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33. Leckrate
Die Panik hält sich zunächst in Grenzen. Erstens wegen der geringen Größe dieser Gewichtszunahme des Bootes. Das könnten die Lenzpumpen noch leicht schaffen.
Um einen Liter pro Sekunde gegen ein Bar Überdruck nach draußen zu bringen, braucht man theoretisch hundert Watt. In der Praxis ist es etwas mehr, wegen des nicht hundertprozentigen Wirkungsgrades von Pumpen und Antrieb. Wir sind im Moment in 4300 Metern Tiefe, hätten also gegen einen Druck von 430 Bar anzupumpen. Für einen Liter pro Sekunde braucht man dann 43 Kilowatt. Bei 50 Gramm pro Sekunde sind es noch zwei bis drei Kilowatt.
Aber natürlich ist das kein Trost, denn ein Wassereinbruch, wenn es denn ein solcher ist, kann sich ja jederzeit verstärken.
Mehr zur Beruhigung trägt bei, daß die CHARMION ja dauernd Wasser mit der Umgebung austauscht, auch wenn sie still liegt und nicht manöveriert. Zum Beispiel wird Wasser an Bord genommen, um die organischen Reste des Bordbetriebes nach draußen zu bringen. Dann die ständige Frischwassererzeugung, von der wiederrum das nicht gebrauchte Frischwasser ständig dazu benutzt wird, Seewasser in den Regelzellen durch Reinstwasser auszutauschen - des Korrisionsschutzes wegen. Wenn der Inhalt der Regelzellen über längere Zeit nicht verändert wird, enthalten diese tatsächlich nur noch reinstes Wasser.
Der Bordrechner führt ständig Bilanz über die ein- und ausgehenden Flüssigkeitsströme - muß er ja, um das Boot manöverieren zu können. Wenn das Boot also tatsächlich an Masse zunimmt, dann ist diese Zunahme die Differenz von aufgenommenem und ausgeschiedenem Wasser. Und diese Differenz muß nicht echt sein. Es kann sich um schlichte Meßfehler handeln, oder auch um Rechenfehler, wenn die zuständigen Programme fehlerhaft sind. - Im Prinzip könnte auch einer der Prozessoren des Rechners defekt sein, das aber würde wesentlich rascher und bei wesentlich mehr Programmen auffallen. Das PRO-UNIX weiß, wie es fehlerhafte Rechnerhardware aus dem laufenden Betrieb entfernt.
Wenn jetzt also der Rechner tatsächlich meint, daß wir in jeder Sekunde um 50 Gramm, die er nicht selber veranlaßt hat, schwerer werden, dann ist es ein Wassereinbruch. Aber das kann noch eine ganze Menge anderer Ursachen haben. Trotzdem - wir müssen so schnell wie möglich rauskriegen, welche. Harmlos ist das keinesfalls.
Der Dienstschluß ist also keiner mehr - für alle. Niemand kritisiert das, denn die meisten haben wohl schon etwas über die Wirkung von Hochdruckwassereinbrüchen geschildert bekommen. Die vom nautischen Personal mit Sicherheit. Ein Wasserstrahl, der bloß 50 Gramm pro Sekunde transportiert, kann, wenn er etwa quer über den Gang in Hüfthöhe einbricht, jemanden, der da vorbeigeht, in zwei Hälften zerschneiden. Einfach so.
50 Gramm pro Sekunde, das sind 3 Liter in der Minute. In drei Minuten ein durchschnittlicher Wassereimer. Eine Menge, die man in einem Wohnraum kaum noch unbemerkt irgendwo hinfließen lassen könnte - auch auf der CHARMION sollte diese Wassermenge, wenn sie irgendwo frei herumfließt, eigentlich auffallen. Selbst, wenn dieses Wasser sich in irgendwelchen Zwischenwänden staut - etwa in der Isolierschicht über der äußeren Druckkörperwand, die viele Leitungen der Klimaanlage enthält - bleibt es nicht unbemerkt. Gerade da nicht, denn da sind genug Sensoren, die nicht nur Wasser, sondern jede Spur von Feuchtigkeit aufspüren können. Längst schon wären die Informationen im Bordrechner eingelaufen, längst schon wäre die feuchte Stelle lokalisiert. Das ist aber nicht geschehen. Also: Ein Leck im Druckkörper ist es nicht.
Trotzdem läßt Wellington das gesamte Boot begehen. Jeder, der nichts anderes zu tun hat, muß daran teilnehmen. Das ist insbesondere auch deshalb angezeigt, weil diese Wasserrate sich vorübergehend leicht erhöht hat - es sind 65 Gramm pro Sekunde geworden, dann fiel der Wert wieder auf 35 bis 40 Gramm pro Sekunde.
Ich bin mit unten im Unterdeck, die Gegend, die man bei anderen Schiffen 'die Bilge' nennt. Hier würde freies Wasser über kurz oder lang zusammenfließen. Aber es gibt nichts dergleichen zu beobachten. Der Boden ist knochentrocken.
21 Uhr vorbei. Seit mehr als einer halben Stunde haben wir jetzt diese Situation. 90 bis 100 Liter. Eine halbe Badewanne. Wo mag die sich verstecken? Ich - und nicht nur ich - gelangen allmählich zu der Auffassung, daß wir von etwas anderem genarrt werden. Wellington läßt die Inhalte von Regelzellen und Trimmtanks, die umlaufenden Schwerwassermengen im Reaktor, die diversen Tanks in der Frischwasseraufbereitung, die Wasserleitungen und die Abwasserleitungen manuell prüfen und ausmessen. Derweil sind die EDV-Spezialisten - also Edwin und Carola - dabei, das Betriebssystem nach Hinweisen zu durchforsten, weil es ja sein könnte, daß der Rechner uns narrt.
So um 21:45 - inzwischen sollte es sich um fast eine ganze Badewanne handeln, um die das Boot schwerer geworden ist - steht fest: Ein Rechenfehler ist es nicht. Die Regelzellen haben um die 150 Kilogramm verloren, um die Gewichtszunahme zu kompensieren. Also muß die Gewichtszunahme des Bootes echt sein - sonst würden wir uns nicht nach wie vor unbeweglich am selben Ort aufhalten können.
Wasser kann es aber eigentlich auch nicht sein - 150 Liter Wasser - gar Seewasser - können nirgends unbemerkt herumschwappen.
Interessanterweise hat die Rate der Gewichtszunahme in der letzten halben Stunde stark abgenommen. Wir sind jetzt etwa bei 20 Gramm in der Sekunde. Und immer noch haben wir keine Erklärung.
Dann - es geht auf 22 Uhr zu - findet jemand sie. Ein lauter Schmerzensschrei aus dem vorderen Unterdeck. Ich bin gerade oben in unserem Arbeitsraum, bei Edwin und Carola, aber der Schrei dringt durch die Öffnungen der Niedergänge zu uns herauf, gefolgt von einem dumpfen Schlag. Augenblicklich bin ich unterwegs. In der Kantine war jemand vom nautischen Personal - die sind noch eher unten. Ich sehe sie nur noch von hinten.
Im Unterdeck kniet Pater Palmer vor einer der Tiefkühltruhen. Er hält mit schmerzverzerrtem Gesicht seine rechte Hand. "Da ist ja Säure drin!" ächzt er.
"Wo?" fragt Peer Elderman, der vor mir bei dem Pater angekommen ist. Dieser deutet auf die Tiefkühltruhe.
"Wo soll die denn herkommen?" frage ich. Mit beiden Händen will ich den Deckel anheben.
"Seien Sie vorsichtig, Herr Homberg!" warnt Elderman mich. Inzwischen tauchen weitere Mitglieder der Besatzung auf.
Die Tiefkühltruhe geht nicht auf, so sehr ich mich auch dagegen stemme. Ich studiere die Bedienelemente. "Ist das nicht eine der Tieftemperaturtruhen?" frage ich. Ich habe plötzlich eine Idee.
"War die etwa offen?" fragt Elderman den Pater. Der nickt.
"Merkwürdig. Die sollte nicht offen sein. - Herr Homberg, da ist die Verriegelung. Und Sie müssen auf das Entlüftungsventil drücken. - Ich glaube, er hat etwas da drinnen angefaßt! - Das soll wohl Verbrennungen geben. - Da kommt schon Doktor Morton."
Während der Pater zur medizinischen Versorgung gebracht wird, gelingt es mir, die Truhe zu öffnen.
Der Umgang mit flüssigem Stickstoff ist mir vertraut. Nur ein Blick auf die leicht bewegliche Oberfläche dieser Flüssigkeit, die ständig mit einer Nebelschicht überdeckt ist, bringt mir alte Erinnerungen aus der Diplomarbeitszeit zurück.
"Also, wenn er da seine Hand reingesteckt hat, dann wundert es mich überhaupt nicht, daß er jetzt jammert." sage ich.
Peer Elderman guckt mir über die Schulter: "Da stimmt was nicht. Die ist ja fast randvoll! Das darf sie doch gar nicht."
Ich erinnere mich an die Lehrgänge in München. Die Tieftemperaturkühltruhen für die ganz langfristige Lagerung von Lebensmittel arbeiten bei -196 Grad. Da verändern Lebensmittel sich kaum noch - höchstens bei den Einfrier- und Auftauvorgängen, und das sollte ja nur einmal der Fall sein.
Wenn man diese Truhen an Land betreibt - wofür es an Land allerdings kaum einen Grund gibt, es sei denn, in entlegenen Forschungsstationen oder so, dann werden die Lebensmittel tatsächlich mit flüssigem Stickstoff überschichtet. Das hat den Vorteil, daß bei Ausfall der Stromversorgung der verdampfende Stickstoff die Lebensmittel noch lange Zeit kühlen kann. Bei großen Truhen wochenlang bis monatelang.
Allerdings muß man diese Truhen mit geschlossenem Deckel betreiben. Wenn man diesen zu häufig aufmacht, dann tendiert der Luftsauerstoff dazu, im flüssigen Stickstoff in Lösung zu gehen. Mit der Zeit würde der Sauerstoffanteil in der superkalten Flüssigkeit immer weiter steigen. Und flüssiger Sauerstoff ist ein sehr gefährlicher Stoff. Schon flüssige Luft fällt nicht ohne Grund unter das Sprengstoffgesetz, und flüssiger Sauerstoff natürlich erst recht.
Deshalb auch das Ventil im Deckel. Es muß Gas rauslassen, wenn der Stickstoff bei Stromausfall anfängt, zu verdampfen, aber es darf keine Luft reinlassen. So wird verhindert, daß sich Flüssigsauerstoff bildet.
Diese Truhen hier werden aber in einem U-Boot betrieben. Und da gelten andere Gesichtspunkte. Da möchte man auf keinen Fall eine Füllung mit flüssigem Stickstoff, gar eine solche bis zum Rand haben. Erstens ist das einiges an Gewicht, und zweitens kann es gefährlich werden, dann nämlich, wenn gerade etwas aus diesen Truhen entnommen wird, und das Boot ein plötzliches, heftiges Manöver macht. Ein paar Dutzend oder gar ein paar hundert Liter von flüssigem Stickstoff, die herausschwappen, könnten in der mechanischen Struktur des U-Bootes - in den Spantenscheiben oder gar in der Druckkörperwand - gewaltige Wärmespannungen erzeugen. Das kann in größeren Tiefen den Druckkörper sprengen.
Also macht man es anders. Diese Truhen werden, weil sie eben hier an Bord eines U-Bootes verwendet werden, nur bis minus 170 Grad betrieben - ohne Einlage von flüssigem Stickstoff. Es sind nur Lebensmittel darinnen und eben sehr kalte Luft. Das ist alles. Das macht auch Sinn: Ob -196 Grad, oder nur -170 Grad, das macht bei der Haltbarmachung der Lebensmittel wenig Unterschied. Und Strom ist, solange das Boot funktioniert, immer da. Auf diese Weise hat man nicht das Problem mit dem flüssigen Stickstoff.
Frage also - wo kommt plötzlich der flüssige Stickstoff her, wenn niemand ihn hineingetan hat? Oder - was heißt flüssiger Stickstoff - jetzt begreife ich:
"Elderman - das ist kein flüssiger Stickstoff! Sehen Sie hier - die Thermostateinstellung. Die ist ja am Anschlag! Das da ist in der letzten Zeit aus der Luft kondensiert! Das ist flüssige Luft!"
"Auweih!" sagt Elderman. Er hängt sich sofort ans Interkom und spricht mit der Zentrale. Dann wendet er sich wieder zu mir:
"Man hätte gleich alles überprüfen sollen! Wenn man die Frischlufterzeugung mitrechnet, dann weiß man, woher die Leckrate kommt! Die hat in der letzten Zeit mehr neue Frischluft erzeugt als alte erneuert. Jetzt haben sie's in der Zentrale rausgekriegt - der Computer ist also in Ordnung. Und das Boot auch."
"In Ordnung?" frage ich, "Wieso? Da sind offenbar 150 Kilogramm neuer Atemluft erzeugt wurden, weil die entsprechende Menge irgendwo verschwunden ist, nämlich hier, und es gibt keinen Alarm? Nicht mal einen Hinweis? Das nennen Sie 'in Ordnung'?"
"Wahrscheinlich" zuckt Elderman mit den Schultern, "geht man davon aus, daß das Boot unter Wasser Luft nur verlieren kann, wenn gleichzeitig Wasser eindringt - und das würde ja Alarm auslösen. An diesen Fall hat einfach niemand gedacht!"
"Jedenfalls," sagte ich, "kann ich meine Kollegen die frohe Nachricht bringen - die möchten vielleicht ins Bett und nicht die ganze Nacht vor dem Terminal verbringen!"
Und für mich selber denke ich: 'Scheißrechner'. Das Boot verliert 150 Kilogramm umlaufende Luft, und der Rechner weiß es, sagt aber nichts. Wenn da noch mehr solche gravierenden Fehler sind, dann brauchen wir gar keine Abenteuer mehr zu bestehen - dann machen wir uns alle Gefahren unterwegs selber!
"Nicht so schnell," sagt Elderman, "Wellington kommt gleich und möchte sich das ansehen. Wir müssen ja wissen, wie es gekommen ist!"
"Versehen. Denke ich." sage ich, "Jemand hat den Thermostat zu weit aufgedreht!"
"Wohl kaum." Die Stimme hinter mir gehört Wellington, der inzwischen angekommen ist. Er tritt an die Truhe heran und wirft einen Blick hinein. "Herr Palmer hat noch einige Dinge erzählt, während unsere Frau Doktor ihn behandelt hat."
Ich sage nichts, weil ich denke, daß Wellington schon damit herausrücken wird, was Palmer erzählt hat. Tut er auch:
"Die Truhe war teilweise geöffnet - einen Spalt weit. Gerade soweit, daß man nicht hineinsehen konnte. Palmer war aber gerade hier unten, um sich etwas zu essen zu holen. Er hat diese Truhe - völlig zu recht - als Lebensmitteltruhe erkannt und sie ganz aufgemacht."
"Wieso war diese Truhe einen Spalt weit auf?" wundert sich Elderman, "Das geht doch gar nicht. Entweder der Deckel liegt hinten an - so wie jetzt - oder er ist ganz zu. Er rastet nicht in einer Zwischenstellung ein. Kann er gar nicht."
"Es lag etwas dazwischen, auf der Kante."
"Was denn?"
"Palmer weiß es nicht mehr genau. Eine der tiefgefrorenen Lebensmittelpackungen. Die hat er wieder reingelegt. Dabei hat er sich ja auch die Hand verbrannt - er kannte ja flüssigen Stickstoff nicht."
"Herr Wellington, ich müßte drauf hinweisen - das ist kein flüssiger Stickstoff," sage ich, "Das da ist flüssige Luft!"
"Ich weiß. Ist mir völlig klar. Kondensiert. Seit fast zwei Stunden. Seit zwei Stunden muß die Truhe offen sein, und seit zwei Stunden hat sie Luft angesaugt, um sie zu verflüssigen. An den Kühlrippen und an den kalten Lebensmittelpaketen. Der Thermostat ist wahrscheinlich viel früher zu weit runtergedreht worden." Er bückt sich und dreht den Sollwert des Thermostaten wieder auf 170 Grad unter Null.
"Meinen Sie, daß das - Absicht ist?"
Wellington zuckt mit den Schultern. Er wendet sich an Elderman: "Wir müssen alle anderen Tieftemperaturtruhen überprüfen. Einfach Thermostat wieder richtig stellen und nicht aufmachen. - Diese hier lassen wir etwas offen, bis die verflüssigte Luft wieder verdampft ist."
"Nicht ungefährlich." sage ich.
"Weiß ich. Aber ich will die Suppe bis morgen weghaben. Und mit dem Tauchsieder reinzugehen würde ich auch nicht anraten."
"Na, das weiß ich nicht!" sage ich, "passen Sie mal auf!"
Ich trete auf die Truhe zu und greife blitzschnell mit der hohlen Hand hinein.
"Homberg, sind Sie wahnsinnig?" Wellington reißt die Augen auf.
Mit blitzschnellen Bewegungen wie beim Händewaschen zerstäube ich die Flüssigkeit in meiner Hand. Zischende Tropfen spritzen in alle Richtungen davon und hinterlassen kleine Kondensstreifen.
"Wenn man ganz schnell ist, passiert einem nichts. Sie wissen das: Eine Schicht aus verdampfender Flüssigluft. Isoliert hervorragend. Früher habe ich das meinen Studenten im Praktikum immer vorgeführt. Wer wollte, durfte es nachmachen. Die meisten waren dabei zu langsam und haben sich dabei die Finger verbrannt!"
"Tatsächlich?"
"Jaja. Keine Angst - ich weiß, was ich tue. Eine Zeitlang war Flüssigstickstoff sogar mein Lieblingsspielzeug - ich habe mir eine Fünf-Liter-Kryokanne im Institut 'entliehen' und habe damit im Studentenheim allerhand Schabernack angestellt."
"So?"
"Ja. Ich erinnere mich zum Beispiel - eines Tages habe ich eine gewöhnliche Thermoskanne für Kaffee damit gefüllt und bin in die Küche gegangen, die allen Studenten des Wohnheimes zur Verfügung stand. Von außen sah man der Thermoskanne ja nichts an. - In der Küche war gerade ein Mädchen mit ihrem Abwasch zugange. Sie beachtete mich zunächst nicht. Ich ließ heißes Wasser in eines der Spülbecken laufen, bis es randvoll war. Dann habe ich mit einem Schwung die ganze Thermoskanne - etwa einen Liter - in das Spülbecken hinein entlehrt. Das gibt sofort eine gewaltige Nebelwolke - man steht bis zur Hüfte drin und kann die eigenen Knie schon nicht mehr sehen. - Das Mädchen hat vielleicht entgeistert geguckt!"
"Ich hoffe, daß Sie nicht solche Spiele hier an Bord vorhaben!"
"Natürlich nicht. - Aber es hat sich damals eben so ergeben, daß ich mit diesem Stoff ziemlich vertraut wurde. Sogar Reinemachen kann man damit!"
"Wie das?"
"Indem man ein paar Liter mit einem Schwung über den Boden ausgießt. Schwemmt den Dreck an der gegenüberliegenden Wand an, verdampft folgenlos und läßt den Dreck zurück. Den kann man dann ganz leicht aufnehmen."
"Da haben Sie aber Glück gehabt, daß Sie nicht die Heizkörper gesprengt haben!" sagt Wellington.
"Habe ich mir später auch überlegt. Aber ein paar Liter in einem normalen Zimmer - das ist nicht sehr viel."
"Mmh." sagt Wellington, "Aber hiermit haben Sie nichts zu tun?"
"Nein."
Elderman taucht wieder auf: "Die anderen Truhen sind okay."
"Tatsächlich. Dann spricht das für ein Versehen. Für eine Schlamperei. Ich dachte, das wäre in meiner Mannschaft nicht möglich."
Elderman schluckt. "Es kann einer aus dem wissenschaftlichen Personal gewesen sein," sage ich schnell, zur Ehrenrettung der Nautischen, "die sind nicht alle mit der Technik gleich gut vertraut. Vielleicht war es sogar der Palmer selber. - Nur glaube ich nicht, daß man das durch direktes Befragen herauskriegen wird."
Wellington nickt. "Jedenfalls wird es von nun an zu den regelmäßigen Aufgaben der Wachhabenden gehören, auch diese Thermostaten nachzuprüfen. Ich würde ruhiger schlafen können, wenn wir diese Truhen an den Rechner anschließen könnten."
Da bin ich zwar überhaupt nicht seiner Meinung, aber ich sage nichts. Nicht-Informatiker haben manchmal einen solch festen Kinderglauben an Computer ...
Für diese Nacht ordnet Wellington noch an, diese Truhe regelmäßig zu inspizieren, bis all die flüssige Luft verdampft ist, und sie dann zu schließen. Außerdem soll jeder Wachhabende in seiner Wache jedes Deck wenigstens einmal begehen, um auf Auffälligkeiten zu achten. Den Zeitpunkt dieses Begehens soll man möglichst zufällig wählen. Dann zieht er sich zurück.
Ich habe den Eindruck, daß er sich durchaus nicht darüber klar ist, ob hier ein Versehen oder eine destruktive Absicht vorlag. Das kann ich verstehen. Ich weiß es auch nicht.
Als ich in Richtung meiner Kabine gehe, überlege ich, welche Absicht dahinter stecken könnte, wenn es eine vorsätzliche Handlung war. Um das Boot als Ganzes in Gefahr zu bringen, hätte es ja noch weiterer Zufälle bedurft, etwa einer heftigen Bewegung des ganzen Bootes. Oder jemand wirft Aktivkohle in die Flüssigluft - das hat auch sehr spektakuläre Resultate.
Aber ich kann irgendwie immer noch nicht glauben, daß jemand an Bord unser Unternehmen so sabotieren will, daß wir alle dabei in Gefahr sind, draufzugehen. Das würde für einen wahnsinnigen Fanatismus sprechen - viel mehr Fanatismus, als etwa dazu nötig ist, die Direktive q78q99q auszuführen.
Schon fast 23 Uhr. In der Kantine wartet Natalie auf mich. "Wo bleibst du denn?" fragt sie.
"Wir haben gerade das Schiff vor dem sicheren Untergang gerettet!" sage ich, "Warst du nicht eben auch unten?"
"Ich fand es langweilig." sagt sie.
"Mmh. Ich nicht. Ich finde den Rachen des Todes nie langweilig."
"Ihr übertreibt. Ich möchte ins Bett!" Sie steht auf und hängt sich mir um den Hals: "Ich möchte mit dir ins Bett! - Vergiß diese Kühltruhe!"
"Okay." sage ich, "Ich vergesse sie. Gleich!"
Als wir zusammen in ihrer Kabine sind und wieder anfangen, das Kunststück zu zelebrieren, uns in dem beengeten Raum gleichzeitig auszuziehen, hat wahrscheinlich einer von uns etwas sagen wollen. Wir kommen nicht dazu. Plötzlich liegen wir uns in den Armen. Es dauert einen Moment, bis ich merke, daß Natalie mich nicht an sich herangezogen hat und bis Natalie merkt, daß ich ihr nicht so einfach um den Hals gefallen bin. Ich bin einfach umgefallen!
"Komisch - ich bin doch nicht betrunken!" sage ich.
"Das Boot liegt schief!" sagt Natalie.
"Das kann nicht sein!" sage ich.
"Doch. Sieh doch!"
Sie hat recht. Mein Gott, sie hat recht! Es sind bloß vier oder fünf Grad Schräglage, aber es sollte eigentlich Null sein. Das Boot liegt nicht mehr auf ebenem Kiel! Und langsam rotiert es weiter. Der SISC zeigt es. Zwei Außenansichten sind dabei, sich langsam zu verschieben - die Felsen auf der Steuerbordansicht driften nach oben, die auf der Backbordansicht nach unten.
Und wir haben unten im Boot eine offene Wanne mit 150 Litern noch nicht verdampfter Flüssigluft!
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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