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45. Augenrollen
Eigentlich ist es schade, daß wir soviel intellektuellen Aufwand darauf verschwenden müssen, hier rauszukommen. Die Frage, wieso sich gerade hier diese Kultstätte befindet, bekommt unsere Aufmerksamkeit nur in so weit, wie das für unser Überleben von Interesse ist. Ich wette, wenn sich später einmal jemand die Aufzeichnungen der CHARMION ansehen sollte, dann wird es Vorwürfe geben: 'Wieso habt ihr nicht noch das und das und das untersucht? Das lag doch nahe! Das wäre doch ganz einfach gewesen! Das hätte man doch nebenbei noch ganz schnell machen können!'
Vielleicht kommen wir aber doch noch dazu, weil wir ja konkret nichts unternehmen können, bis das Boot vollständig gelenzt ist. Und das sind noch einmal 80 bis 100 Stunden, von jetzt an. Genau kann man das nicht sagen, weil man ja nie genau weiß, wieviel Wasser man für die Reinigungsarbeiten noch brauchen wird.
Und weil wir noch soviel Zeit haben, stürzen wir uns am nächsten Tag, dem 22. Januar, alle darauf, das numerische Modell der einklammernden Felsen zu präzisieren. Längst ist die Drone wieder an Bord genommen und zwei andere sind ausgeschleust worden. Wir nehmen uns die Zeit, das numerische Felsenmodell durch stereoskopische Vergleiche zu korrigieren.
Es wird zwar auch erwogen, durch sehr kleine seismische Explosionen außerhalb des Bootes weitere Daten zu erhalten, aber wegen der komplizierten Geometrie im Geröllfeld ist das nicht unbedingt zuverlässiger als das, was wir von Bord aus machen können. Außerdem hat es in den letzten Stunden wenigstens eine Bewegung eines mittelgroßen Felsbrocken gegeben. Wir haben rausgekriegt, daß der sich um wenige Millimeter gesetzt haben muß. Aber wir können nur vermuten, um welchen Felsbrocken es sich dabei gehandelt hat, denn die konkreten Hinweise bestanden nur aus Phantomechos, die sich geändert hatten und die keinem bestimmten Felsbrocken zugeordnet werden konnten.
Also Vergleich der perspektivischen Ansichten des numerischen Modelles und der Außenaufnahmen der Dronen. Aus immer wieder verschiedenen Blickwinkeln werden die Bilder in Fenstern auf den Bildschirmen dargestellt. Im allgemeinen arbeiten wir dabei mit jeweils vier Bildern für eine Einstellung: Zwei echte Außenaufnahmen, eine fürs rechte und eine fürs linke Auge, und zwei aus dem numerischen Modell errechnete Ansichten von denselben Positionen aus, also ebenfalls ein Bild fürs rechte und eins fürs linke Auge.
Damit kann man auf vier verschiedene Methoden ein plastisches Bild gewinnen: die echten Aufnahmen, je eines fürs rechte und eines fürs linke Auge, die errechnenten perspektivischen Ansichten, und gemischt: errechnet fürs linke, echt fürs rechte Auge, oder umgekehrt. Wenn man zwischen diesen verschiedenen Ansichten hin- und herwechselt, dann gewinnt man bald einen Eindruck, wo das numerische Modell noch ungenau ist und noch verbessert werden muß. Das kann man dann korrigieren, die perspektivischen Ansichten von neuem ausrechnen und so fort. Sukzessive wird das numerische Modell der Felsen rundherum immer besser.
Ich bin da in einem gewissen Vorteil. In frühester Kindheit hatte ich irgendwann mit Faszination begriffen, wie das räumliche Sehen funktioniert. Mangels irgendwelcher technischer Hilfsmittel habe ich damals angefangen, räumliche Zeichnungen zu machen, also Doppelzeichnungen, für jedes Auge eine Einzelzeichnung. Dann muß man normalerweise jedes Auge zwingen, nur eine Zeichnung anzusehen, und das macht man am besten, indem man ein Blatt Papier so vor die Nase hält, daß kein Auge die Zeichnung, die für das andere Auge bestimmt ist, sehen kann.
Als kleiner Junge lernt man aber viele Dinge viel schneller als in unserem jetzigen, verkalktem Alter. Bald schon brauchte ich diese Hilfsmittel nicht mehr. Und seit der Zeit kann ich, wenn ich will, meine beiden Augen ziemlich unabhängig voneinander steuern, jedenfalls, soweit die Anatomie das zuläßt.
Das wäre zum Beispiel nützlich, wenn es zu meinen Hobbies gehörte, diese Suchbildrätsel in Illustrierten zu lösen - zwei Bilder, zehn Unterschiede. Für mich überhaupt kein Problem, egal, wie gering diese Unterschiede sind. Ich sehe mit jedem Auge auf eines der Bilder, und mit einem Blick habe ich alle Unterschiede. - Im Prinzip könnte jeder normale Mensch mit dem Hilfsmittel des Papiers vor der Nase solche Rätsel blitzschnell lösen. Aber es hat sich wohl noch nicht rumgesprochen, denn sonst wäre es witzlos, noch weiter solche Bildrätsel abzudrucken.
Jetzt aber bin ich derjenige, der die meisten anderen Mitarbeiter in diesen Tricks instruieren muß. Das heißt aber auch, daß ich dauernd in unserem Arbeitsraum auf- und abturnen muß.
Bei diesem absichtlichen Doppelsehen gibt es eine Schwierigkeit. Wenn man die Sehachsen beider Augen auseinandersteuert - egal, ob mit irgendwelchen Hilfsmitteln oder ohne - dann ändert sich auch die Akkomodation der einzelnen Augen - sie stellen sich auf größere Entfernungen ein, und dann sieht man eventuell die Bilder auf dem Bildschirm vor sich nicht mehr scharf. Bei mir ist das anders, weil ich offenbar auch die Entfernungseinstellung meiner Augen in den inkonsistenten Zustand hineinführen kann, aber andere haben da so ihre Schwierigkeiten.
Ausgenommen, man ist kurzsichtig. Carola, zum Beispiel. Sie hat etwa vier Dioptrien minus. Da geht die einfach auf 25 Zentimeter auf den Bildschirm ran und nimmt die Brille ab. Einstellung der Augen auf unendlich. Die beiden Bilder, die sie auf dem Bildschirm stereoskopisch ansehen will, müssen dann gerade in eine Abstand von etwas mehr als sechs Zentimetern sein, also gerade der Anstand zwischen ihren Augen. Da sind auch ihre Sehachsen parallel, und optisch ist die ganze Situation so, als ob sie eine plastische Szene in großer Entfernung sieht. Es dauert bei ihr eine Weile, bis sie es hingekriegt hat, aber dann geht es ganz gut. Andere, wie zum Beispiel der Pater, experimentieren lange rum und kommen doch nicht zu einem vernünftigen Bild. Wahrscheinlich hat er auch mit Weitsichtigkeit zu kämpfen.
Wenn man schon stereoskopische Messungen macht, dann ist man, sowohl bei photographierten als auch bei errechneten Bildern, nicht auf den naturgegebenen Abstand beider Augen festgelegt. Insbesondere einen größeren Gegenstand aus größerer Entfernung plastisch zu betrachten macht Schwierigkeiten, weil beide Teilbilder einander schon zu ähnlich sind. Die Lösung ist einfach die, die Aufnahmestandpunkte voneinander zu entfernen. Der Eindruck der absoluten Größe der betrachteten Gegenstände stimmt dann zwar nicht mehr, aber die Formen kann man ganz genau erfassen. - Auf diese Weise habe ich schon schöne Bergaufnahmen gemacht, die sehr plastisch sind, aber die alle etwas daran kranken, daß die Landschaft die Dimensionen einer Spielzeuganlage zu haben scheint.
Gerade, als Carola die Technik noch mit am besten zu beherrschen scheint, steht sie auf: "Ich geh jetzt schlafen!" sagt sie entschieden.
"Wieso denn das? Wir haben zu tun!" frage ich.
"Ich hatte heute Nachtwache!"
"Ach so. Hatte ich vergessen. - Ja, warum bist du denn überhaupt hier?"
"Ich habe den Fehler gemacht, gegen Morgen Kaffee zu trinken. Außerdem war ich neugierig. - Schönen Tag noch, und schönes Augenrollen!"
Spricht's und hangelt sich zum zentralen Niedergang hinauf, um von dort ihre Kabine zu erreichen. Natürlich hat sie ein Recht auf ihren Schlaf. Wenn sie richtig ausgeschlafen ist, wird sie die stereoskopischen Korrekturen sogar noch besser beherrschen. Es ist immer meine Meinung gewesen, daß man nur im ausgeschlafenen Zustand wirklich Leistung bringen kann.
Beim Mittagessen, das wir alle irgendwie zwischen den schrägen Wänden im vorderen Oberdeck, in der Zentrale, im Krankenrevier oder in den Maschinenräumen improvisieren - wo man eben am besten Platz findet - fragt Natalie mich, wie wir das Wäschewaschen aufteilen sollen, wenn das Boot erst wieder auf ebenem Kiel liegt und wir vernünftig an die Waschmaschinen im vorderen Unterdeck rankommen.
"Was soll das heißen?" frage ich, "Jeder wäscht sein eigenen Krempel, wie bisher auch. Was soll da aufgeteilt werden?"
Sie redet etwas von Optimierung durch Zusammenlegen ähnlicher Dinge.
"Müssen wir denn das jetzt besprechen? Das ergibt sich, wenn wir erst einmal soweit sind!"
Sie wechselt das Thema. Irgendwie habe ich das Gefühl, daß sie auf etwas ganz anderes hinauswollte.
Wäschewaschen, jetzt. Als ob wir nicht andere Sorgen hätten. - Weiber.
Am Nachmittag haben wir alle schon viel mehr Routine, so daß nebenher Gespräche über andere Dinge geführt werden können - diese Geometriekorrekturen arten nämlich in langweilige Arbeit aus, und der einzige Vorteil ist der, daß, wer hier an den Bildschirmen arbeitet, keinerlei implizite Verpflichtung hat, sich an der Säuberung der Schiffseinrichtungen, die vom zurückweichenden Wasser freigegeben werden, zu beteiligen.
"Gibt's hierfür Erschwerniszulage?" fragt Cohäuszchen, "Herwig, du kennst doch unsere Verträge so genau!"
"So genau kenne ich die nicht," widerspreche ich, "aber ich glaube, nicht. In lebensgefährlichen Situationen ist es Lohn genug, mit dem Leben davonzukommen. - Außerdem ist diese Arbeit nicht besonders schwer."
"Und für das Finden dieses Kultortes?"
"Da gibt es vielleicht etwas. Aber die EG legt natürlich Wert auf Dinge, die man irgendwann einmal wirtschaftlich ausbeuten kann. So etwas wie eine Stätte mit archäologischen Besonderheiten ist da eher hinderlich, weil an genau der Stelle andere wirtschaftliche Aktivitäten nicht so leicht möglich sind."
"Da setzen die sich drüber weg. Bestimmt." sagt Solzbach.
"Ja. Kann sein. Aber wir nehmen ja alles mit, was wir von dieser Stätte in Erfahrung bringen können - zahllose Aufnahmen, genaueste Vermessung. Nicht aus archäologischer Begeisterung, sondern weil wir's jetzt eben brauchen. Nicht mal die Erbauer haben ihre Steine so gut gekannt wie wir es jetzt tun. - Sozusagen machen wir jetzt ihr Werk unsterblich!"
"Selbst, wenn wir es kaputt machen müssen." wirft Reinhardt ein.
"Selbst, wenn wir es kaputt machen müssen. Ja. Wenn das die einzige Möglichkeit ist, hier rauszukommen, werden wir das tun."
"Widerspricht das nicht deinem Wunsch, alles, was mit der Welthöhle zusammenhängt, möglichst unberührt zu lassen?" fragt Edwin.
"Natürlich. Habe ich das bestritten? Aber weiterleben möchte ich auch. - Außerdem - im großen Rahmen dürfte diese Stätte nicht einmalig sein. Wir haben sie als erste gefunden, das ist alles. Vielleicht sind wir schon an anderen derartigen Stellen vorbeigekommen, aber erst hier haben wir uns die Gegend genau genug angesehen. Das wäre übrigens ein Punkt, der mich wirklich interessiert: Kurz, bevor wir den Wassereinbruch hatten, hat sich das Boot genau hier befunden, bloß ein paar Meter höher, und hat im Vollbesitz seiner navigatorischen Fähigkeiten navigiert. Die Umgebung wurde auf das genaueste abgetastet. Aber das System hat nicht festgestellt, daß hier Felsformationen sind, die sich nur durch eine künstliche Entstehung erklären lassen. Wie kommt das?"
"Die Navigation soll aufpassen, daß das Boot nicht gegen die Wand fährt," meint Edwin, "ich glaube nicht, daß darüber hinaus so viel geprüft wird. Die Geometrie der Umgebung wird einfach abgespeichert. - Schade, daß sie gelöscht worden ist, sonst könnten wir noch einmal nachsehen."
"Oder auch nicht," sagt Reinhardt, "der Felsen hier ist ziemlich steil. Dieser Altarstein, oder was immer es ist, lag im toten Winkel. Selbst, wenn einer von uns zur richtigen Zeit den richtigen Bildschirm angesehen hätte, hätte er vielleicht nichts bemerkt. - Und an wieviel Stellen wir vorbeigekommen sind, die vielleicht auch interessant gewesen wären, das wissen wir auch nicht. Außer dieser komischen Kaimauer vor einer Woche war ja noch nichts, oder? Oder hat jemand noch etwas gesehen?"
Amurdarjew dreht sich zu uns um, und seinen Bewegungen ist die Verkrampfung durch das schiefe Sitzen deutlich anzusehen: "Schon haarig genug, diese beiden Beobachtungen. Wenn das da am letzten Freitag tatsächlich eine Kaimauer war, dann ist jene Höhle einmal für lange Zeit nur teilweise mit Wasser gefüllt gewesen. Für so lange Zeit, daß irgend jemand die Mühe auf sich genommen hat, diese Mauer zu bauen. Und hier sieht es so aus, als ob die Höhle an dieser Stelle einmal ganz trocken gewesen ist. Obwohl wir hier eine viel größere Tiefe haben. Und obwohl von dort nach hier eine Verbindung besteht."
"Heute. Damals vielleicht nicht." sage ich.
"Vielleicht. Ein großes, konsistentes Bild habe ich noch nicht. Vielleicht kann man sagen, daß dieses Gebiet tatsächlich einmal ein Zugangsweg zur Welthöhle gewesen sein könnte - lange Zeit aus geologischen Gründen wasserfrei und begehbar. Der Pfad, auf dem beide Ökosphären sich berührt haben. Und jetzt ist der Pfad eben zu. Dafür spricht auch die Existenz des Weges, den Sie, Herr Homberg, aus der Welthöhle heraus genommen haben!"
"Ja?"
"Ja. Dieser Weg könnte zu einer Zeit eingerichtet worden sein, wo diese Höhlen durch Wassereinbruch unpassierbar wurden. Eine Ersatzlösung. Denken Sie an die vielen Dinge, die sie gesehen und beschrieben haben, für die sie aber keine Erklärung wußten. Kann alles mit dem Management von eingedrungenem Wasser zu tun haben. Es war ganz gewiß nicht einfach, dieser Weg nach oben zu bauen."
"Interessante Idee. Bin ich noch nicht drauf gekommen." sage ich.
"Vielleicht," fährt Amurdarjew fort, "vielleicht ist sogar die Absperrung dieser Höhle gegen die Welthöhle künstlich. Wir werden es sehen, wenn wir dahinkommen sollten. Sonst hätte die lichte Weite dieser Höhlen ausgereicht, die Welthöhle in geologischen Zeiträumen vollaufen zu lassen. - Sowieso merkwürdig genug, daß die Wassermengen der Weltmehre in diesen langen Zeiträumen keinen Weg in die Welthöhle gefunden haben."
"Denken Sie etwa, daß immer noch jemand am Abdichten ist?"
"Das habe ich nicht gesagt. Aber es ist eben merkwürdig. Und die Idee einer künstlichen Barriere will mir nicht in den Kopf. Denken Sie bloß an den Druckunterschied!"
"Wieso - daß diese Absperrung künstlich ist, damit rechnen wir doch mehr oder weniger alle, oder?" fragt Edwin, "Denn dann wäre tatsächlich ein Weg in die Welthöhle möglich. Ich denke, jeder von uns denkt dabei an einen Wippstein, und ich frage mich, warum keiner es ausspricht!"
Ein Moment Stille. Zweifellos hat er recht. Ohne Zugang zur Welthöhle ist diese ganze Expedition ziemlich sinnlos, und wenn es diesen Zugang gibt, dann wird er in mehrfacher Hinsicht merkwürdig sein müssen.
"Ich verstehe ja nicht viel von Geologie," denkt Edwin laut nach, "aber ist es nicht auch so: Wenn irgendwann einmal auch nur das kleinste Rinnsal bis zur Welthöhle durchgesickert ist, dann ist das nicht von selbst wieder versiegt. Nicht bei dem Druckunterschied. Es muß immer weiter aufgerissen worden sein. Daß sich also kein breiter Strom in die Welthöhle hinein entwickelt hat, zu irgend einem Zeitpunkt, das ist doch absolut unerklärlich!"
"Interessanter Gedanke, Edwin!" sage ich, "Aber die ganze Welthöhle ist ja unerklärlich. - Tja."
"Schon aufregend." höre ich Natalie.
"Ja. Schon aufregend. Aber es reicht uns ja offenbar nicht. Deshalb haben wir jemanden an Bord, der sich alle Mühe gibt, es für uns noch aufregender zu machen."
"Ach - schon seit über hundert Stunden war doch nichts mehr!" sagt Solzbach.
"Vielleicht hat er oder sie sich es überlegt und eingesehen, daß er oder sie nichts davon hat." Das war Pater Palmer.
"'Er oder sie' - immer schön ausgewogen!" sage ich, "Aber ich glaube nicht dran: überlegen im Sinne von 'Strategie ändern', nicht von 'Einsicht haben'. Das vielleicht." Und nach einer Weile sage ich: "Das ist meine einzige Hoffnung, daß es so ist. Daß derjenige selbst überleben will. Sonst meldet der schwarze Kradmelder uns alle demnächt ab."
"Der wer?" fragt Palmer.
"Pater, wir sind doch noch in einer Zeit aufgewachsen, in der jeder zum Militär durfte! War bei Ihnen diese Redensart nicht üblich? - Ach, ich vergesse: Studenten der Theologie waren vom Wehrdienst ausgenommen, nicht wahr?"
Palmer sieht so aus, als ob er diese Bemerkung nicht mag, aber er sagt nichts. Cohäuszchen wechselt das Thema:
"Versetzen wir uns doch mal in unseren schwarzen Kradmelder! Was würde der beim nächsten Mal tun? Und wann?"
"Ich denke an nichts anderes!" sage ich, "Im Moment ist es so, daß jeder im Schiff mit jemandem anderem zusammenarbeitet - wir hier, vorne im Schiff beim Aufräumen, in der Zentrale. Niemand hat Gelegenheit, unbeobachtet zu sein."
"Die Frau Rau?" schlägt Natalie vor, "Die liegt im Moment alleine in ihrer Koje. Niemand weiß, was sie macht."
"Du kennst sie nicht," sage ich, "natürlich kann ich es dir nicht glaubhaft machen. Aber Edwin und Carola sind für mich weit jenseits jeder Verdächtigungsmöglichkeit. Wir waren so lange im selben Team."
"Ja?"
"Geh hin. Sieh nach. Ich bin sicher, sie pennt. - Sieh nach, weck sie auf, frag sie, was sie Böses plant. Machst dich sicher sehr beliebt!"
"Das tue ich. Wellington hat gesagt, wir sollen uns gegenseitig in unregelmäßigen Abständen kontrollieren! - Außerdem muß ich mir die Beine vertreten."
"Dann tu's doch." schlage ich vor.
Natalie steht auf, reckt sich und turnt zum zentralen Niedergang hinauf. "Ich werde sie nicht wecken, wenn sie wirklich schläft." verspricht sie.
"Pingelig." sagt Edwin, als sie draußen ist.
"Ne, wieso denn?" nehme ich Natalie nach einer Weile in Schutz, "Sie macht es schon richtig. Jeder überprüft jeden. Und wenn wir das Antipathie-gesteuert machen ist es auch gut. Jeder hat andere Intimfeinde, und so kommt jeder mal dran. - Und wie sähe das denn aus, wenn ich jetzt auf die Idee käme, bei Carola in die Kabine reinzuschauen?"
Edwin kommt nicht dazu, zu antworten. Natalie stürzt wieder in unseren Arbeitsraum herein - fast wäre sie wirklich gestürzt und dann bis zum Kantinenniedergang durchgeschlittert. Die momentane Lage des Bootes ist der Arbeitssicherheit nicht gerade förderlich.
"Sie ist weg!" ruft sie atemlos.
"Carola? Aber das ist doch nicht möglich!"
"Doch!"
"Du hast in die falsche Kabine reingesehen!"
"Ich kann doch lesen!"
Zwei Sekunden überlegen. "Vielleicht ist sie auf der Toilette?"
"Ihr Bett ist gemacht! Schief, aber gemacht! Sie war noch gar nicht drin!"
"Alles auf!" entscheide ich, "wir suchen sie!" Ich nehme das Interkom, aber Wellington hat schon alles mitgekriegt. Innerhalb weniger Minuten sind wir dabei, das ganze Schiff abzusuchen, jeder einzelne von uns, die gesamte Besatzung. Alle anderen Arbeiten bleiben stehen und liegen.
An Bord dieses Schiffes kann niemand verloren gehen, das wenigstens ist sicher. Umso größer ist die allgemeine Aufregung, als es nicht gelingt, Carola innerhalb der ersten paar Minuten der Suche zu finden. Ich treffe in unserem Kabinengang Priest und Mackenzie, die gerade vom Bug her raufkommen, als ich da hinunter will.
"Ist es möglich, daß sie da vorne im Wasser liegt?" frage ich.
"Sehen Sie doch nach! Sie müßte fast vor unseren Augen reingesprungen sein! Die ganze Zeit war die ganze Wasseroberfläche unter Aufsicht - wir arbeiten doch dauernd in der Nähe der gerade trockengefallenen Einrichtungen! Das ist unmöglich, da ist sie nicht."
Die beiden wollen sich weiter nach vorne drängen. Vom zentralen Niedergang her taucht Natalie, deren Suchalgorithmus nicht besonders systematisch ist, auf. Da öffnet sich die Tür meiner Kabine.
"Ich habe mich in der Kabine geirrt. Stört es dich sehr?" fragt Carola verschlafen, als sie mich als ersten sieht, dann fängt sie an, sich über den Auflauf zu wundern: "Was ist denn los?"
"Ach." sagt Natalie. Mehr nicht.
"Du machst vielleicht Sachen! Wie kannst du dich in der Kabine irren?"
"Sie liegen doch nebeneinander! - Was ist denn los, warum ..."
Mit wenigen Worten erkläre ich ihr, daß sie das Opfer einer Routinekontrolle war, und da sie sich nicht dort aufgehalten hatte, wo man sie vermutete, ist jetzt das ganze Schiff auf den Beinen, um sie zu suchen. Gleichzeitig informiere ich Wellington über den Vorfall, damit die Suche abgeblasen werden kann.
"Wenn du jetzt in deiner eigenen Koje schlafen würdest, haben wir wahrscheinlich alle viel mehr Ruhe!"
Für Natalie ist die Sache noch nicht erledigt: "Wieso ausgerechnet in Herwig's Bett?"
"Das heißt hier 'Koje'" sage ich, in dem vergeblichen Versuch, dem Ganzen einen harmlosen und humorvollen Antrich zu geben. Aber keine der beiden Frauen achtet auf das, was ich sage.
"Ich war müde - ich habe auf nichts geachtet! Jemand ist mir entgegengekommen, und dabei habe ich wohl die Kabinentüren verwechselt. Außerdem hat er sein Bett genauso zusammengelegt gehabt wie ich meins!"
"Das war ich." stellt Natalie fest, "Ich habe sein Bett zusammengelegt.
"Streitet euch später!" schlage ich vor, "Carola, ab in die Falle! Und du, Natalie, akzeptierst bitte, daß es so etwas wie echte Irrtümer gibt!"
Natalie ist nicht überzeugt, aber sie hält den Mund. Wir alle können wieder an unsere Arbeitsplätze zurückkehren.
"Das ging noch mal gut ab!" sage ich, als wir unser Labor vom zentralen Niedergang her betreten. Dann erst fallen mir die besorgten Gesichter der Kollegen auf, die etwas früher hier angekommen sind. "Ist was?" frage ich, "Die Carola ist versehentlich in mein Bett gestiegen! - Kann doch passieren, wenn man müde ist."
"Versehentlich - vielleicht." sagt Edwin und deutet auf seinen Bildschirm, "Das hier aber war Absicht."
"Was?"
"Das numerische Modell der Felsen draußen. Es ist gelöscht. Während alle Carola gesucht haben, hat jemand die Gelegenheit benutzt, es zu löschen. Wir können noch einmal ganz von vorne anfangen! - Scheiße."
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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