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38. Improvisationen

Die nächste Zeit an Bord wurde ungemütlich. Daß die Klimaanlage aktiviert werden konnte, obwohl auch einige ihrer Aggregate unter Wasser standen, war zunächst der einzige Lichtblick. Die Frischwassergewinnung und die Abwasseraufbereitung konnte zwar auch wieder rasch aktiviert werden, aber die zwei zugänglichen Toiletten waren noch teilweise unter Wasser und bei der Schieflage des Schiffes nicht leicht zu benutzen. Ebenso die Duschen.

Am schlimmsten war natürlich, daß praktisch alle Kabinen unter Wasser lagen. Aber auch die Lebensmittelvorräte befanden sich zum allergrößten Teil im vorderen Unterdeck und waren ohne Tauchen nicht zu erreichen. Dazu kam, daß man unter Wasser die Tieftemperaturtruhen nicht so einfach öffnen kann, um etwas herauszunehmen - wenn man es versuchte, dann würde man den gesamten Inhalt blitzartig in einem Eisblock einsargen. Das bißchen, was an Lebensmitteln in der Küchenzelle hinter dem großen Bildschirm in der Zentrale vorhanden war, würde nicht lange reichen.

Der Wasserspiegel im Schiff sank etwa 10 Zentimeter in jeder Stunde. In dem Maße, wie das Wasser zurückwich, konnte das Schiff wieder in Besitz genommen werden.

'In Besitz nehmen' hieß: Alles mit Süßwasser abspülen, gegebenenfalls dazu auseinandernehmen, wenn nötig, und trockenföhnen. Dann die betroffenen Geräte prüfen, wo möglich und sinnvoll. Jede Ritze, in der sich Salzwasser versteckt haben konnte, aufspüren und gesondert behandeln. Geschlafen wurde umschichtig, zum größten Teil im Krankenrevier. Die, deren Kabinen trockenfielen, konnten bereits versuchen, sich es in denselben wieder gemütlich zu machen. Das würde aber so richtig erst wieder gelingen, wenn die Waschmaschinen wieder erreichbar sein würden: Salzwassergetränktes Bettzeug kann man nicht trockenkriegen.

Wenigstens war dieses Salzwasser sauber. Keine Industrieabfälle. Es gab nur noch Kohlensäure ab, und damit wurde die Klimaanlage leicht fertig - schon ein paar Stunden nach ihrer Inbetriebnahme war von dem hohen CO2-Gehalt nichts mehr übrig geblieben. Wir konnten wieder normal atmen - das ständige Gefühl, keine Luft mehr zu kriegen, war weg. - Wahrscheinlich konnten die meisten von uns, mich eingeschlossen, sich nicht plastisch vorstellen, um wieviel angenehmer unsere Lage war als in dem vor Gibraltar abgesoffenem U-Boot vom Buchheim: Saubere Luft statt Säurenebel aus den kaputten Batterien, CO2 und Knallgas, auch Chlor, und natürlich zuwenig Sauerstoff.

Natalie quartierte sich erst einmal wie selbstverständlich in meine Kabine ein. Meine Kabine, die von Carola und die von Doktor Morton waren die einzigen, die von dem Salzwasser gerade noch verschont geblieben waren. Aber Carola und Doktor Morton nahmen keine 'Gäste', auch nicht zum umschichtigen Schlafen.

Das Leben an Bord war ungemütlich. Aber es war irgendwie kaum ein Gefahrenbewußtsein vorhanden - oder es war nicht mehr vorhanden. Das gab mir Gelegenheit, über die Wahrnehmung von Gefahr nachzusinnen.

Ich erinnerte mich an einen Seeurlaub in früher Kindheit. Ich war vielleicht 12 oder 13. Meine Eltern hatten bereits ein Hauszelt, aber noch kein eigenes Auto. Wir mußten uns von Verwandten zu einem Campingplatz in Saalenburg in der Nähe von Cuxhaven bringen lassen. Der Platz war voll, und wir mußten das Zelt an der einzigen freien Stelle aufstellen. Daß da Binsen wuchsen, hätte uns eigentlich warnen sollen.

Nach drei schönen Tagen schlug das Wetter um. Sturm und Regen. Das Heulen des Windes wurde permanent, und eine der Firststangen des Zeltes brach bei einer der ersten stärkeren Böen. Die Vision, daß das ganze Zelt weggeweht wurde, stand vor unser aller Augen. Dazu floß von allen Seiten das Wasser in unser Zelt und stieg auf 20 Zentimeter. Meine Eltern wechselten sich ab, das Zelt festzuhalten, und eine provisorische Stütze bog sich bei jeder Bö gefährlich weit durch.

Noch lange nach dieser Zeit beunruhigte mich das Geräusch von heftig prasselnden Regen und böigem Wind, selbst dann, wenn ich mich in massiven Gebäuden befand. Meine Wahrnehmung von Gefahr war bei diesem Urlaub damals auf diese Geräusche fixiert worden. Und es waren nur diese Geräusche: Eine Digitalanzeige, die sagt, um wieviel Prozent der Bruchlast eine Wand belastet wird, ist wesentlich weniger direkter und würde mich nicht sehr aufregen - und genau das ist unsere Situation hier. Der Druck draußen ist eine Zahl. Die wird nicht so richtig als gefährlich empfunden - das Boot knackt ja nicht einmal. Das Wasser hier drinnen und die Schräglage des Bootes sind realer - aber die sind mehr ein Ärgernis und keine Bedrohung.

Manchmal denke ich, daß vielleicht etwas hirnorganisches mit mir nicht in Ordnung sein könnte, wenn eine sachliche Information, die eine existenzielle Bedrohung für mich beschreibt, nicht so richtig wahrgenommen wird. Kann ich denn das bißchen nicht abstrahieren? Muß immer etwas dabei sein, was manchmal doch nur ein Attribut der Gefahr ist und nicht die Gefahr selbst? Gebrüll, Lärm, Finsternis? Vielleicht Höhenschwindel?

Da gibt es doch in der Verfilmung von 'Das Boot' die Szene, wie die havarierte U96 in der Straße von Gibraltar wieder auftaucht, aus einer Tiefe von 280 Metern. Die Spannung dieser Szene konzentriert sich schließlich auf eine einzige Kameraeinstellung: Die zitternde Nadel des Tiefenmessers. Der Zuschauer riecht nicht die verbrauchte Luft, spürt nicht die Erschöpfung der tagelangen Arbeit, das Boot wieder flott zu kriegen. Trotzdem ist diese Szene spannend. Liegt das an der Begleitmusik? Oder an der Kürze der Szene? - So ein bißchen ist diese Situation doch jetzt der unseren ähnlich. Und trotzdem spüre ich nicht genug Panik.

Vor zweieinhalb Jahren, in der Welthöhle, war ich viel häufiger der Panik viel näher. Ja, auf dem Weg nach Casabones hinauf war es ja ganz aus - ich war ein handlungsunfähiges, zitterndes Bündel Mensch. Hatte Charmion mich nicht tragen müssen?

Aber vielleicht liegt es doch nicht an mir - auch bei den anderen sehe ich kaum Anzeichen besonderer Besorgnis. Und als das Wasser vor kurzem noch in das Boot hineinströmte, hatte ich nicht die Muße, darauf zu achten.

Das war die Lage am Dienstag, dem 19. Januar. In der Nacht vorher, vom Montag zum Dienstag, hat sowieso wohl kaum jemand geschlafen. Aber wir kriegten wenigstens den größten Teil der Bordsoftware wieder auf die Reihe. Am frühen Morgen konnten wir zum Beispiel bereits wieder eine aktuelle Streßanalyse des Schiffskörpers durchführen. Es zeigte sich, daß alles in Ordnung war, trotz des unsanften Aufsetzens auf dem Grund dieser Höhle.

Der SISC lief wieder, und mit den Außenkameras konnte festgestellt werden, daß das Schiff von außen unbeschädigt war. Das veranlaßte Wellington zu einer Bemerkung über den unterschiedlichen Grad der Ausgereiftheit von Schiffsbautechnik und Softwaretechnik. Ich erwiderte nichts - er hatte ja recht.

Unseren derzeitigen Liegeplatz hätten wir natürlich nie ausgesucht, wenn wir die Wahl gehabt hätten, wo wir das Schiff auf den Höhlengrund legen wollen. Kantige, steile Riffe klemmten das ganze Schiff ein. Immer wieder hören wir ein Schleifen und Kratzen durch die Wände dringen - das Schiff bewegt sich, weil es in jeder Sekunde um ein Kilogramm leichter wurde. Aber eine Gefahr bestand nicht.

Carola hängte sich in die Source-Code-Analyse des Servers für die Regelszellen und die Trimmungen. Sie wurde sogar fündig, allerdings blieb es unklar, ob das Problem mit dem offenen Regelventil da herrührte:

Das Programm führte Buch über jedes Ventil und dessen Zustand. Das hat man sich prinzipiell etwa so vorzustellen, daß zum Beispiel ein bestimmtes Bit auf 1 gesetzt wird, wenn ein Ventil aufgemacht wird, und auf 0, wenn es wieder geschlossen wird. Wenn ein Teil des Programmes sich nun über den Zustand des Ventils informieren will, dann reicht es aus, dieses Bit zu inspizieren.

So weit, so gut. Das ist softwaretechnisch ein sauberes Vorgehen, und im Falle eines einfachen Ventiles, wo man nur die Auf-oder-zu Information speichern muß, sogar ein sehr einfaches Verfahren. Weniger sauber ist jedoch, daß im Prinzip irgendwo im Programm, ob nun absichtlich oder nicht, dieses Bit gesetzt oder gelöscht werden kann, ohne daß auf die Konsistenz mit dem aktuellen Ventilzustand geachtet wird. Es ist also möglich, daß dieses bestimmte Bit sagt, das Ventil sei geschlossen, wenn es in Wirklichkeit noch offen ist. Ein anderer Programmteil, der zum Beispiel dieses Ventil schließen soll, könnte daraufhin jede Aktion verweigern, weil dieses Bit ja sagt, das Ventil sei schon zu. Schließlich gibt es Ventile, die ein mehrfaches Schließen nicht vertragen würden - das hängt von dessen technischen Eigenschaften ab. Und dann verwandelt sich diese Abfrage des Ventil-Bits, die als eine Sicherheitsmaßnahme gedacht war, in eine Falle.

Das, meinte Carola, wäre eine Möglichkeit, wie es passiert sein konnte. Ein echter Programmfehler. Und ein Fehler in der Wahl der Mittel: In einer Sprache wie Ada kann man die Steuerung eines Ventils so programmieren, daß unauthorisierte Programmteile nicht an diese Steuerung herankommen. Aber dieser Server ist in C geschrieben. Und in C ist alles möglich.

Carola untersuchte große Teile des Programmcodes auf unauthorisierte Zugriffe auf die Ventildaten. Sie fand nichts. Alles schön und sauber programmiert, trotz dieser zu Disziplinlosigkeit ermutigenden Programmiersprache. Aber das besagte nichts. Wir haben nicht die Zeit, wirklich die gesamte Software durchzukämmen. Es blieben also alle Möglichkeiten offen: Programmfehler oder Sabotage. Wir waren so klug wie zuvor.

Der Treiber, mit dem Carola den Reaktor abgestellt hatte, wurde natürlich in seinen ursprünglichen Zustand wiederhergestellt. Damit befand sich der gesamte Programmcode wieder im ursprünglichen Zustand. Allerdings lief die Trimmungssoftware noch nicht, weil das Boot ja noch auf Grund lag.

Am Nachmittag dieses Tages bat Wellington mich zu einem Vier-Augen-Gespräch. Da es soviele Privaträume auf der CHARMION nicht gibt, gingen wir in den Raum direkt unter dem Turmluk, also in das obere Stockwerk des zentralen Niederganges, wo im Moment niemand etwas zu tun hatte.

"Herr Homberg, wer von dem wissenschaftlichen Personal kennt sich wie gut in der Informatik aus?" fragte er mich ohne jede Einleitung.

"Grundkenntnisse haben wohl mehr oder weniger alle."

"Ich meine, wer kann ein Computersystem so aufrollen, daß er das findet, was er sucht?"

"Die beiden Informatiker natürlich, Frau Rau und Herr Daum. Wenn man Ihnen Zeit genug gibt. Naja, und meine Wenigkeit wohl auch."

"Und weiter?"

"Amurdarjew hat anspruchsvolle Simulationen gemacht, aber im wesentlichen auf dem Niveau der Anwenderprogrammierung. Ebenso Seltsam."

"Und sonst?"

"Fehlanzeige," sage ich, "jedenfalls, was die Intima eines Betriebssystems betrifft. Eine ausgeprägte Hacker-Mentalität und die Befähigung dazu hat wohl niemand."

"Haben Sie den Eindruck, daß jemand mehr Fertigkeiten hat als er zugibt? Fähigkeiten auf irgendeinem Gebiet?"

"Eigentlich nicht."

"Mmh. Danke Ihnen trotzdem, Herr Homberg."

"Fragen Sie doch Frau Rau!" schlage ich vor, "Seit ich sie kenne - und das sind weiß Gott schon einige Jahre - habe ich immer wieder bemerkt, daß sie Menschen unheimlich treffend beurteilen kann. - Wenn jemand eine Hacker-Mentalität hat und das zu verbergen sucht, dann merkt sie das noch am ehesten!"

"Das habe ich getan. Sie hat mit genau derselben Begründung vorgeschlagen, Sie darüber zu befragen!"

Dann geht diese Besprechung ohne weiteres Ergebnis zuende.

Am Abend dieses 19. Januar kann man acht weitere Kabinen betreten und, wenn man sich einen sehr trockenen Zuluftstrom einstellt, sogar in den Kojen schlafen. Aber auch das erfordert einigen Einsatz der Schiffsingenieure, da auch die Luftleitungen der Klimaanlage teilweise vollgelaufen sind. Außerdem müssen auch die ganzen Zwischenwandinstallationen mit Süßwasser abgespült und trockengeföhnt werden. Eine Heidenarbeit. Jeder ist beschäftigt. Und jeder ist übermüdet.

Esther Petersen hat die Wache von 16 Uhr bis Mitternacht, obwohl sie den ganzen Tag geschuftet hat, danach bin ich wieder dran. Deshalb lege ich mich vorher ein paar Stunden hin.

Trotz meiner Müdigkeit ist es aber schwer, in einer 30 Grad abschüssigen Koje einzuschlafen.

Auf dieser Nachtwache am Anfang des 20. Januar bin ich nicht allein. Oben, im vorderen Oberdeck - das tiefer als die Zentrale liegt - sind schon wieder eine ganze Menge Rechnerconsolen und Geräteschränke trockengefallen. Einige der Techniker sind dabei, die Interna dieser Geräte mit Reinstwasser abzuspülen und dann zu trocknen. Ich bekomme sie kaum zu sehen.

Die reichliche Verwendung von Frischwasser, das deshalb jetzt in maximal möglicher Menge produziert wird, senkt natürlich die Wassermenge, die pro Zeiteinheit von Bord gepumpt werden kann. Andererseits nimmt durch dieses Spülwasser der Salzgehalt des Seewassers im Boot langsam ab, da die aufkonzentrierte Sole bevorzugt von Bord gepumpt wird. Mit dem LOGEDITOR lese ich, daß unser Chemiker, der Dr. Cohausz, das eingedrungene Seewasser noch genauer untersucht hat, als das routinemäßig sowieso schon getan wird. Wenn es irgendwelche Spuren chemisch aggressiverer Bestandteile gegeben hätte, etwa Salzsäurespuren oder so etwas, dann hätte man diese kompensieren können. Das war aber nicht der Fall. Etwas anderes, was Cohäuszchen untersucht und womit er den ganzen letzten Tag verbracht hat, ist die eventuelle Notwendigkeit des Einsatzes von Opferelektroden. Aber die hochwertigen Materialien, die in der CHARMION verbaut worden sind, machen so etwas überflüssig, jedenfalls, wenn wir das Boot tatsächlich, wie geplant, in einigen Tagen wieder trocken bekommen haben.

Die meisten der elektrischen Leiter, egal, ob sie nun Schwachströme für die Informationsverarbeitung oder Leistungsströme transportieren, kommen sowieso nicht mit dem Salzwasser in Berührung. Sie sind von Isolationsmaterial umgeben, das von Salzwasser bei geringem Druck nicht penetriert werden kann. Sogar auf die meisten Platinen in den Rechnern trifft das zu: Warum soll man die Chips den Zufälligkeiten aussetzen, die die Außenluft herantransportieren kann, wenn man sie ebensogut ganz einkapseln kann? - Eine Platine in unseren Bordrechnern sieht durchaus nicht so aus wie eine Platine in meinen Rechnern zuhause.

Weil ich sonst nichts zu tun habe, und weil ich nicht will, daß es so aussieht, als ob ich nichts zu tun habe - damit niemand auf die Idee kommt, daß ich während meiner Wache auch Platinen trockenreiben könnte - hacke ich so ein bißchen im System herum. Hat ja auch seine Berechtigung, denn vielleicht finde ich ja etwas, was uns unsere Schwierigkeiten lösen hilft. Weil ich aber müde bin, tue ich das nicht sehr konzentriert. Es dauert nicht lange, bis ich einfach als Systemverwalter einen Blick in die privaten Dateiverzeichnisse der anderen Projektmitarbeiter werfe.

Sowas tut man nicht. Ich habe ja auch gar nicht die Absicht, Privatpost zu lesen. Aber ein Systemverwalter muß ein bißchen darauf achten, daß nicht irgendjemand Blödsinn macht. Es kann zum Beispiel jemand unbeabsichtigt noch einen Prozeß laufen haben, der langsam aber sicher eine riesige Datei erzeugt. Dann muß man das beenden. Das UNIX und die meisten seiner Ableger wehren sich nicht entschieden genug dagegen, daß irgendjemand zuviel Systemresourcen beansprucht.

Ist mir auch schon passiert. Als ich vor neun Jahren das erste Mal an einer UNIX-Installation arbeitete, habe ich kurz vor Dienstschluß die '.login'-Datei noch einmal geändert. Das ist eine Datei, in der UNIX-Befehle stehen, die abgearbeitet werden, wenn man sich am System anmeldet und dabei einen bestimmten Kommandointerpreter benutzt, die sogenannte C-Shell. Auf diese C-Shell war ich erst kurz zuvor umgestiegen, und in meiner '.login' Datei waren noch Befehle drin, die für die C-Shell schwer verdaulich waren. Einer davon führte dazu, daß das System in eine Endlosschleife geriet.

Kann ja passieren. Leider war das betreffende System ein von mehreren Abteilungen genutztes Mehrplatzsystem, und die verantwortliche Systemverwalterin war schon nach Hause gegangen. Ich selbst konnte mich natürlich nicht an einem anderen Terminal einloggen, um mich selbst abzuschießen, weil mir an diesem anderen Terminal ganz genau das gleiche passiert wäre. Ich konnte also gar nichts tun. Die wildgewordene '.login'-Datei war die ganze Nacht über tätig, und ich wußte nicht genau, womit.

Am anderen Morgen erfuhr ich dann, daß ich in dieser Nacht den größten Teil der verfügbaren Rechenzeit auf dieser Maschine verbraten hatte. Peinlich für meine Abteilung, die das bezahlen mußte.

Aus diesen und ähnlichen Vorfällen, die bei allen UNIX- und UNIX-ähnlichen Betriebssystemen immer mal wieder passieren, resultiert das Recht und eigentlich auch die Pflicht des Systemverwalters, die Augen offenzuhalten, um ungewöhnliche Vorgänge frühzeitig zu erkennen. Häufig ist es ja gar keine böse Absicht eines Benutzers, sondern ein Versehen, und der betreffende Benutzer ist manchmal noch dankbar, wenn man ihn vor Schaden bewahrt hat. Es wird jedenfalls noch einiges dauern, bis der Systemverwalter als ein selbstständiges Modul in UNIX eingebaut ist!

Und jetzt sehe ich mir eben mal die privaten Dateiverzeichnisse an. Jeder an Bord hat eines. Mal sehen. Edwin und Carola haben die umfangreichsten Dateibestände - Arbeit hinterläßt eben Spuren. Amurdarjew hat auch viel. Dr. Palmer hat sich noch nie eingeloggt. Vielleicht traut er sich nicht.

Da sehe ich, daß Dr. Reinhardt erst gestern abend auf dem System war, also erst vor wenigen Stunden. Wie denn das? Eigentlich werden doch alle zum Großreinemachen gebraucht, oder sehe ich das falsch? Ich sehe mir sein Dateiverzeichnis genauer an. Eine Datei mit Namen DIAPSIDA.TXT ist erst gestern abend erstellt worden. Da werfe ich mal einen Blick rein. Ein einfaches Schema ist dort zu sehen:


Diapsida
   Archosauria
      Saurischia
         Theropoda
            Coelurosauria
               Coelophysidae=Procompsognathidae ?
               Coeluridae
               Noasauridae
               Shanshanosauridae
               Segisauridae
               Compsognathidae
               Avimimidae
               Archaeopterygidae
               Elmisauridae
               Oviraptoridae
               Caenagnathidae
            Ornithomimosauria
               Ornithomimidae
               Garudimimidae
            Deinocheirosauria
               Deinocheiridae
            Deinonychosauria
               Dromaeosauridae
               Saurornithoididae
            Carnosauria
               Teratosauridae
               Megalosauridae
               Allosauridae
               Ceratosauridae
               Dryptosauridae
               Spinosauridae
               Tyrannosauridae
               Itemiridae
            Segnosauria
               Segnosauridae
            Therizinosauria ?
               Therizinosauridae
         Sauropodomorpha
            Prosauropoda
               Staurikosauridae
               Herrerasauridae
               Anchisauridae
               Plateosauridae
               Roccosauridae
               Mussauridae
               Blikanasauridae
            Sauropoda
               Cetiosauridae
               Brachiosauridae
               Camarasauridae
               Titanosauridae
               Diplodocidae
               Barapasauridae
               Chubutisauridae ?
               Reinhardtsauridae
      Ornithschia
         Ornithopoda
            Fabrosauridae
            Heterodontosauridae
            Hypsilophodontidae
            Troödontidae
            Thescelosauridae
            Camptosauridae
            Iguanodontidae
            Hadrosauridae
            Pachycephalosauridae
            Chaoyoungosauridae ?
         Stegosauria
            Stegosauridae
         Ankylosauria
            Scelidosauridae
            Nodosauridae
            Ankylosauridae
         Ceratopsia
            Psittacosauridae
            Protocertopsidae
            Ceratopsidae

Ich erkenne dieses Schema. Eine vielleicht etwas unvollständige Klassifikation der Saurier. So ein paar Fachausdrücke habe ich in den Lehrgängen in München ja aufgeschnappt. Aber wieso editiert Dr. Reinhardt unter diesen Umständen ein Klassifikationsschema der Saurier? Gibt es jetzt nichts Dringenderes zu tun? Oder übt er bloß das Editieren? Soviel Dateien hat er nämlich gar nicht in seinem Dateiverzeichnis.

Da fällt mir noch etwas auf: 'Reinhardtsauridae' Einfach so, mitten drin in diesem Klassifikationsschema. Aha: Dr. Reinhardt auf dem Wege zum Ruhm! Er war zwar noch nicht unten, in der Welthöhle, und bis vor kurzem war er auch noch der eifrigste Verfechter der Idee, daß es die Welthöhle gar nicht gibt - aber eine Saurierart hat er schon nach sich benannt! Nicht nur das - er weiß sogar schon, daß der 'Reinhardtsaurier' zu den Sauropoden gehört! Die ganz normale Paranoia - Größenwahn. Naja, so an der Grenze. Macht ihn fast sympathisch.

Aber es ärgert mich, daß alle arbeiten, um das Schiff in Ordnung zu bringen, und er hat nichts besseres zu tun als seinen wissenschaftlichen Ruhm vorzubereiten oder den Umgang mit dem 'vi' zu üben.

Wo hat er sich überhaupt eingeloggt - seine eigene Kabine liegt doch ziemlich weit vorne, die müßte noch unter Wasser sein. Und in unseren Arbeitsraum oben war er wohl auch nicht. Ich sehe nach.

Seltsam. Es war eines der Terminals im Reaktorraum. Was hat er denn da zu suchen?

Naja, zur Zeit treiben wir uns alle an unüblichen Orten herum. Ich sollte das nicht überbewerten. Und auch nicht, wenn er mal fünf Minuten auf dem Rechner spielt. Tue ich jetzt ja auch.

Ich kämme das System weiter durch. Vorgestern, um 16 Uhr, war Gabi Gohlmann drin - etwa zwei Stunden vor ihrem durch den Wassereinbruch unterbrochenen Verführungsversuch. Merkwürdig - seitdem hat sie keine Bemerkung darüber gemacht. Oder auch nicht merkwürdig - unsere Gelegenheiten, private Worte zu wechseln, waren seitdem stark einschränkt. Was sie wohl gemacht hat? Allzuviele Dateien hat sie auch nicht auf dem System. Zwei ihrer lokalen Dateiverzeichnisse hat sie 'bin' und 'src' genannt. Das ist in UNIX weithin üblich, wenn man Programmierarbeiten macht - in 'src' stehen die Source-Code-Dateien drin, und in 'bin' die ablauffähigen Objekte. Da hat sie wohl ein bißchen programmieren geübt.

Was sie wohl programmiert hat? 'Zeige mir, was du zum Spaß programmierst, und ich sage dir, wer du im Ernst bist.'. Gilt auch in dieser modifizierten Form.

Fehlanzeige - ihre 'bin' und 'src' sind leer. Gerade will ich mir andere Dinge ansehen, da fällt mir etwas merkwürdiges auf: Diese Dateiverzeichnisse sind zwar leer, aber groß.

Das ist interessant.

In Unix und seinen Ablegern ist ein Dateiverzeichnis zunächst mal eine ganz normale Datei, in der einfach für einige weitere Dateien jeweils ein Eintrag vorhanden ist, bestehend aus Dateinamen, Attributen, Zugriffszeitstempeln und Pointern, um die Informationen in den eingetragenen Dateien selbst im Dateisystem zu finden. Dabei handelt es sich um Blockaddressen des ersten und letzten Dateiblockes, eventuell auch um Blocknummern des ersten und letzten Indirektionsblockes erster oder höherer Stufe, wenn die Datei sehr groß ist.

Wenn nun eine Datei gelöscht wird, dann wird im allgemeinen der betreffende Eintrag im Dateiverzeichnis auf 'ungültig' gesetzt. Es findet aber keine Reorganisation statt, etwa in dem Sinne, daß die Einträge für die existierenden Dateien zusammengeschoben werden und so das Dateiverzeichnis gekürzt werden kann. Zwar könnte der Rechner durchaus solche Aufgaben so nebenher wahrnehmen - also nachsehen, ob Dateiverzeichnisse gekürzt werden können und dieses dann auch tun - aber in vielen UNIX - Versionen tut man das nicht, weil es auf existierende Einträge in einem Dateiverzeichnis von irgendwoher Verweise geben kann, die etwa eine Datei nicht über ihrem Namen und den Namen der Dateiverzeichnisse, in denen sie enthalten ist, identifizieren, sondern über eine Reihe von 'offset'-Angaben: Diese Datei ist zu finden als 47. Datei im Dateiverzeichnis soundso, dieses wiederum ist in einem anderen Dateiverzeichnis der 55. Eintrag. Auf diese Weise kann das Betriebssystem sehr schnell auf eine Datei zugreifen - viel schneller, als wenn es erst Dateiverzeichnisse durchsuchen und die Dateien selbst durch ihren Namen identifizieren muß.

Ein Verschieben einer Datei in einem Dateiverzeichnis hieße, daß man sämtliche solche Absolut-Verweise auf diese Datei ändern muß - und die können überall im Dateisystem vorhanden sein. Das aber zu durchsuchen ist kaum möglich, weil es so groß ist - gerade bei diesem PRO-UNIX.

Aus diesem Grund findet eine Reorganisation nicht statt. Ist einmal eine Datei als hunderterste Datei in einem Dateiverzeichnis geschaffen und sind alle anderen Dateien danach gelöscht worden, dann bleibt das Dateiverzeichnis so lang, daß diese hundert gelöschten Dateien tatsächlich noch ihren Platz für ihren Eintrag haben.

Wen diese Verschwendung von Speicherplatz stört, der kann sich damit trösten, daß wenigstens diese Einträge schon gelöschter Dateien zur Verfügung stehen, wenn in diesem Dateiverzeichnis neue Dateien geschaffen werden.

Es kann allerdings sein, daß ein Dateiverzeichnis ganz leer ist - dann kann man es mit gutem Gewissen kürzen - oder daß eine gewisse Menge Dateien am Ende des Dateiverzeichnisses gelöscht worden sind - dann kann man das Dateiverzeichnis wenigstens um diesen Teil kürzen. Aber das ist so selten, daß viele UNIX-Ableger das nicht tun, und bei diesem PRO-UNIX kümmert sich ab und zu ein Dämon darum, überflüssig lange Dateiverzeichnisse zu kürzen.

Das ist bei diesen lokalen Verzeichnissen von Gabi noch nicht geschehen. Also hatte sie vor nicht allzu langer Zeit noch eine sehr große Anzahl von Dateien in diesen Verzeichnissen gehabt. Man kann leicht feststellen, daß es tausende gewesen sein müssen.

Hat das was zu bedeuten? Wenn man ein bißchen rumprogrammiert, zum Zwecke der Übung oder der Unterhaltung, dann entstehen nicht so viele Dateien. Höchstens ein paar Handvoll. Andererseits kann es leicht passieren, daß man sich versehentlich eine große Menge Dateien irgendwoher kopiert, die man dann wieder löscht, weil man sie nicht braucht.

Ich überlege, ob ich ein paar der freigegebenen Blöcke des Dateisystems untersuchen soll, um rauszukriegen, was in diesen Dateien drin war. Aber das würde mir jetzt etwas zuviel Arbeit bedeuten. Warum auch - es gibt soviele legitime Möglichkeiten, wie man doch dazu kommt, vorübergehend viele Dateien zu haben. Also lassen wir's.

Ich lehne mich in dem unbequem schief liegenden Sitz zurück. Wach bleiben. Einzige Pflicht. Vielleicht nicht unbedingt notwendig, weil noch einige andere auf sind - aber Wellington hat nicht angedeutet, daß man unter diesen Umständen vom üblichen Wachrhythmus und -Verfahren abweichen könnte. Ich bin also nicht direkt verpflichtet, während meiner Wache etwas Nützliches zu tun - genausowenig wie andere Wachhabende. Ja, Wellington wird morgen sicher sehr froh sein, wenn er feststellt, daß ich nichts Unnützes angestellt habe, wie auf meiner letzten Wache.

Ich könnte mich zum Beispiel mal um die Dateisicherungen kümmern. Aber da Carola und Edwin hauptsächlich für das System verantwortlich sind, haben sie vielleicht eine Systematik eingeführt, die ich nicht kenne, und dann kann ich leicht etwas kaputt machen. Bei bestimmten Tätigkeiten muß man vorsichtig sein mit dem Begriff 'Teamarbeit': Geteilte Arbeit ist durchaus nicht immer halbe Arbeit. Manchmal ist es zehnfach soviel. Es gibt ja das alte Sprichwort: 'Adding manpower to a late project makes it later.' Es wird immer wieder bestätigt - immer, wenn eine junge, aufstrebende, dynamische Führungskraft sich profilieren möchte. Also, wie Carola und Edwin auch ihre Dateisicherung organisiert haben mögen - ich helfe ihnen erst, wenn sie mich dazu auffordern.

Ich werfe einen Blick ins Bulletin - da es an Bord der CHARMION ja kein Schwarzes Brett für die Neuigkeiten gibt, werden Dinge von Allgemeinem Interesse im Rechner in allgemein zugänglichen Dateien gehalten. Jeder sollte da so ab und zu mal nachsehen. Bei uns heißt das Verzeichnis für diese Dinge naheliegend 'CHARMION'.

Zum Beispiel der Wachplan: Eine kurze Inspektion der Datei 'CHARMION/watches.txt', die zu beachten im Bulletin empfohlen wird, zeigt folgendes Schema:


Tag  Wache:       00-08        08-16        16-24

000: 99-01-13 Mi  Aldingborg   Wellington   Amerlingen
001: 99-01-14 Do  Homberg      Fahlenbeek   Kufferath
002: 99-01-15 Fr  Serpinski    Wellington   Spaliter
003: 99-01-16 Sa  Rau          Amerlingen   Gohlmann
004: 99-01-17 So  Daum         Fahlenbeek   Priest
005: 99-01-18 Mo  Solzbach     Wellington   Chapman
006: 99-01-19 Di  Grail        Amerlingen   Petersen

007: 99-01-20 Mi  Homberg      Fahlenbeek   Garner
008: 99-01-21 Do  Wondrachek   Wellington   Chapman
009: 99-01-22 Fr  Rau          Amerlingen   Palmer
010: 99-01-23 Sa  Gohlmann     Fahlenbeek   Grail
011: 99-01-24 So  Yay          Wellington   Petersen
012: 99-01-25 Mo  Seltsam      Amerlingen   Dauphin
013: 99-01-26 Di  Amurdarjew   Fahlenbeek   Aldingborg
014: 99-01-27 Mi  Daum         Wellington   Kufferath
015: 99-01-28 Do  Reinhardt    Amerlingen   Colbert
016: 99-01-29 Fr  Cohausz      Fahlenbeek   Priest
017: 99-01-30 Sa  Solzbach     Wellington   Makenzie
018: 99-01-31 So  Serpinski    Amerlingen   Elderman
019: 99-02-01 Mo  Spaliter     Fahlenbeek   Sydekum

020: 99-02-02 Di  Garner       Wellington   Homberg
021: 99-02-03 Mi  Chapman      Amerlingen   Wondrachek
022: 99-02-04 Do  Palmer       Fahlenbeek   Rau
023: 99-02-05 Fr  Grail        Wellington   Gohlmann
024: 99-02-06 Sa  Petersen     Amerlingen   Yay
025: 99-02-07 So  Dauphin      Fahlenbeek   Seltsam
026: 99-02-08 Mo  Aldingborg   Wellington   Amurdarjew
027: 99-02-09 Di  Kufferath    Amerlingen   Daum
028: 99-02-10 Mi  Colbert      Fahlenbeek   Reinhardt
029: 99-02-11 Do  Priest       Wellington   Cohausz
030: 99-02-12 Fr  Makenzie     Amerlingen   Solzbach
031: 99-02-13 Sa  Elderman     Fahlenbeek   Serpinski
032: 99-02-14 So  Sydekum      Wellington   Spaliter

Das Schema hat System: Der Alte wechselt sich mit seinen beiden Offizieren zyklisch bei der Wache zwischen 8 und 16 Uhr ab. Da sind sie jeden dritten Tag dran, aber dafür haben sie keine Nachtwachen. Man könnte drüber diskutieren, ob es gerecht ist, Wachen als solche zu zählen, die während der normalen Dienstzeit stattfinden, aber - naja. 'Rank has it's privileges.', wie der Kapitätn Queeg in 'The Caine Mutiny' so schön formuliert. Außerdem sind unsere 'Häuptlinge' eigentlich wirklich dauernd im Dienst, wie jeder von uns beobachten kann - im Gegensatz zu den leitenden Angestellten meines alten Arbeitgebers, die hauptsächlich bemüht waren, ihren Stuhl warmzuhalten.

Unsere Wachen richten sich nach einen 13-Tage-Rhythmus. 13 Tage lang haben die anderen 13 Mitglieder des nautischen Personals die Wache von Mitternacht bis morgens um acht, und die 13 Wissenschaftlichen von 16 Uhr bis Mitternacht. Die nächsten 13 Tage wiederholt sich das Ganze, wobei die Nautischen mit den Wissenschaftlichen tauschen. Doktor Morton ist von diesem Rhythmus ausgenommen, aus welchem Grund auch immer. Die Reihenfolge der Wachen ist - ganz originell - gerade die Kabinenreihenfolge.

Es handelt sich also eigentlich um einen 26-Tage-Rhythmus, aber da 26 nicht durch 3 teilbar ist, wird sich eine bestimmte Kombination der drei Wachhabenden eines Tages erst nach 3 mal 26 Tagen, also nach 78 Tagen wiederholen.

Außerdem sieht man, daß Wellington - oder wem auch immer - dieses Schema erst relativ spät eingefallen ist. Wenn ich es richtig sehe, dann ist diese meine jetzige Wache die erste aus diesem Schema.

Und noch etwas, über das man sich endlos Gedanken machen kann, sieht man: Die offizielle Zählweise der Tage. Seit es Informatiker gibt, fängt man beim Zählen ja nicht mehr unbedingt bei Eins, sondern oft auch bei Null an. Der Tag, an dem wir ablegten, ist der nullte Expeditionstag - im üblichen Sprachgebrauch wäre es ja eigentlich der erste.

Aber Informatik hin oder her - der erste Tag war ja noch gar kein ganzer Tag. Wir sind ja erst um acht Uhr morgens losgefahren. Und die meiste Zeit des Tages waren wir in allgemein zugänglichen Gewässern - tatsächlich sind wir erst gegen Ende dieses Tages in dieses Höhlensystem eingefahren. Erst von da an bewegten wir uns in Neuland. Und der nächste Tag ist dann, nach dieser Zählweise, der erste Tag. Vielleicht doch die naheliegende Zählweise?

Ich weiß es nicht. Gerade bei der Zeitzählung, ja in unserem bürgerlichen Kalender, ist so vieles unlogisch. Jeder, der sich in der Relativitätstheorie ein bißchen auskennt, weiß, daß es mit einer allgemeinen Zeitmessung und einer allgemeinen Benennung von Zeitpunkten schwierig wird, wenn Menschen sich über diese unterhalten, die sich relativ zueinander mit großen Geschwindigkeiten bewegen, oder die sich in deutlich unterschiedlichen Gravitationspotentialen aufhalten. Da kann man sehr unübersichtliche Probleme haben - es ist also überhaupt nicht nötig, sich das Leben mit Schaltjahren und dem fehlenden Jahr Null kompliziert zu machen.

Andere Dinge von Interesse finden sich im Moment nicht im Bulletin.

Plötzlich durchzuckt mich ein Gedanke: Die Direktive q78q99q! Die verschlüsselten Dateien! Ich habe sie schon lange nicht mehr angesehen. Ob jemand anderes seit unserem Losfahren ein Blick reingeworfen hat? Das läßt sich ja schnell rauskriegen. Warum habe ich nicht eher dran gedacht? Wo waren die noch? Ich glaube, das Dateiverzeichnis hieß /etc/mission-instructions.

Da ist es ja. Das Dateiverzeichnis existiert also noch. Ich werfe einen Blick hinein.

Es ist leer.

Jemand hat die verschlüsselten Dateien gelöscht! Wenn wir sie nicht auf unsere privaten 36-64-er kopiert hätten, dann wären jetzt alle Spuren verschwunden. Gerade, als ich mir überlege, ob ich versuchen sollte, die gelöschten Einträge in diesem Dateiverzeichnis zu untersuchen, um den Löschzeitpunkt einzukreisen, tauchen einige von der nautischen Besatzung in der Zentrale auf, um sich ins Krankenrevier zum Schlafen zu begeben. Das heißt, daß jemand anderes über kurz oder lang wieder durch die Zentrale nach vorne gehen wird. Dabei kann man natürlich nicht gescheit arbeiten, und ich möchte auch nicht, daß mir jemand über die Schulter sieht und erkennt, was ich mache.

Eigentlich ist es ja auch egal, weil wir die Dateien sichergestellt haben. Es ist nur ärgerlich, daß dieses Löschen praktisch vor unseren Augen passiert ist: In einer so umfangreichen Installation werden ständig so viele Dateien neu erzeugt oder wieder gelöscht, daß man das nicht mit vernünftigem Aufwand verfolgen kann. Wer immer die Direktive q78q99q gelöscht hat, weiß wahrscheinlich nicht, daß es Kopien gibt.

Nebenbei - da sind ja nicht nur unsere Kopien: Das gesamte Dateisystem wird ja regelmäßig gesichert. Ob derjenige Hand an die Sicherungsbestände gelegt hat? Ich muß Carola und Edwin auf diese Gefahr hinweisen. Bei Gelegenheit.

Auf jeden Fall ist es nicht mehr gut möglich, sich der Illusion hinzugeben, daß der Adressat der Direktive eventuell gar nicht an Bord ist. Ich habe das sowieso nie geglaubt, aber es wäre ja eine prinzipielle Möglichkeit gewesen. Er ist da, und er hat versucht, seine Spuren zu verwischen.

5 Uhr inzwischen. Die Zeit zieht sich hin. Ich schätze Luxus. Bequemlichkeit. Ein schief liegendes Boot bietet beides nicht. Nirgends kann man gut stehen, sitzen oder liegen, essen muß man da, wo Platz ist, und essen muß man das, was aus den Truhen zufällig geholt werden konnte. Die, deren Kabinen noch unter Wasser sind, sind nie allein. Zahllose neue, lästige Tätigkeiten, bedingt durch die Situation des Bootes, fallen einem auf den Wecker. Und doch haben wir irgendwie die Situation im Griff.

Dafür weiß ich nicht genau, wo ich stehe. Damals, in der Welthöhle, waren wir auf uns alleine gestellt, um das Abenteuer zu überleben. Hier ist es anders. Jeder liefert seinen Beitrag - und ich weiß nicht, ob ich genug liefere. Meine Rolle ist Beratung, als Kenner der Welthöhle. Das ist eine sehr unscharfe Rolle. Der Vertrag sagt gar nichts darüber aus, was ich tun muß. Carola und Edwin kennen sich im Rechnersystem besser aus, ich selbst aber nicht so viel schlechter, daß ich gar nichts tun kann. Die nautischen kennen das Boot besser, die Reaktoringenieure kennen den Reaktor besser, die vom wissenschaftlichen Personal haben ihre thematisch umrissenen Forschungsaufgaben, ja, jeder hat sein Gebiet, wo er sich die beste Kompetenz unter der Besatzung aneignen kann oder schon angeeignet hat. Ich hänge irgendwie zwischen allen Stühlen. Brauchbar genug, um Nachtwache zu schieben und allgemeine Aufgaben zu übernehmen. Nicht in der Lage, den anderen große Hilfe zu bieten oder das ganze Unternehmen aus der Krise zu ziehen, wenn es denn mal in eine solche hineingerät - wie etwa jetzt.

Vielleicht ist es die Müdigkeit in diesen frühen Morgenstunden, die bewirkt, daß ich mich nutzlos fühle. Oder es sind die Selbstzweifel des Generalisten gegenüber den Spezialisten, die immer berechtigt und unberechtigt zugleich sind. Ich weiß es nicht. Ich bin einfach nur müde.

So um kurz nach 6 Uhr wird es wieder lebhaft in der Zentrale, und ich kann mich in meine schiefliegende Kabine verziehen. Damit zwinge ich Natalie faktisch zum Aufstehen. Wir muffeln uns gegenseitig an wie ein altes Ehepaar. Liegt wohl an der beiderseitigen Müdigkeit - wenn man müde ist, gehen alle motorischen Routinetätigkeiten schlechter, ganz besonders in dieser räumlichen Enge: Wir kommen uns dauernd in die Quere.

Den größten Teil dieses Tages schlafe ich tatsächlich durch. Erst um 18 Uhr weckt Natalie mich.

"Ich glaube, ich weiß, wer dahinter steckt!" sagt sie, als sie angezogen in mein Bett klettert.

"Wohinter?"

"Diese technischen Vorfälle! - Das Ventil - Es ist der Solzbach!"

"Aha." Ich bin immer noch zu müde, um von schneller Auffassungsgabe zu sein. "Woher weißt du das?"

"Vorhin, beim Essen, hat er gemeint, es ist doch egal, ob wir durchkommen! - Und alle in der Zentrale haben es gehört."

"Ist doch auch egal!"

"Was?"

"Ja, sicher! Wer oder was nimmt Schaden, wenn wir hier bleiben?"

"Alle, die an Bord sind!" Natalie ist empört, daß ich so rede.

"Und wer noch?"

"Niemand."

"Siehste."

"Aber das Boot hat doch soviel gekostet!"

"Dieses Boot ist nur zu so einem Unternehmen zu gebrauchen, wie wir es jetzt machen. Die EG wird es verkraften."

"Also - das sagtst du nur so. Um mich zu ärgern!"

"Ich will niemanden ärgern. Nur, von einem objektiven Standpunkt aus betrachtet, ist es so. Wir sind unwichtig."

"Aber der Solzbach hat es so gemeint - der war völlig ernst. Wenn der schon mal was sagt - der redet nicht viel."

"Du weißt doch, wie seine Familie umgekommen ist. Wenn man sowas erlebt hat, dann ist man oft zynisch. Deshalb muß er noch lange nicht etwas getan haben, was die Expedition gefährden könnte."

"Er war so bestimmt in dem, was er gesagt hat."

"Ja. Glaube ich. Und ich muß jetzt ganz bestimmt pinkeln. Dazu muß ich aufstehen. Kannst du mal von meiner Blase heruntersteigen?"

Natalie ist gnartschig, weil ich ihr nicht zustimme. Als ich mich anziehe, sage ich: "Wenn jemand fanatisch so etwas macht, dann erzählt er das doch nicht vor aller Ohren."

"Oder erst recht, um den Verdacht von sich abzulenken!" sagt sie.

"Schon möglich. Aber das heißt ja nur, daß wir genau nichts wissen! - Überhaupt nichts. Es kann so sein, es kann auch anders sein."

Als wir wenig später beide in der Zentrale auftauchen, sind die Schiffsoffiziere und die Schiffsingenieure dabei, zu besprechen, wie man das Boot am besten wieder auf ebenen Kiel bringt. Allerdings wird es noch dauern, bis man das überhaupt versuchen kann - noch ist zuviel Wasser im Boot - Wir sind noch einige hundert Tonnen von der Schwimmfähigkeit entfernt.

Die Diskussion ist laut und hitzig, und vielleicht ist das der Grund, daß sonst kaum jemand in der Zentrale ist. Fahlenbeek sieht uns eintreten:

"Herr Homberg, Sie sind doch auch Physiker!"

"Auf dem Papier. Wieso?"

"Wie würden Sie das Boot freibekommen?"

"So, wie wir es jetzt machen - das Wasser rauspumpen. Ich sehe das Problem nicht!"

Es gibt aber ein Problem, wie mir erklärt wird.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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