ich möchte nicht, daß das Boot davon nach unten gerissen wird."

Beunruhigtes Schweigen. Mackenzie denkt laut nach: "Wir könnten die Außentanks verwenden. Dazu brauchen wir immense Mengen an Gas. Aber im Prinzip geht es. Das Boot könnte soviel Auftrieb bekommen, daß es wie ein Fahrstuhl nach oben geht. Aber selbst, wenn wir die Außentanks Sekunden später entlüften, und selbst, wenn das schnell genug geht, dann knallen wir gegen die Höhlendecke."

"Nicht, wenn wir ohne die Außentanks zu schwer sind." sagt Priest.

"Was schlägst du vor?"

"Das Boot muß schwer bleiben. Sehr schwer. Vielleicht schwerer, als es mit allen inneren Tauchtanks erreichbar ist."

"Wenn Sie vorschlagen, wieder Wasser an Bord zu nehmen - da mache ich nicht mit!" sagt Wellington, "Wir sind froh, wenn es jetzt endlich draußen ist!"

Priest nickt: "Ich glaube, das will wohl keiner riskieren. Ich wollte das auch nicht implizieren. Es muß anders gehen."

"Ich glaube," sage ich, "wir haben über uns einen Dom. Wenn wir immense Mengen an Gas herstellen, dann könnten wir dort eine Gasblase haben, so daß das Boot dort quasi auftaucht. Dann wird es gebremst. - Aber ich glaube, die Gasblase wäre nicht sehr groß, und bei dem Druck müßten wir sehr lange Wasser elektrolysieren, um den Dom vollzumachen. - Nein, vergessen Sie's. Es war auch eine Schnapsidee."

Priest nickt: "So würde ich es auch sehen. Bei dem Gas würde es sich schließlich um Knallgas unter hohem Druck handeln, denn gelösten Stickstoff bringen wir hier nie zusammen, nicht in der benötigten Menge, und CO2 würde sich zu rasch wieder auflösen. Stellen Sie sich das mal vor: Wir tauchen in einer Hochdruckknallgasblase auf, ideale stöchiometrische Zusammensetzung, das Boot schlägt doch irgendwo ein bißchen an, es gibt Funken, das Gas explodiert. Was meinen Sie, was von uns übrig bleibt?"

"Ich habe ja gesagt, es war eine Schnapsidee." gebe ich zu.

"Wieweit ist es denn bis zur Höhlendecke?" fragt Seltsam.

"Ein paar dutzend Meter etwa - glaube ich. Fragen wir ..."

"Ist jetzt nicht nötig. Heftige Bewegungen des Bootes werden wir vermeiden, auf jeden Fall." entscheidet Wellington.

"Können wir noch einmal auf den Temperaturschock zurückkommen?" fragt Günther Cohausz plötzlich, "Da haben wir noch nicht alle Aspekte erörtert."

"Ja?" fragt Wellington.

"Flüssige Luft ist natürlich nicht drin. Klar - ist technisch zu schwierig, die dahin zu bringen. Aber es gibt noch andere kalte Flüssigkeiten."

"Nämlich?"

"Salzsole! Salzlösung, eingedickt auf maximale Konzentration und soweit abgekült wie möglich. Und das ist ziemlich weit."

"Wie weit?"

"Ich weiß, ein Chemiker sollte sowas auswendig wissen, aber ich weiß es nicht. Weißt du es, Herwig? Als Physiker muß man doch ..."

"Nein," sage ich, "ich weiß es nicht. Ein paar Dutzend Grad - dreißig, vierzig. Da gibt es thermodynamische Prinzipien, nach denen man das sogar ausrechnen kann. Aber ich habe meine letzten 19 Berufsjahre in der Softwareproduktion zugebracht. Ich weiß gerade noch, daß Salz wasserlöslich ist."

"Meine Fachleute!" schüttelt Wellington den Kopf.

"Wissen Sie es? Sie sind doch auch Physiker?"

Es stellt sich ziemlich rasch heraus, daß niemand von den Anwesenden es auswendig weiß. "Ich weiß die Lichtgeschwindigkeit auswendig!" sage ich schließlich, "das ist die einzige physikalische Größe, die bei mir jemals hängengeblieben ist. Soll ich sie sagen?"

Ich soll nicht. Jedenfalls kann man die Gefrierpunkterniedrigung von Salzlösung leicht nachschlagen, und in der Größenordnung liegen wir wohl richtig.

"Frage ist," nimmt Cohäuszchen den Faden wieder auf, "ob ein paar Dutzend Grad Temperaturunterschied ausreichen, diesen Felsen da draußen zu beeindrucken."

"Und wie wir es hinbringen!" meint Makenzie.

"Das ist weniger schwierig. Unterkühlte Salzlösung läuft auf dem Boden entlang und sammelt sich an der tiefsten Stelle. Wenn das die Stelle ist, wo sie hinsoll, haben wir Glück gehabt!"

Wellington sieht sich um: "Wo ist Herr Amurdarjew?"

"Der optimiert immer noch seine Felsenmodelle! Im vorderen Oberdeck."

Gerald Amurdarjew wird geholt und zu den Eigenschaften des Felsens befragt.

"Ein paar Dutzend Grad Temperaturunterschied? Weiß ich auch nicht, ob das was bringt. Es gibt Felsformationen an der Erdoberfläche, die halten das jeden Tag aus!"

"Aber hier ist nicht die Erdoberfläche!"

"Weiß ich doch! Da draußen sind größere Temperaturunterschiede unüblich. Heute jedenfalls. Vielleicht war es mal anders."

"Alles, was ich heute höre," sagt Wellington, "ist 'weiß ich nicht', 'vielleicht', 'ungefähr', 'könnte sein', 'ein paar Dutzend', 'über den Daumen gepeilt'. Ob ich heute noch mal irgend eine konkrete Aussage zu hören bekomme?"

"Vielleicht," sage ich, "könnte gut sein. Ich weiß es nicht." Es rutscht mir so raus, aber es heißt ja 'Besser einen Freund verlieren als die Gelegenheit zu einer Pointe'.

Wellington sieht mich einen Moment perplex an, dann lacht er laut heraus: "Homberg, wie haben denn Ihre Vorgesetzten das 19 Jahre lang mit Ihnen ausgehalten?"

"Wir waren eben nie in einem U-Boot unterwegs. Und sie haben mich nicht allzuoft etwas Konkretes gefragt."

"Aber können wir das nicht einfacher haben?" führt Amurdarjew wieder zum Thema zurück. Er hat noch einmal darüber nachgedacht: "Ich meine, wenn wir den Felsen mit solchen Mitteln lockern oder zerbröseln wollen."

"Was stellen Sie sich vor?" fragt Wellington.

"Ob kalte Salzlösung dahinfließt, wo sie hinfließen soll, das ist noch sehr die Frage. Aber um irgendwelche Temperaturunterschiede zustande zu bringen, da haben wir doch noch andere Mittel. Oder?"

"Welche?"

"Naja. Die Außenscheinwerfer, zum Beispiel. Sind doch nicht die schwächsten!"

Wellington wendet sich an seine Ingenieure: "Was haben wir denn da zu bieten?"

Priest kratzt sich den Kopf: "Tja, das sieht nicht nicht überragend aus. Man war der Meinung, daß die Leistung eines Weltkrieg-II-Flakscheinwerfers wohl für alle Fälle ausreichen würde. Meistens ist es viel weniger, weil die Außenkameras ja recht empfindlich sind. Wir haben die stärksten Außenscheinfer während dieser Reise auch noch nicht benutzt, ohne daß sie uns abgegangen sind."

"Und wieviel ist das, wenn man es drauf anlegt? Paar Dutzend Kilowatt?"

"Ja. Hochdrucklichtbögen, 500 Volt und 100 Ampere. Ungefähr. Ich muß nachsehen wieviel es genau ist."

"Das sind 50 Kilowatt! Das ist doch ganz ordentlich! Damit kann man im Winter fünf bis zehn Häuser heizen!"

"Nicht so schnell!" schüttelt Priest den Kopf, "Nicht so schnell. Das sind 50 Kilowatt elektrisch rein. Die Scheinwerfer sind gut eingekapselt, weil sie ja wartungsfrei funktionieren müssen. Der Lichtbogen in der Entladungsröhre gibt einen großen Anteil der Energie als Wärme an die Elektroden und an die Wandung der Entladungsröhre ab. Mehr als die Hälfte."

"Das heißt, es kommen noch zwanzig Kilowatt Strahlung raus?"

"Ja. Und das sollte sichtbares Licht sein - dazu ist ein Scheinwerfer ja da. Ist es aber nicht."

"Nein." sagt Wellington. Als Physiker sollte er sich den weiteren Gang der Rechnung vorstellen können. Ich kann es ja auch.

"Ein großer Teil ist Ultraviolett. Wird durch das Wasser absorbiert, und das warme Wasser steigt auf. Und ein ebenso großer Teil ist Infrarot. Wird leider auch absorbiert. Tja. So ist das. Nur das sichtbare Licht kann relativ gut über größere Entfernung geworfen werden. Aber die Bündelung ist auch nicht sehr stark."

"Verstehe," sagt Wellington, "dazu kommt, daß die beschienenen Oberflächen ja wassergekühlt sind."

"Immerhin haben wir mehrere solcher Scheinwerfer an jeder Seite!" versucht Priest zu relativieren.

"Nein," sagt Wellington, "es ist doch nur zu klar: Weniger als 20 Kilowatt Licht. Das vielleicht mehrmals. Entspricht schon in wenigen Metern Abstand der Beleuchtung durch die Sonne. Im Wasser bringt das nichts. Gar nichts."

Die Idee ist damit gestorben. Bleibt die kalte Salzsole. Da müssen wir noch Einzelheiten ausdiskutieren.

Da Amurdarjew gerade da ist, zieht er uns diesen Zahn auch gleich: "Da sind eine ganze Menge Stellen im umgebenden Terrain, die tiefer als die Unterstützungsfläche des Felsens sind. Selbst, wenn wir Kubikmeter von kalter Salzsole innerhalb von Sekunden ausschleusen - die fließt nicht dahin, wo wir sie hinhaben wollen. Ich wollte es vorhin schon sagen."

"Sicher?" fragt Wellington.

"Sehen Sie sich die Außenansichten an! Man sieht es mit bloßem Auge!"

Eine Weile schweigen alle, sehen betreten von einem zum anderen. Jeder hofft, daß einer eine rettende Idee hat. Jeder hofft, daß jemand etwas sagt.

Es sagt auch jemand etwas. Jemand, den niemand gefragt hat.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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