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44. Der Sonnenaltar

Es dauert einen Moment, bis man erkennt, was man nur zu klar vor Augen hat, aber überhaupt nicht erwartet. Jedenfalls nicht hier.

Da sind, teilweise von mächtigen Geröllbrocken zerdrückt, roh behauene Steinbänke. Ohne Lehne, einfach lange, quaderförmige Felsplatten auf jeweils zwei gedrungenen, ebenfalls quaderförmigen Felsfüßen. Diese Steinbänke bilden einen Kreis, oder besser, ein wenn auch nicht allzu regelmäßiges Vieleck. Vielleicht ein Drittel des Umfanges dieses Steinbankkreises sieht man nicht, weil Felsbrocken drauf liegen, bei einem weiteren Drittel sind die Steinbänke schwer beschädigt, das restliche Drittel ist praktisch unbeschädigt.

Wenn man für die Steinbänke für Menschen geeignete Dimensionen unterstellt, dann muß dieser Kreis einen Durchmesser von sechs bis sieben Metern haben. Der Boden in diesem Kreis ist, soweit kein Geröll drauf liegt, gerade so eben, daß man eine künstliche Bearbeitung desselben vermuten könnte.

Der Kreis grenzt an den mächtigen Felsen, der unser Boot von einer Seite einklemmt. Dort ist der Ring der Steinbänke durchbrochen, so daß in der Peripherie des Ringes, auf dem Platz, den sonst eine der Bänke einnehmen würde, eine große, vielleicht vier bis fünf Meter hohe und zwei Meter breite Felsplatte steht. Deren Dicke scheint etwa 30 Zentimeter zu sein, eher mehr. Auf dieser Steinplatte sind undeutlich eingehauene Zeichnungen zu erkennen. Diese erinnern entfernt an primitive Darstellungen der Sonne, aber es sind auch andere Gravuren zu sehen, die sich überhaupt nicht interpretieren lassen.

"Ich glaube, der Abend wird noch aufregend!" läßt Dr. Reinhardt sich vernehmen.

"Wieso? Was ist an archäologischen Artefakten so aufregend?" Das war Seltsam. Da wohl auch er diesen Anblick aufregend finden dürfte, ist das wohl nur eine Spitze gegen Reinhardt.

Natürlich ist es aufregend. Dieser Felsanordnung kann beim besten Willen eine künstliche Entstehung nicht abgesprochen werden.

"Also war hier nicht immer Wasser!" stellt Natalie fest. Naja nun - erstens drängt sich dieser Schluß jedem auf, und zweitens ist er aber, strenggenommen, nicht ganz zwingend.

Natürlich fallen sofort die Erbauer der Toten Städte ein - mir jedenfalls - und von denen wissen wir zwar überhaupt nichts, aber daß sie Unterwasserlebewesen waren, dürfte unwahrscheinlich sein.

"Amurdarjew! Wie alt ist das?" läßt Wellington sich vernehmen. Das wird Amurdarjew auch nicht genauer sagen können als wir. Man müßte diese Felsbänke und den Stein mit dem Sonnenbild genau untersuchen. Am besten, an Bord nehmen. Dazu haben wir aber nicht die Möglichkeit.

Bevor Amurdarjew antwortet, läßt Gabi sich vernehmen:

"Dieser Stein da - der sieht doch aus, als ob er den großen Felsen stützt!"

Alle denken das gleiche - unterstelle ich: Wenn diese Felsplatte den großen Felsen stützen sollte, dann könnte es sein, daß letzterer hier herüber kippen würde, wenn man diese Stütze entfernte.

Das ist aber der Felsen, der den größten Teil der Klammerkräfte aufbringt, die unser Boot festhalten!

"Daum! Können wir eine Streßanalyse von dem Ding machen?" fragt Wellington. Amurdarjew kommt nicht mehr dazu, eine zweifelhafte Hypothese über das Alter der Bänke aufzustellen. Niemand interessiert sich noch dafür. Edwin schrickt auf:

"Unsere Bordecholots und Radars sehen die andere Seite dieses Felsens nicht so richtig. Ich weiß nicht, ob wir von den Bildübertragungen der Drone bessere Daten gewinnen können. - Das Streßanalyseprogramm kann es sicher!"

"Hängen Sie sich rein! Lassen Sie sich helfen, wo es nötig ist!"

Edwin wendet sich zu Carola und mir. Da er mehr zur Schiffsmitte hin sitzt, sieht er auf uns herab:

"Machen wir eine Aufintergration, wie damals, in dieser einsturzgefährdeten Stelle, ja?"

'Damals', denke ich. Ist doch erst fünf Tage her, oder?

"Vielleicht schaffen wir es damit ohne die Daten der Drone!" murmelt Edwin, als er beginnt, auf seiner Tastatur herumzuhacken.

Ich bin skeptisch. So auf die Schnelle die Daten der Drone zu integrieren, die bisher ja nur aus dem übertragenen Bildern bestehen, dürfte schwer sein. Das Streßanalyseprogramm ist dafür nicht vorbereitet. Es kann Daten von Echolot und Radar verwenden, und beim Schiff selbst sind es zahlreiche Sensoren, die die mechanischen Kraftflüsse überall im Boot messen. Das ist Routine. Aber Bilder, die exakte geometrische Informationen zu liefern prinzipiell in der Lage sind - schließlich kann die Drone sich ja bewegen, und aus aus verschiedenen Blickwinkeln aufgenommenen Bildern kann man ja im Prinzip eine vermessbare, stereoskopische Aufnahme herstellen - kann das Programm nicht auswerten. Und wenn es das doch kann, dann haben wir noch nicht rausgekriegt, wie.

Daß Echolot und Radar durch das umliegende Schwergeröll hindurch zu einer exakten, geometrischen Vermessung der näheren Umgebung gelangen könnten will ich aber auch nicht so recht glauben, und Edwin hat da ja auch Zweifel geäußert.

"Ich glaube nicht, daß das Ding den Felsen irgendwie stützt." meint Reinhardt plötzlich.

"Und warum nicht?" frage ich.

"Wieso hätte irgend jemand eine Kultstätte oder so etwas ähnliches unter einem Felsen, der jederzeit umkippen kann, bauen sollen?"

"Vielleicht ist der große Felsen erst später dahin gerollt?" schlage ich vor.

"Und dann so, daß er gerade eben von dem Altarstein aufgehalten wird? Und trotzdem jetzt so fest liegt, daß er unser Boot festkrallt?"

"Warum denn nicht? Zufall! Kann doch sein! Der Zufall ist die wichtigste, wirklichkeitsformende Kraft im Universum, in der Evolution ..."

Alfred Seltsam hat gesprochen, und diese Tatsache allein reicht aus, daß Reinhardt opponiert: "So, wie manche Karrieren nur aus Zufall aufgebaut sind? Oder zur einen Hälfte aus Zufall, und zur anderen Hälfte aus unwissenschaftlichen Spekulationen, die man irgendwelchen Bonzen in irgendwelchen Großfirmen als gesicherte Erkenntisse verkauft?"

"Nun lassen Sie ihn doch in Ruhe! Warum soll es denn kein Zufall gewesen sein? Jeder Stein, der rollt, bleibt irgendwie 'zufällig' liegen!"

Es paßt mir nicht, daß ausgerechnet Natalie Alfred Seltsam zur Hilfe kommt, und der dankbare Blick, mit dem er sie anlächelt, paßt mir schon gar nicht. "Wir wissen noch überhaupt nicht, ob sich der große Felsen jemals bewegt hat, und ob er durch den Altarstein tatsächlich gestützt wird!" versuche ich, die Diskussion zu beenden, "Das war bis jetzt nur eine Vermutung von vielen! Das wollen wir doch erst rauskriegen!"

Gabi sieht mich böse an, weil ich ihre Hypothese quasi unter den Tisch kehre, und Amurdarjew mischt sich auch wieder ein:

"Er hat sich aber mal bewegt! Diese großen Felsen rundherum sind nicht von hier!"

"Ja, aber das kann doch vor Jahrmillionen gewesen sein, und diese Kultstätte ist doch höchstens einige Jahrtausende alt!"

"Woher wollen Sie denn das wissen? Sie haben doch selbst in Ihrem Buch darüber spekuliert, vor welch langen Zeiträumen es in der Welthöhle schon Intelligenz gegeben haben könnte!"

"Ja, habe ich, aber das beweist doch gar nichts! Spekulationen kann doch jeder anstellen, und alles, was ich dazu sagen würde ..."

Carola dreht sich um, fast wütend: "Kann man sich hier nirgends vernünftig konzentrieren?"

Das reicht genau für 25 Sekunden Stillschweigen. Dann fängt Reinhardt mit nur wenig gedämpfter Stimme wieder an:

"Ich meine nur, wir sollten das Ding nicht kaputtmachen, solange wir nicht ganz sicher sind, ob es wirklich dazu beiträgt, das Boot einzuklemmen!"

"Soweit sind wir doch noch gar nicht!" sagt Seltsam, "Wenn nur eine kleine Chance besteht, daß er dazu beiträgt, dann machen wir es kaputt!"

"Das entscheidet immer noch der Alte!" sage ich, "Und wir wissen noch gar nicht, ob wir das überhaupt können. Wir haben doch kaum Möglichkeiten, außerhalb des Bootes irgend etwas zu tun. Es könnte zum Beispiel sein, daß ..."

Carola dreht sich wieder zu uns um, und ihr Blick läßt mir keinen Zweifel darüber, daß wir gleich auch noch ein Bürgerkriegsproblem haben werden, wenn wir nicht den Mund halten. Die anderen scheinen das auch so zu sehen, denn es wird endlich still. Wellington muß die Auseinandersetzung mitbekommen haben - er besteht im Moment nicht mehr darauf, daß Amurdarjew mit einer Vermutung über das Alter dieses Steines herausrückt. Vielleicht rechnet er im Moment nicht mit sachlichen Antworten. Außerdem bringt uns das Alter der Felsen rundherum ja nicht weiter.

Im Laufe der nächsten haben Stunde stellt sich heraus, daß der Bordrechner tatsächlich aus den verwirrenden Vielfachreflexionen etwas herausextrahieren kann. Edwin und Carola bekommen zunehmend klarere Modelle der umliegenden Felsen auf ihren Bildschirm. Und der vermuteten Kraftflußfelder.

"Ja," sagt Edwin schließlich als erster, "sieht so aus, als ob Kollegin Gohlmann recht haben könnte. Schaut einmal her!"

Wir schauen her.

"Die Geometrie des Felsens an unserer Nordseite steht ziemlich fest. Damit auch seine Masse. Und hier die Unterstützungsfläche. Seht ihr?"

Wir können zwar in dem komplizierten Vieldrahtmodell auf dem Bildschirm nicht allzuviel erkennen, aber Edwin scheint zu wissen, wovon er spricht.

"Darauf könnte der Felsen tatsächlich stabil stehen. Dazu kommt nun aber noch die Kraft, mit der er das Boot einklemmt. Und die können wir ja ganz genau messen. Diese Kraft wirkt auf den Felsen in dem Sinne, daß sie ihn in Richtung dieses Altarsteines zu kippen versucht. Diese Kraft vielleicht würde gerade eben dazu ausreichen. Aber die Meßunsicherheiten und die Ungewißheit über die tatsächliche Masse dieses Steines führen in diesem Falle dazu, daß man diese Frage nicht sicher beantworten kann."

Pause. "Wahrscheinlichkeiten?" frage ich.

"Hälfte-Hälfte." sagt Edwin. "Tut mir leid. Ist das genaueste, was ich zur Zeit sagen kann."

"Da liegen aber noch ein paar andere Felsen, die den großen da stützen - das ist der Altarstein nicht alleine!" Reinhardt deutet auf den Bildschirm, der noch immer die Bilder von der Drone zeigt. Fahlenbeek hat in der letzten Zeit die Felsen von allen Seiten aufgenommen. Bald werden wir die Drone wieder einschleusen müssen, wenn ihre Batterien schwach werden.

"Herr Daum," meldet sich Wellington, "können Sie aus dem elektronischen Modell, das Sie jetzt haben, ein perspektivisches Modell machen? Eines oder mehrere, aus verschiedenen Blickwinkeln?"

"Leicht!" sagt Edwin, "Wie hätten Sie's denn gerne? Oberfläche, meine ich? Mahagoni, Teak, Holz oder Edelstahl blank?"

"Felsen, alt." sagt Wellington, "So realistisch wie möglich!"

Ich ärgere mich, daß ich nicht selber auf die Idee gekommen bin. Die einfachste Methode. Edwin wird Bilder erzeugen, die zeigen, wie sein gemessener und errechneter Felsen in Wirklichkeit aussehen würde. Die vergleichen wir mit den Aufnahmen der Drone. Das kann man sogar sehr effektiv machen, indem man mit dem einen Auge das errechnete, mit dem anderen das photographierte Bild ansieht. Dann fallen einem die kleinsten Unterschiede auf. Deshalb will Wellington bei dem errechneten Bildern auch eine möglichst felsenähnliche Oberfläche haben.

Vielleicht kann man so die Geometrie des Felsens präzisieren, und wir kriegen genauer raus, was wir machen müssen.

Wieder in einem waagerechten Bett schlafen, denke ich. Soweit ist es natürlich noch lange nicht - selbst, wenn wir das Boot in dieser Sekunde aus der Umklammerung befreien könnten, dürften wir das nicht so einfach tun. Noch ist es schwer vom eingedrungenen Wasser, und es würde hart auf den Grund fallen. Das müssen wir vermeiden, wenn das möglich ist.

Irgendwie beschleicht mich ein ungutes Gefühl: Jetzt, wo es begründete Aussichten gibt, daß wir uns aus unserer Lage befreien können, wäre es für den großen Unbekannten wieder ein geeigneter Zeitpunkt, sich etwas für unsere Unterhaltung auszudenken. Wird er jetzt wieder zuschlagen?

Daß man ihm so gar keine Motive unterstellen kann, beunruhigt mich. Denn dann wäre es möglich, seine Schritte vorauszuahnen.

Aber dann wüßten wir ja auch, wer es ist.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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