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43. Außenansichten
Kaum eine halbe Stunde später sitzen wir wieder an unserem Arbeitsplatz im vorderen Oberdeck. Wenn die Schräglage des Bootes nicht wäre, dann wäre alles wieder ganz normal - alle technischen Einrichtungen, die schon länger wieder aus dem Wasser heraus sind, sind so sauber wie neu.
Jeder kann auf seinem Bildschirm verfolgen, was die Kameras der Drohne sehen, und jeder tut es.
Die immer gleichen Außenbilder kennen wir ja schon. Die benachbarten Felsen sind hell erleuchtet, zu den ferneren Höhlenwänden dringt das Licht teilweise nur noch auf indirektem Wege. Wenn das Wasser nicht so klar wäre, dann könnte man diese Höhlenwände überhaupt nicht mehr sehen.
Den Kameraträger auszuschleusen ist mehr oder weniger eine Routineangelegenheit. Wir müssen nur eine Viertelstunde warten, bis wir die übertragenen Bilder vom Moment der Ausschleusung an zu sehen bekommen. Das Boot ist zwar eingeklemmt, aber direkt unter dem Boot, und speziell unter der Bilgen-Schleuse, ist viel Platz. Sonst wäre das ganze Manöver selbstverständlich unmöglich.
So bekommen wir das erste Mal auf dieser Reise Gelegenheit, unser Boot unter Wasser von außen zu sehen.
Es ist natürlich eine Sache der Kameraführung, um überhaupt ein gescheites Bild zu erhalten, denn wenn die Dronenkameras auf das Boot gerichtet werden, dann hat man auch immer die Scheinwerfer der CHARMION im Bild. Und so etwas gibt immer Überstrahlungseffekte, egal, wie gut die Kameras sind.
Wir hören die Unterhaltung in der Zentrale über das lautgeschaltete Interkom mit, und so wissen wir, daß Amerlingen die Drone steuert. Er macht das recht geschickt, und wo immer er die direkte Blendung durch die Außenscheinwerfer der CHARMION vermeiden kann, ist das Bild so deutlich, als ob man selbst draußen stände - eine merkwürdige Vorstellung, unter diesem Wasserdruck: Die Umwelt da draußen ist, zumindest für den Menschen, so lebensfeindlich wie die Mondoberfläche.
Zunächst wird der untere Teil des Rumpfes aus der Nähe inspiziert. Wir sehen das gleichmäßig graue Metall, das so aussieht, als habe das Boot soeben die Werft verlassen. Keine Spur von Kratzern, kein Bewuchs. Die paar Stunden im Minch haben keine Spuren hinterlassen, und hier unten gibt es keine Muscheln, die sich entscheiden könnten, sich auf der Außenhaut der CHARMION niederzulassen.
Der äußere Druckkörper zeigt sich unbeschädigt, soweit man das mit den Kameras überhaupt feststellen kann. Erst, als es Amerlingen gelingt, die seitlichen Kollisionsschienen aus der Nähe zu zeigen, können wir, jedenfalls an den Stellen, wo diese nicht auf den umliegenden Felsen aufliegen, Kratzer erkennen. Verbiegungen und echte Beschädigungen gibt es nicht.
Von außen ist das Boot in einem beruhigend guten Zustand. Ich muß daran denken, wie trügerisch dieses Bild ist - wenn es uns nicht gelungen wäre, den Wassereinbruch zu stoppen, dann sähe das Boot von außen ja ganz genauso aus. Und drinnen wäre kein Leben mehr.
Die Drone entfernt sich vom Boot. In dem Maße, wie sie sich damit auch von den starken Außenscheinwerfern der CHARMION entfernt, gewinnt ihr eigener, viel schwächerer Scheinwerfer Einfluß auf das Bild.
Wir hören, daß Wellington damit nicht einverstanden ist. Er will zunächst das Boot an allen von außen einsehbaren Stellen betrachten, so langweilig das auch sein mag. Er hat ja recht - er muß wissen, wie das Boot von außen aussieht, wenn wir schon mal die Gelegenheit dazu haben.
Es dauert etwas mehr als eine Stunde, bis er zufrieden ist. Eine Stunde, in der die Drone auch in enge Winkel unter und neben dem Boot manöveriert wird. Dann endlich fängt Amerlingen an, sie in immer weiteren Schleifen um das Boot zu steuern. So bekommen wir es auch erstmalig in seiner ganzen Größe zu Gesicht. Der verrückte Winkel, in dem es eingeklemmt ist, läßt es unglaubhaft erscheinen, daß es darinnen noch Menschen gibt, die einer gezielten Arbeit nachgehen. Dabei brauchen wir uns doch nur umzusehen und an unsere schmerzende Rückenmuskulatur zu denken - die Schieflage des Bootes kann man deutlich genug wahrnehmen. Und trotzdem herrscht die Atmosphäre eines Routinearbeitstages.
Ein bißchen erinnert mich dieses Bild an ein ganz frühes Erlebnis aus meiner Kindheit:
Ich war vielleicht noch keine zehn Jahre alt. Eine Wanderung mit meinen Eltern, am westlichen Harzrand, zwischen Herzberg und Osterode. Da war ein Gasthaus - wie hieß es nur? Papenhöhe? Aschenhütte? Egal. Ich weiß es nicht mehr.
Wir kehrten ein. Die hatten einen Fernseher. In den Fünfziger Jahren noch lange keine Selbstverständlichkeit, und schon das allein war aufregend genug. Es lief gerade ein unheimlicher Film, unheimlich für meine damaligen Maßstäbe, die noch nicht abgebrüht waren.
Da war eine gigantische Grotte. Darinnen ein U-Boot, ich glaube, es war geformt wie dieses. Männer gingen an Bord, drinnen der Kapitän, todkrank oder so ähnlich. Es wurde klar, daß er das Boot mit sich hier versenken würde, daß es seinen letzten Hafen erreicht hatte. Die Männer gingen wieder von Bord, und eine der letzten Einstellungen, die ich kleiner Junge atemlos verfolgte, war, wie das Boot sank. Ein Licht - Fenster oder Positionslampe? - war noch lange Zeit zu sehen, als das Boot auf dem Grunde der Grotte zu liegen kam. Dann verlosch es.
Jahre später erst erfuhr ich, daß es sich wohl um eine frühe Verfilmung von Jules Vernes '20000 Meilen unter dem Meer' gehandelt haben muß. Aber ich habe nie herausbekommen, um welche konkrete Verfilmung es sich gehandelt hatte.
Nur das Bild des - alten? - Mannes, der am Ende seines Weges angekommen war und der sich nun in dieses technologische und unerreichbare Grab zurückzog, das blieb irgendwie in meinem Gedächtnis haften. Sein Ende inmitten der eigenen Welt, die man sich im Laufe des Lebens geschaffen hatte, zu finden, das erschien mir, wenn man schon mal da angekommen war, erstrebenswert. Ist es vielleicht auch - erstrebenswerter als das Ende auf einer Intensivstation einer Klinik, wie es die meisten Menschen heute haben, fern von ihrem gewohnten Umfeld.
Daran denke ich, als ich unser Boot aus immer größerem Abstand zu sehen bekomme. Immer häufiger führt Amerlingen es hinter Felsen vorbei, so daß wir es einen Moment lang nicht sehen können.
Fahlenbeek übernimmt, weil man sich doch wohl sehr konzentrieren muß, um die Drohne länger zu führen. Er steuert die Drone in die Höhe, um einen besseren Überblick zu gewinnen.
Die Felsen um das Boot herum dürften größenordnungsmäßig ähnliche Massen aufweisen wie unser Boot. Da es sich aber um Felsen auf dem Grund der Höhle handelt, denen keine gleichartige Formation an der Höhlendecke gegenübersteht, liegt die Vermutung nahe, daß es sich nicht um gewachsenen Fels handelt, sondern um wenn auch schwere, aber trotzdem lose Felsbrocken.
Amurdarjew redet mit der Zentrale. Wir hören, daß er der Meinung ist, daß diese Felsen nicht hier entstanden sind, weil man sonst herausfinden könnte, wo welcher Fels aus der Höhlendecke herausgebrochen ist. Es sind Felsen aus der Höhlendecke herausgebrochen, aber nicht diese. Vor langer Zeit müssen diese Felsen bewegt worden sein.
Ich bin sicher, daß das kein Wasserstrom war. Der hätte immens stark sein müssen. Oder? Amurdarjew äußert sich dazu nicht. Man sollte vielleicht nicht voreilig urteilen, welche physikalische Bedingungen hier einmal geherrscht haben könnten, und welche nicht.
"Okay," höre ich Wellington's Stimme, "jetzt die direkt anliegenden Felsen von der anderen Seite."
Carola, die nicht weit von mir sitzt, beugt sich zu mir rüber: "Wenn du unser großer Unbekannte wärest, was würdest du jetzt tun?" flüstert sie, so daß niemand sonst es hören kann.
"Mit dem Kameraträger da draußen?"
"Ja."
"Nun - wenn ich direkt darauf Einfluß hätte - einfach abschalten. Dann ist er unerreichbar. Oder das Boot rammen."
"Könnte das das Boot zerstören?"
"Wahrscheinlich nicht. Das Ding ist nicht sehr schnell."
"Hschscht!" zischt Pater Palmer, der abwärts von uns sitzt, herüber. Er möchte dem Dialog zwischen Wellington und Amurdarjew folgen.
"Ich bin aber nicht der große Unbekannte!" kann ich noch gerade zurückflüstern, mit einem entschuldigenden - wie ich glaube - Blick in Palmer's Richtung. Dabei sehe ich, wie Natalie mich mißbilligend mustert. Ihr paßt es nicht, daß Carola und ich die Köpfe zusammenstecken. Kleinlich.
Minuten später starren wir wieder alle gebannt auf die Bildschirme. Die Drone ist in den Schatten eines der größten Felsen, die das Boot einklemmen, eingetreten. Hier wird sie von den Scheinwerfern der CHARMION nicht geblendet. Wir sehen übereinandergetürmtes Geröll - tonnenschwere Blöcke, aber die Größen sind schwer abzuschätzen, weil es keinen Vergleichsmaßstab gibt.
"Können Sie die Kamera noch näher zum Fuße des großen Felsens steuern?" fragt Amurdarjew, "Ich glaube, der ruht nur auf einer sehr kleinen Grundfläche!" Amerlingen stimmt über Interkom zu. Außerdem erwähnt er, daß er sich von Fahlenbeek bei der Steuerung der Drone hat ablösen lassen.
"Wäre zu schön, um wahr zu sein!" flüstere ich Carola zu. Das ist wahrscheinlich nicht richtig, weil auch ein auf einer kleinen Grundfläche ruhender Felsen kaum zu kippen ist, wenn er nur schwer genug ist. Und diese Felsen sind schwer.
Unübersichtliches Geröll driftet durch das Bild, gerade eben die Kollision mit der Kamera vermeidend. Und dann schnappen mehrere von uns nach Luft.
"Das glaube ich einfach nicht!" hören wir Amerlingen's Stimme. Die Drone wird zum Stillstand gebracht.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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