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42. Hexenjagd
Versammlung der gesamten Besatzung auf der Stelle. Alles bleibt stehen und liegen, und die Lenzpumpen arbeiten ja auch unbeaufsichtigt alleine weiter. Es wird eng in der Zentrale. Besonders, weil ja niemand aufrecht stehen kann, wie es der Fall wäre, wenn das Schiff auf ebenem Kiel läge - dann käme jeder mit einem viertel Quadratmeter aus. So muß sich jeder irgendwie festhalten oder anlehnen und dabei aufpassen, daß man nicht irgendjemandem anderen die Luft zum Atmen abdrückt.
Wellington erläutert die Lage. Er arbeitet den wesentlichen Punkt deutlichst heraus: Jemand an Bord übt offenbar gezielt Sabotage. Es ist nicht möglich, all das, was vorgefallen ist, durch unkooperative Software oder durch Unfälle zu erklären.
"Wir müssen der Sache auf den Grund gehen," sagt er, "denn diese Sabotageakte - oder diese mutmaßlichen Sabotageakte - haben eines gemeinsam: sie bedrohen uns alle - auch den Saboteur. Das heißt, daß der Saboteur nicht irgendetwas mit egoistischen Motiven verfolgt, denn im Erfolgsfalle erwischt es ihn genauso wie die anderen auch. Daran müssen wir bei unseren Überlegungen denken."
"Es sei denn, daß diese Sabotageakte darauf angelegt wurden, gerade eben noch nicht fatal zu sein!" werfe ich ein. Dabei fällt mir ein, daß mir das Wort nicht erteilt wurde, aber Wellington läßt sich nichts anmerken. Er geht darauf ein:
"Kann sein. Stellen wir doch mal auf, was passiert ist. Alle Vorfälle."
Er hantiert an einer der Tastaturen am Koppeltisch, und sowohl auf dem Koppeltisch als auch auf dem großen Bildschirm an der Stirnwand der Zentrale erscheint eine vorbereitete Liste:
* 1 Absturz Frau Homberg * 2 Verlegung des Höhleneinganges (HH, NY) * 3 Versuchter Shutdown des Computers * 4 Beendigung SISC-Dämon * 5 Der Tieftemperaturtruhenvorfall * 6 Selbsttätige Positionsänderung des Bootes aus gefährdetem Aufenthaltsort * 7 Computerüberlastung durch unerklärliche Phantomprozesse * 8 Meldung: BUOYANCY CONTROL DRIVER REPLACED * 9 Wassereinbruch über Regelzelle * 10 Reaktorabschaltung * 11 Löschung der Datenbasis für die Trägheitsnavigation
Schon ganz schön viel zusammengekommen, denke ich mir - außerdem ist die Liste ja nicht vollständig: Der Themenkomplex 'Direktive q78q99q' fehlt. Und das Verschwinden der betreffenden Dateien.
"Habe ich irgend etwas übersehen?" fragt Wellington.
"Da sind mal die Kantinentische so naß gewesen!" sagt Cohausz, erntet aber nicht den Lacherfolg, den er sich vielleicht erhofft hat, auch, wenn wohl jeder weiß, wovon die Rede ist. Wenigstens läßt er sich nicht dazu hinreißen, zu erwähnen, daß es in manche Kabinen hineingeregnet haben soll - Wo es jetzt in alle hineingeregnet hat.
"Es fehlen Medikamente!" sagt Doktor Morton laut und vernehmlich. Es ist das erste Mal seit ziemlich langer Zeit, daß ich ihre Stimme höre, und, obwohl sie leise gesprochen hat, bewirkt ihre Bemerkung ein sofortiges Schweigen. Wenn sie das für erwähnenswert hält, dann kommt noch mehr. Ich bin sicher, daß sie nicht Aspirin meint. Haben wir eventuell Medikamente, die als Rauschgift verwendbar sind, an Bord gehabt? Ein ganz neuer Aspekt.
"Medikamente? Welche?" fragt Wellington, "Und seit wann?"
"Seit wann - weiß ich nicht. Ich habe es erst vor einigen Tagen überprüft, und dabei ist es mir aufgefallen. Ich dachte, es wäre ein Fehler bei der Schiffsausstattung passiert. - Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher."
"Und um welche Medikamente handelt es sich?"
"Mit Sicherheit nur eines: Viskositor."
"Kenn ich nicht."
"Ist ein neues Produkt. Noch nicht auf dem Markt. Die Bezeichnung ist ein Kunstname: Es macht das Blut dünnflüssiger. Es kann Thromben besser auflösen als alles, was je zuvor entwickelt wurde. Die ideale Ersttherapie bei akuten vaskularen Verschlüssen: Herzinfarkt und Apoplexie. Alle Organinfarkte eben."
"Kann uns das Fehlen dieses Medikamentes in Schwierigkeiten bringen?" fragt Wellington.
Doktor Morton blickt von einem zum anderen: "Wir sind wohl alle ziemlich gesund, so daß es nicht zu erwarten ist, daß jemand gerade jetzt einen Infarkt erleidet." sagt sie überlegend, "Außerdem gibt es noch andere therapeutische Möglichkeiten. Das ist es nicht, was mir Sorge macht."
"Sondern?"
"Viskositor ist sehr wirksam. In kleinsten Dosen. Geruchs- und geschmackslos. Es gibt keine Toleranz gegen Überdosierung. Schon die doppelte therapeutisch notwendige Dosis kann zu massiven Blutungen in das Gewebe hinein führen. Verschiebung der Elektrolytgleichgewichte. Funktionsstörungen der Nerven. Auflösung der Darmschleimhaut. - Was jeden Thrombus auflösen kann, kann natürlich noch vieles andere auflösen. In noch höheren Dosen wird die Wirkung noch drastischer."
"Wie denn?"
"Ja, der Zusammenhalt aller Körperzellen wird abgebaut. Verflüssigung aller Organe - der Betroffene fließt von seinem eigenen Skelett herunter, die Haut der tiefer liegenden Körperteile erweicht und wird gesprengt, dann verteilt sich alles auf dem Fußboden. - Der ganze Körper wird eine Lache flüssigen Fleisches, das Skelett liegt mitten drin, fällt aber auch auseinander, weil sogar Sehnen und Gelenkbeutel aufgelöst werden. Sogar das Knochenmark zerfließt und sprengt einige Knochen. - Das Nervensystem versagt als letztes, weil die Blut-Gehirn-Schranke sehr wirksam ist. Der Betroffene erlebt einen großen Teil dieses Vorganges noch bei Bewußtsein mit. Das erlischt erst endgültig, wenn das Gehirn unter dem Eigengewicht anfängt, aus den Schädelöffnungen herauszufließen. Dabei verliert es natürlich seine neuronale Connektivität."
"Igitt. Widerlich!" sagt Natalie. Sie schüttelt sich.
"Was ist das bloß für ein scheußliches Zeug?" fragt Palmer entsetzt. Ich lese auch auf anderen Gesichtern den Ekel.
"Es ist ein Medikament für den Notfall. Es wird nur angewendet, wenn sonst wirklich nichts mehr geht."
"Wieviel davon hatten Sie an Bord?" fragt Wellington.
"Genug für ein paar therapeutisch indizierte Anwendungen. Das reicht gerade aus, um bei einem einzigen Menschen die beschriebenen Symptome auszulösen. Vielleicht auch bei zweien - gerade eben. Die ganze Besatzung kann man damit nicht umbringen - wenn die Vorratslisten stimmen."
"Und Sie sind sich nicht sicher, ob das Zeug überhaupt je an Bord gekommen ist?"
"Nein."
"Trotzdem." sagt Wellington, "Wir nehmen das als zwölften Punkt." Er schreibt auf seiner Tastatur, und die Liste wird länger:
* 12 Viskositor - mögliches Verschwinden
"Noch was?" fragt er dann. Niemand antwortet. Wahrscheinlich haben viele über kleine Vorfälle zu berichten, die am Rande der Merkwürdigkeit liegen.
"Also, jedenfalls haben wir einmal diese 12 Punkte."
"Was ist mit dem supersuperuser?" fragt Carola.
"Nichts. Zwei Level der Systemverwaltung sind diesem System eben zu eigen."
Hätte er uns früher sagen können, denke ich.
"Aber nicht, daß offenbar nur einer an Bord über das Paßwort verfügt, und daß wir denjenigen nicht kennen."
Wellington nickt. Er schreibt:
* 13 Unbekannter supersuperuser (ROOT) an Bord
"Noch was?"
Nachdem niemandem mehr etwas einfällt, fährt Wellington fort:
"Wir müssen diese Vorfälle mal einteilen. Erstes Kriterium - schlage ich vor - große Wahrscheinlichkeit für einen Unfall oder nicht. Einverstanden?"
Alle nicken.
"Gut. Punkt 1: Ihre Frau, Herr Homberg. Unfall oder nicht?"
Blöde Frage. Im Lichte von Direktive q78q99q eher nicht. Die steht aber hier nicht zur Debatte. Die existiert offiziell gar nicht.
"Die EG-Streitkräfte haben versucht, das zu klären. Bis jetzt habe ich nur so etwas von 'Selbstdetonation' der Luft-Luft-Raketen an Bord gehört. Ich weiß nicht, ob das eine plausible Erklärung ist."
"Wem hat der Tod Ihrer Frau geschadet?"
"Meiner Frau, in erster Linie."
"Natürlich. Entschuldigen Sie. Ihnen auch. Wem sonst noch?"
"Diese Expedition ist nicht gefährdet gewesen. Selbst, wenn ich mich mit Händen und Füßen gewehrt hätte, mitzukommen. Es bestand ja die unbedingte Absicht, die Expedition auszuführen."
Alles Lüge. Die Direktive q78q99q und diese Expedition in die Welt hinauszuposaunen hätte die Sache sogar empfindlich verzögert. Das Projekt wäre in jedem Fall geschädigt worden, jedenfalls dieser inoffizielle Teil.
"Sie tendieren also in Richtung Unfall." stellt Wellington fest.
"Ich tendiere nirgendwohin." stelle ich fest.
"Mmh." Wellington schreibt ein 'a' hinter den ersten Eintrag, 'a' für 'accident'.
"Nächster Punkt. Unfall oder Vorsatz?"
Fast jeder grinst, oder versucht, es zu unterdrücken. Ich brauche niemanden anzusehen, um das festzustellen.
"Unfall." sage ich, bevor jemand anderes es sagt. Oder etwas noch blöderes sagt.
"Frau Yay?"
Hübsch rot ist sie geworden. Wußte gar nicht, daß Natalie das kann.
"Unfall," sagt sie, "ich wollte die Tastatur nicht berühren. Habe ich doch schon gesagt."
"Es sei denn," sagt Wellington, "Sie verschweigen uns etwas."
"Was denn?" fragt Natalie.
"Ich höre."
"Ich verschweige nichts." stellt Natalie fest.
Wellington schreibt 'a, i(NY)' an den Bildschirm. "Ich denke, die Notation ist klar!" sagt er, "Unfall, oder 'i' für 'Absicht', 'intent'.
Natalie schmollt. "Er muß alle prinzipiellen Möglichkeiten mit einbeziehen!" versuche ich, sie zu beruhigen.
"Du hättest prinzipiell deine Frau auch umbringen können!"
"Auf diese Weise? Wie sollte ich denn einen Duocopter vom Himmel geholt haben? - Die sind dafür gebaut, auch dem Bemühungen des Feindes, sie vom Himmel zu holen, wirksamst zu widerstehen!"
"Streiten Sie sich bitte später!" fährt Wellington dazwischen, "Was ist mit dem Shutdown?"
Wir kommen rasch überein, daß das Absicht war, aber daß es überhaupt keinen Hinweis gibt, wer es gewesen sein könnte. Jeder kommt in Frage. Das gleiche beim SISC-Vorfall.
Der Tieftemperaturtruhenvorfall. Mehrheitliche Meinung: Schlamperei, also Unfall. Wenn es Absicht gewesen wäre, dann die, einfach für Unruhe zu sorgen.
"Unruhe - die Absicht kann hinter allem stecken." sagt Wellington, "Aber ich notiere 'Unfall'. - Was ist mit der selbstständigen Positionsänderung?"
Carola und Edwin melden sich in diesem Punkte zu Wort. Kein Unfall - das Boot hat selbstständig für die eigene Sicherheit gesorgt. Daß wir immer noch nicht genau wissen, welche Teile der Bootssoftware dafür verantwortlich sind, ist schlimm genug, weil das ja heißt, daß das Boot auch in anderen Situationen den Gehorsam verweigern könnte. Aber wahrscheinlich muß man den Vorfall weder als Unfall noch als Sabotage ansehen.
Nächster Punkt: Die Phantomprozesse, die den gesamten Rechner so ausgelastet haben, daß überall lange CPU-Warteschlangen entstanden, und die glücklicherweise alle eine geringe Priorität hatten.
"Vorbereitung auf Sabotage," sage ich, "da hat jemand seine Muskeln spielen lassen, um herauszukriegen, was man noch alles anstellen kann."
"Jemand anderer Meinung?" fragt Wellington.
"Gute Hypothese." murmelt Carola. "Danke!" rutscht es mir raus. Wellingten bezeichnet den Vorfall als Absicht.
"Punkt 8 und 9 gehören wohl zum selben Sabotageakt. Was meinen Sie?" fragt Wellington. Carola nickt.
"Gut. Die Reaktorabschaltung?"
"Mmh." sage ich, "das waren wir selber. Aber bei dem Versuch, mit dem Wassereinbruch fertig zu werden. Es kann natürlich sein, daß dieses von dem Saboteur beabsichtigt worden war. Aber nur, wenn dieser sich sicher war, daß wir mit dem Wassereinbruch fertig werden würden, und zwar genau auf diese Weise."
"Das konnte er nicht wissen," sagt Edwin entschieden, "wir hätten alle möglichen Treiber modifizieren können. Wir haben doch fast nur geraten!"
"Also Unfall?" fragt Wellington.
"Ja. Eine direkte Folge des Regelzellen-Sabotageaktes. Aber Unfall. Unbeabsichtigt. Schließlich hat uns der Reaktorausfall ja das Ventil wieder zugemacht!" Edwin ist sich sicher.
"Das kann doch Absicht gewesen sein!" protestiert Carola.
"Nein! Höchstens, daß der Saboteur selbst etwas unternommen hätte, wenn uns das Schließen des Ventils nicht irgendwie gelungen wäre! - Aber das wissen wir doch nicht. - Außerdem - außer uns hat ja niemand intensiv am Rechner gearbeitet, zu dem Zeitpunkt, als wir versuchten, es wieder zuzukriegen."
Wellington entschließt sich, den Vorfall als Unfall zu buchen, aber mit dem Absichtsvorbehalt über uns drei, Carola, Edwin und mich. Kein weiterer Protest. Die Annahme ist korrekt, Wellington muß das schreiben.
Die verschwundenen Daten der Trägheitsnavigation. Sabotage natürlich. Niemand ist anderer Meinung, besonders, als Carola erläutert, wieviele Schritte man unternehmen muß, um tatsächlich die ganzen Sicherheitskopien selektiv zu löschen.
Interessant ist lediglich, warum die Sicherheitskopie der jungfräulichen Datenbasis nicht gelöscht wurde. Das hätte zwar keine weiteren Folgen, da diese vom System jederzeit wieder neu generiert und initialisiert werden kann - von den geographischen Aufenthaltsdaten des Bootes in Greenock haben wir im Moment ja nichts - aber wäre die jungfräuliche Datenbasis gelöscht worden, dann hätten wir nicht definitiv gewußt, ob die Datenbasis sich vermöge irgendeiner Dateiumlenkung oder irgendwelcher symbolischen Links irgendwo ganz woanders im System befindet. Wir hätten uns totgesucht und nichts gefunden. Das wäre eine Bindung von viel Arbeitskraft gewesen.
Wir können uns das eigentlich nur so erklären, daß der Saboteur zwar etwas von Informatik und vom Betrieb des PRO-UNIX versteht, daß er aber nicht so in der Materie drin ist, daß er es im Urin hat, womit man Benutzer des Systems gründlich ärgern kann.
"Ein gebildeter EDV-Laie also?" fragt Wellington, als ich das erläutere. Wir nicken. "Wie wir alle. Eigentlich." sage ich. "Mit Abstufungen!" stellt Carola fest und sieht mich dabei an, Kinn hochgeworfen, damit ich weiß, auf welchen Abstufungen sie bestehen würde. Als ob ich nicht ein paar Jahre länger als sie in diesem Beruf gearbeitet hätte! - Mehr aber können wir über das Problem im Moment nicht sagen.
Über das verschwundene Medikament wird länger diskutiert. Schließlich läuft es auf 'Absicht' mit einem Fragezeichen hinaus.
Dr. Morton ist gegen das Fragezeichen: "Solche Medikamente werden sehr umsichtig behandelt, bei Herstellung, Lieferung und Anwendung. Jeder Apotheker und jeder Arzt weiß doch, daß es sich praktisch um einen Giftkampfstoff handelt."
Wellington nickt. Aber das Fragezeichen nimmt er nicht weg. "In jedem Beruf passieren Fehler." sagt er. Mit dem Argument könnte man natürlich die ganze Liste mit Fragezeichen versehen.
Es wäre noch möglich, das Verschwinden des Medikamentes Dr. Morton als mögliche Absicht zu unterstellen. Das tun wir aber nicht, weil wir es ja von ihr und aus keiner anderen Quelle wissen, daß das Medikament fehlt.
Der supersuperuser. Zweifellos eine Eigenschaft dieser speziellen PRO-UNIX-Installation. Nur, daß wir es selber erst herauskriegen mußten, ist merkwürdig. Und daß es einen an Bord gibt, der diese supersuperuser-Berechtigung hat, ist mehr als merkwürdig. Das sieht nämlich so aus, als ob alle Sabotageakte gewissermaßen mit offizieller Billigung gelaufen wären. Darüber diskutiert die Runde vergeblich.
Natürlich, für Carola, Edwin und mich sieht die Sache anders aus. Die Wahrscheinlichkeit, daß wir es mit zwei Problemen zu tun haben, wird immer größer: Derjenige, an den sich die Direktive q78q99q wendet, und der Saboteur. Das müssen zwei verschiedene sein. Wer von beiden ist der supersuperuser? Sind es vielleicht beide?
Carola und Edwin erwähnen die Direktive q78q99q nach wie vor nicht und tun so, als ob sie in diesem Punkt auf demselben Wissensstand wie alle anderen Besatzungsmitglieder wären. Schließlich wissen wir alle, daß die ganze Liste anders bewertet werden müßte, wenn wir diese Direktive mit einbeziehen.
Ich muß mit den beiden noch darüber sprechen. Vielleicht wäre es tatsächlich das Beste, in einer ähnlichen Versammlung vor aller Ohren diese Direktive bekanntzumachen und zu erläutern. Zumindestens wären wir dann nicht mehr die alleinigen Kenntnisträger - bis jetzt ist es ja möglich, daß der Adressat dieser Direktive mutmaßt, daß ich auch etwas wissen könnte. Mich kann man umbringen, ohne die Expedition allzusehr zu gefährden. Wenn alle über diese Direktive Bescheid wissen, dann geht das nicht mehr.
Aber ich habe noch einen anderen diffusen Plan: Man kann die besatzungsöffentliche Bekanntgabe der Direktive kurzfristig ansetzen, um zu sehen, ob jemand diese Veranstaltung verhindern will. Vielleicht könnten wir so rauskriegen, wer es ist.
Vielleicht bringt uns der Adressat dann aber alle um. Ich muß mit Carola und Edwin das noch einmal ausdiskutieren.
Was diesen Punkt 13 betrifft, so können wir uns nicht zu dem Attribut 'Absicht' oder 'Unfall' durchringen. Es ist ja auch kein Vorfall, sondern eine Tatsache und gehört deshalb nicht in diese Liste.
"Also, das ist jetzt unser Resultat." sagt Welington. Wir alle sehen die Liste deutlich genug:
* 1 Absturz Frau Homberg a * 2 Verlegung des Höhleneinganges a (HH, NY) i(HH, NY) * 3 Versuchter Shutdown des i Computers * 4 Beendigung SISC-Dämon i * 5 Der Tieftemperaturtruhenvorfall a * 6 Selbsttätige Positionsänderung - des Bootes aus gefährdetem Aufenthaltsort * 7 Computerüberlastung durch i unerklärliche Phantomprozesse * 8 Meldung: BUOYANCY CONTROL DRIVER REPLACED a * 9 Wassereinbruch über Regelzelle a * 10 Reaktorabschaltung a i(CR, ED, HH) * 11 Löschung der Datenbasis für die i Trägheitsnavigation * 12 Viskositor - mögliches i? Verschwinden * 13 Unbekannter supersuperuser - (ROOT) an Bord
"Mindestens vier, höchstens sieben Sabotageakte, habe ich richtig gezählt?" fragt Wellington. Die meisten nicken.
"In einer kriminalistischen Untersuchung müßte man jetzt auf Motivsuche gehen. Habe ich recht?" Wieder allgemeine Zustimmung.
"Also. Wer hat konkret etwas davon, wenn diese Expedition einen fatalen Ausgang nimmt?"
"Unsere Erben!" sagt Cohausz. Gedämpftes Gelächter. Eigentlich kein richtiges Gelächter. "Ist doch so!" setzt er zu.
"Kaum." geht Wellington darauf ein, "Wenn Sie sich einmal Ihre Vertragsbedingungen genau durchlesen und nachrechnen, dann werden Sie feststellen, daß es für die Angehörigen lukrativer ist, wenn wir die Expedition erfolgreich zu Ende führen und selbst überleben. Es ist nur eben so, daß es keine finanzielle Katastrophe für unsere Angehörigen ist, wenn wir hierbleiben."
Ja da schau her, denke ich, interessante Wortwahl: 'Hierbleiben'. Erinnert mich an den Sprachgebrauch des BdU Dönitz im zweiten Weltkrieg, der von abgesoffenen U-Booten als 'dabeigeblieben' sprach. Was sagt uns diese Wortwahl? - Erstmal nichts. Wir bleiben ja tatsächlich hier, wenn uns etwas passiert.
Wellington fährt fort:
"Es kann natürlich sein, daß einer von Ihnen vorher, vor dieser Expedition, Vermögen hatte. Dann sieht das ganz anders aus. Aber ich glaube nicht, daß wir diese Motivationskette sinnvoll weiter verfolgen sollten. Ich kenne unsere Personalakten und die persönlichen Umstände von jedem einzelnen an Bord. - Ja, von mir selber auch! - Keiner von uns ist in der Vergangenheit durch besondere kriminelle Energie aufgefallen. Alle haben eine gesicherte, bürgerliche Existenz gehabt. - Korrigiere: Haben sie noch. Keiner hat Geldsorgen. Nach dieser Reise weniger denn je. Nein, an Geld glaube ich nicht. Insbesondere, weil der hypothetische Saboteur an Bord ja auch ums Leben käme, wenn er Erfolg hätte. Von materiellen Vorteilen wäre er also weit entfernt."
Er schweigt einen Moment. Dann fährt er fort, als ob er sich seiner Sache sicher wäre:
"Es scheint eine Art krankhafter Idealismus vorzuliegen, wenn jemand diese Expedition sogar um den Preis seiner eigenen Existenz sabotieren möchte."
Manipulation einer Versammlung, denke ich - noch ist dieser Schluß nicht zwingend.
"Also ein Verrückter?" meint Garner, der sich sonst selten zu Wort meldet.
"'Verrückt' ist ein sehr unscharfer Begriff." stellt Wellington fest, "Ich würde dieses Wort nicht so gerne benutzen."
"Tja." sagt Kufferath. Alle sehen ihn an - es ist offensichtlich, daß er etwas sagen will.
"Was wollen sie sagen?" fragt Wellington ermutigend.
"Da gibt es so komische Vorbehalte. In der Literatur. Daß es nicht gut wäre, wenn wir die Welthöhle erreichen. Oder irgend jemand sonst."
Wieder allgemeines Schweigen. Reden die von mir? Sieht so aus, weil mich niemand ansieht. Ich habe allerdings in der Tat solche Überlegungen in den 'Granitbeißerinnen' niedergeschrieben. Vielleicht ist es gut, wenn ich in die Offensive gehe:
"Allerdings. Genau das habe ich geschrieben. Und das ist auch jetzt noch meine Meinung. Aber, und ich bitte alle, zuzuhören: Mein Idealismus, ob krankhaft oder nicht, ist begrenzt. Bevor es an meine Bequemlichkeit geht, oder bevor ich mich gar selbst in Gefahr begebe, lasse ich geschehen, was ich nicht für gut halte. Ob es nun die Kolonisation der Welthöhle ist, oder ob jemand massenhaft kleine Babies schlachtet - ich lasse es geschehen. - Deutlich genug?"
"Sagen Sie." stellt Kufferath fest.
"Sage ich. So ist es. Wollen wir doch einmal logisch denken, Herr Kollege, ja? Wenn ich die Welthöhle um jeden Preis hätte vor der Entdeckung schützen wollen, dann hätte ich dieses Buch ja gar nicht geschrieben - insbesondere, weil die Einnahmen daraus bis jetzt nicht so besonders überwältigend waren, und daß es zu dieser Expedition kommen würde, konnte ich nicht wissen. Es wäre doch ganz einfach gewesen, den Mund zu halten. Oder?"
Ich sehe von einem zum anderen. Habe ich überzeugt?
Edwin springt für mich ein: "Nein. Nein, der Herwig macht das nicht. Der ist Idealist und Zyniker zugleich. Aber in seinem Kopf sind so viele Dinge, daß da gar nicht Platz für eine einzige Ansicht ist. Und nicht für deren fanatische Verfolgung. - Ne, der ist das nicht. Wir kennen ihn schon so lange."
Carola nickt: "Herwig hat schon längst resigniert. Der tut nichts mehr für die Welt. Nicht die große, überragende, gute Tat, und nicht die abgrundtiefe schlechte. - Wenns nur ums Hacken geht, da könnte ich ihn im Verdacht haben. Aber er will leben, und das möglichst ohne Anstrengung. - Ihr habt doch alle in Erinnerung, was in München, während unserer Ausbildung, seine Hauptsorge war: Daß auf dem Boot ja Einzelkabinen gebaut werden. Und die haben wir ja auch bekommen. - Damit ist er der ausgeglichenste Mensch der Welt."
"Danke." sage ich. Schön, wenn man Freunde hat.
"Ist er das?" fragt Kufferath, "Seine Frau ist doch umgekommen!"
"Muß er sich deshalb an der ganzen Welt rächen wollen?"
"Ist egal, aber er soll sich nicht an uns rächen!"
"Fragen wir ihn selber!"
Alle sehen mich an.
"Es geht eigentlich niemanden etwas an, aber, na gut: Wenn ich denjenigen zu fassen kriege, der Irene auf dem Gewissen hat, dann drehe ich ihm den Hals um. Wörtlich. Aber nur dem und niemandem sonst."
"Nana," sagt Cohäuszchen, "das ist auch nicht gerade das rechtsstaatliche Verfahren."
"Ich drehe ihm den Hals rechts herum um. Einverstanden?"
"So kommen wir nicht weiter," unterbricht Wellington uns, "Mir scheinen die Motive nicht ausreichend. Vor allem, weil wir noch jemanden in unserer Mitte haben, der Grund hätte, sich an unserer Zivilisation zu rächen, weil sie seine ganze Familie ausgelöscht hat. Nicht nur seine Frau, sondern auch seine Kinder."
Alle wissen, daß Solzbach gemeint ist. Dieser äußert sich aber nicht dazu. Und Kufferath sagt auch nichts mehr. Blicke wandern von der Vorfalliste auf dem großen Bildschirm zu mir, zu Solzbach, zu Kufferath, zu Carola und Edwin und wieder zu mir und zu der Liste. Jeder überlegt sich: Wer könnte was getan haben? Jedenfalls glaube ich, daß sich jeder das überlegt.
Und jeder überlegt sich, was sich jeder andere überlegt, und wer wen in Verdacht haben könnte. Jeder legt sich seinen persönlichen Hauptverdächtigen fest. Ob das unserem Betriebsklima bekommt?
"Aber es stehen nicht alle vollständig hinter der Zielsetzung unserer Expedition." fängt Kufferath wieder an. Was will er eigentlich beweisen?
"Wer steht denn vollständig dahinter?" fährt Carola ihn an, "Die meisten interessiert doch im wesentlichen das Gehalt. Dann kommen wissenschaftliche Lorbeeren, vielleicht ein Platz in den Geschichtsbüchern. Aber schon die Hoffnung darauf können die meisten von uns sich abschminken. Oder kennt jemand einzelne Namen aus der Mannschaftsliste von Kolumbus oder Cook? - Na, seht ihr."
"Nein," meldet sich Edwin jetzt wieder zu Wort, "wenn jemand unter uns fanatisch etwas verfolgt, dann ist uns dieser spezielle Fanatismus noch nicht aufgefallen. Derjenige hält über diesen Punkt sorgfältig den Mund. Jemand von uns gibt vor, ganz anders zu denken als er es tatsächlich tut. Das ist es. Wenn wir tatsächlich an einen Verrückten denken. - Herwig ist nur ganz normal verrückt."
Ob sie jetzt überzeugt sind? Ich weiß es nicht. Grund, mich zu fürchten, hätten sie. Nach meinen eigenen Beschreibungen in den 'Granitbeißerinnen' habe ich dort viele Menschen umgebracht, und nicht alle mit den lautersten Motiven. Ich bin also dazu in der Lage. Der einzige, von dem man das hier sagen kann. Es ist wenigstens diskutierbar, ob der bloße Aufenthalt in der Welthöhle jemanden zwingt, sich den dortigen gewaltsamen Umgangston unbedingt zu eigen zu machen.
Irene, zum Beispiel, hat dort nicht töten müssen. Die ganze Zeit in der Welthöhle nicht. Soweit ich weiß. Also ist es auch möglich, den Aufenthalt in der Welthöhle zu erleben, ohne zum Gewalttäter und zum Mörder zu werden.
Immerhin: Carola und Edwin haben jetzt für mich faktisch Ehrenerklärungen abgegeben. Das muß ich ihnen hoch anrechnen.
Aber die Vorführung ist noch nicht zu Ende. "Ich muß Herrn Kufferath zustimmen." läßt Seltsam sich vernehmen, "Herr Homberg nimmt die Sache nicht ernst. Überhaupt nicht. Nachdem, was passiert ist, da, gleich am Anfang!"
"Sexualneid!" ranzt Dr. Reinhardt dazwischen, und "Treffer! Gesunken!" sagt Cohäuszchen darauf. Seltsam schnappt nach Luft und weiß nicht, ob er Reinhardt oder mich mehr angiften soll. Aus dem Hintergrund höre ich dann ganz leise den Satz: "Vielleicht läßt die Yay ihn mal - dann ist er endlich zufrieden!" Alle können diesen Satz hören, weil er wieder in eine dieser spontanen akustischen Pausen gefallen ist, aber wegen seiner geringen Lautstärke ist er gewissermaßen nicht offiziell ausgesprochen worden. Seltsam wird rot, Natalie schürzt die Lippen, sagt aber nichts, und Kufferath überlegt sich, ob ihm mehr zugestimmt oder widersprochen wurde. Es ist ein bißchen kompliziert.
Das findet Wellington auch: "Wollen wir uns vielleicht für die Zukunft auf Fakten beschränken?"
Das gelingt im weiterem Diskussionsverlauf tatsächlich. Der Konsensus, der erreicht wird, ist der, daß es tatsächlich einen selbstmörderishen Saboteur unter uns geben muß, daß es aber praktisch nicht die geringsten Hinweise darauf gibt, wer das sein könnte. Selbst der Verdächtigste unter uns - und das ist für jeden ein anderer - ist immer noch praktisch unverdächtig. Wer immer es ist, er - oder sie - tarnt und verstellt sich hervorragend.
Daraus müssen Konsequenzen gezogen werden. Insbesondere muß verhindert werden, daß in Zukunft ein einziger das Schiff in seine Macht bekommt. Das ist aber praktisch jede Nacht der Fall, wenigstens während der Hundswache. Aber die Wachen doppelt zu besetzen, dagegen äußert sich allgemeiner Widerspruch.
"Brauchen wir auch nicht," sagt Wellington, "wir führen den Großen Bruder ein."
"Wen?" fragt Kufferath. Damit erfahren wir, daß es Leute gibt, die Orwell nicht gelesen haben.
"Wir haben ja Kameras in jedem Raum des Bootes. Bisher bestand nur kein Grund, diese auch zu benutzen. Dieses werden wir von jetzt an tun. Zentrale, Reaktorraum, Kantine, sowie sie wieder frei ist, einfach alle allgemein zugänglichen Räume. Alle Aufnahmen werden aufgezeichnet, und jeder kann sich von jeder Konsole in jede Aufnahme live einschalten, zu jeder Zeit. So weiß der Wachhabende nie, ob er nicht gerade von jemandem, der nicht schlafen kann, beobachtet wird."
Kein sehr schönes Konzept, aber vielleicht unvermeidlich. Über die dadurch zusätzlich anfallenden Datenmengen mache ich mir weniger Sorgen - erstens haben die Computer der CHARMION genug Platz, die Bilder aller Videokameras an Bord für sehr lange Zeit aufzuzeichnen, und zweitens gibt es Bildkompressionsalgorithmen, die gerade bei Aufnahmen aus Räumen, in denen sich niemand aufhält, sehr wirksam sind - wenn ein Bild dem vorherigen genau gleicht, dann braucht ja nur diese Information gespeichert zu werden und nicht alle Pixel noch einmal.
Auch in der bisherigen Zeit sind schon viele derartige Innenaufnahmen gespeichert worden, wenn auch nicht umfassend für Raum und jeden Zeitpunkt. Vielleicht würde man etwas finden, wenn man diese durchgeht. Aber wer soll die Zeit aufbringen, das zu tun? Und wie verhindert man, daß gerade der Täter seine eigenen Tätigkeiten zu sehen bekommt? Oder diese Aufzeichnungen schon längst gelöscht oder sonstwie manipuliert hat?
"Hat jemand gegen dieses Vorgehen Einwände?" fragt Wellington. Das ist natürlich nicht der Fall, weil man sich erstens sonst gleich verdächtig machen würde, und weil zweitens das vorgeschlagene Verfahren nicht gleich Arbeit bedeutet.
"Dann wäre vielleicht ein Tastaturaudit für jede Tastatur an Bord sinnvoll."
Carola widerspricht dem: "Ne. Unser unheimlicher Freund hat die Supersuperuser-Berechtigung. Als einziger. Der kann jeden solcher Audits für sich selbst manipulieren."
"Das ist mit den Bilddaten auch möglich!" sagt Wellington.
"Aber schwerer. Wenn Sie von ihrer Kabine aus den Wachhabenden nirgends finden, dann wissen Sie ja, daß gerade manipuliert wird."
"Nicht, wenn mir eine ältere Aufnahme für die aktuelle eingespielt wird. Das würde ich nicht unbedingt merken, und jemand anderes auch nicht."
Darauf weiß keiner so recht eine Antwort. Es stimmt: Mit etwas Geschick und mit der Supersuperuser-Berechtigung kann man jedes Überwachungssystem ausschalten.
"Also doch Doppelwache?" schlägt Wellington vor. Die Begeisterung hält sich in engen Grenzen.
"Lieber nicht. Da lieber die Videoüberwachung." Natalie hat sich damit zu Wort gemeldet und stellvertretend für alle ihre Abneigung gegen die doppelte Anzahl zu absolvierender Nachtwachen zu Buche gegeben. Gerade ihr wird niemand eine andere Motivation als gesunde Trägheit unterstellen. Denke ich.
Es wird so beschlossen. Videoüberwachung, und die Möglichkeit spontaner Überwachung von jedem durch jeden.
"Niemand ist davon ausgenommen!" sagt Wellington, "Wenn Sie mich in der Zentrale zu unüblicher Zeit sehen, dann fragen Sie mich, was ich da mache. Und ich frage Sie. Und wer nicht fragt, wird gemeldet. Jeder, unabhängig von der Stellung an Bord."
Ob das funktioniert, frage ich mich. Jeder hat Hemmungen, einen Vorgesetzten einfach so zu befragen, und das mit dem Anspruch auf Auskunft. Wie war das noch beim Militär, beim Wacheschieben? Hatten wir da nicht, zum Beispiel, auf der Sylvesterwache, den Befehl gehabt, gegebenenfalls sogar einen betrunkenen Oberst aus dem Auto zu fischen, wenn dieser sich als uneinsichtig erweisen sollte? Und ist das jemals vorgekommen?
Außerdem dürfte man mit Opposition zu rechnen haben, wenn man wirklich jemanden bei aktiver Sabotage erwischt, und dieser jemand hat gerade dann dafür gesorgt, daß die lokalen Kameras blind sind. Aber was sollen wir denn sonst machen?
"Ja," greift Amerlingen diese Vorschläge auf, "und seien Sie phantasiereich. Jeder von Ihnen. Beispiel: Wenn Sie aus heiterem Himmel das Bedürfnis haben, nächtens dem Wachhabenden einen Besuch abzustatten, um zu sehen, was er macht, sorgen Sie dafür, daß eine Botschaft hinterlassen wird, die man mit Sicherheit finden wird. Schicken Sie Mail an jemanden anderes - es hat ja jeder seine eigene Kennung auf dem Rechner - oder sagen Sie einem anderen, der auch nicht schlafen kann, Bescheid. Seien Sie unberechenbar in dem, was Sie tun werden. Der große Unbekannte ist es ja auch."
Es wird noch länger darüber diskutiert. Eine Patentlösung fällt niemandem ein. Als die Diskussion sich für jedermann sichtbar im Kreise zu bewegen beginnt, setzt Wellington rigoros das nächste Thema an: was tun wir, nachdem unser Navigationssystem uns jetzt und in Zukunft nicht mehr sagen kann, wo wir sind?
"Also ganz so schlimm ist es nicht," erläutert Amerlingen uns die navigatorische Lage, "etwa in dem Sinne, daß das Navigationssystem für uns nutzlos wäre. Wir werden in Zukunft nicht mehr auf den Meter genau wissen, wo wir sind. Aber wir haben Kreisel- und Magnetkompaß an Bord, und mit diesen beiden allein kriegen wir unseren jetzigen Standort auf einige Seemeilen genau heraus. Unsere räumliche Ausrichtung können wir sogar mit maximaler Genauigkeit feststellen. Die Tiefe sagt uns der Außendruck. Sie sehen, daß das viel ist, verglichen mit den Möglichkeiten der Seefahrer vergangener Epochen. Auch die Fortrechnung unserer Position wird wieder genau sein - wenn auch die Anfangsdaten ungenau sind und diese Ungenauigkeit sich fortpflanzen wird."
"Dann haben wir ja eigentlich überhaupt kein Navigationsproblem?" stellt Cohäuszchen fest.
"Das haben wir, wenn wir hier, auf diesem Wege, die Welthöhle wieder verlassen wollen. Wir müssen probieren, wo wir entlangfahren, genau wie auf dem Herweg."
'Die Welthöhle verlassen', denke ich - noch sind wir nicht dort angekommen. Aber es stimmt - unser weiteres Vorgehen ist nicht allzusehr behindert.
Bleibt also das wirkliche Hauptproblem, das Boot wieder flott zu kriegen. Bis das Wasser raus und das Boot wieder sauber ist, ist nur eine Frage der Zeit. Aber was machen wir mit der Einklemmung durch die Felsen?
"Darüber habe ich mir auch schon meine Gedanken gemacht." meint Amerlingen, "Patentlösungen habe ich natürlich nicht. Aber wir müssen wenigstens etwas mehr wissen. Das, was uns die Außenkameras zeigen, reicht nicht. Wir schleusen eine Sonde aus. Vielleicht fällt uns dann etwas ein."
Die Reaktion ist nicht überwältigend, weil natürlich jeder weiß, daß auch durch erweiterte Außenaufnahmen nicht unbedingt zu erwarten ist, daß sich eine Lösung des Problemes anbietet. Aber es ist natürlich besser als Nichtstun. Und besser, als ständig darüber zu spekulieren, wer der böse Unbekannte sein könnte.
"Die Ausschleusung über das Bilgenrohr ist schon längst wieder möglich," fährt Amerlingen fort, "Wir können das sofort in die Wege leiten."
Der Tagesordnungspunkt ist also rasch erledigt, und da sonst kaum etwas anliegt, kann die Ausschleusung der Kamerasonde unverzüglich unternommen werden.
Es ist fast 15 Uhr, als die Versammlung zu Ende geht, ohne daß noch einmal jemand mir oder jemandem anderem so deutlich Mißtrauen ausspricht, wie Kufferath es getan hat. Die Auschleusung des Kameraträgers wird von allen mehr oder weniger mit Spannung erwartet - vielleicht gibt es tatsächlich neue Gesichtspunkte.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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