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34. U-Boot-Tango

Ich bin augenblicklich wieder draußen. Im Laufen ziehe ich mich ganz an. Den Niedergang runter ins Unterdeck. Warum ist denn kein Alarm? Wer hat eigentlich Wache? Ich glaube, die Gabi Gohlmann. Wellington müßte doch auch noch auf sein! Dem müßte das doch auffallen!

Als ich vor der Tieftemperaturtruhe stehe, hat das Boot eine Schlagseite von 7 Grad nach Steuerbord erreicht. Der Flüssigkeitsspiegel ist schief, aber es ist noch keine flüssige Luft über den Rand getreten. Ich mache den Deckel zu und veriegele ihn. Damit ist diese Gefahr erst einmal gebannt. Allerdings weiß ich nicht, was passiert, wenn das Überdruckventil im Deckel in die Flüssigluft eintaucht. Dazu allerdings müßte das Boot sich mindestens ganz auf die Seite legen.

Dann erreiche ich über den zentralen Niedergang die Zentrale. Ich erwarte, mindestens die Gabi zu sehen, weil sie ja noch Wache hat.

Außer Gabi sind aber noch Wellington, Amerlingen und Fahlenbeek da. Sie sehen konzentriert auf ihre Bildschirme. Und sie sehen keineswegs glücklich aus. Gabi und Amerlingen sitzen nebeneinander vor zwei Bildschirmen, Wellington und Fahlenbeek stehen dahinter.

"Haben Sie eine Idee, was da los ist?" fragt Wellington, als ich reinstürze.

"Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Ich hatte eben genug damit zu tun, die Truhe da unten zuzumachen!"

"Glänzende Idee. Wir haben es gesehen." Er deutet mit einem Nicken auf einen anderen Bildschirm, der einen Blick ins vordere Unterdeck zeigt.

"Ich dachte schon, ich hätte eben das Schiff gerettet. Es wäre also jemand runtergekommen, wenn ich es nicht getan hätte?"

"Genau. Die Möglichkeit, das Schiff zu retten, haben Sie aber immer noch - wir wissen nicht, was da los ist!"

Inzwischen ist die Schlagseite wieder auf etwa 4 Grad gesunken. Das ist fast vernachlässigbar. Und die ganze Zeit waren die Bewegungen des Bootes sehr sanft

"Was ist denn eigentlich los?" frage ich.

"Das Boot hat sich selbstständig gemacht! Sehen Sie her!" Amerlingen zeigt auf einen der Bildschirme.

Weil ich selbst keine eigenen Erfahrungen mit der Schiffssteuerung habe - ich darf das ja nicht - sehe ich nicht auf den ersten Blick, was los ist. Amerlingen weiß das und erklärt:

"Dieses ist das Bildschirmlayout für manuelle Steuerungen. Auf dem Fenster hier ist die Außenansicht nach vorne abgebildet. Die feinen grünen Linien umschreiben einen unregelmäßigen Vielflächner, der mit Sicherheit in die Höhle vor uns hineinpaßt. Dieser Vielflächner ist vom Schiffsrechner ausgerechnet worden und wird ständig aktualisiert - innerhalb dieses Vielflächners gibt es mit Sicherheit nur Wasser."

"Dieser Vielflächner stellt also die beste Approximation der Höhlengeometrie dar, die der Rechner erkannt hat?" frage ich.

"Genau so ist es. Aus den Echomessungen, aus den Radarmessungen uns so weiter. - Sie sehen, daß das Boot sich seitlich bewegt und dabei ist, nach vorne Fahrt aufzunehmen. Diese Linie da ist das, was man in Flugzeugen einen 'künstlichen Horizont' nennen würde."

"Kenne ich," sage ich, "jahrelang Flugsimulator gespielt."

Natalie hat jetzt auch die Zentrale betreten und sieht uns zu. Niemand nimmt von ihr Notiz.

"Es ist praktisch genau dasselbe. Ein exakter künstlicher Horizont. Und das feine rote Kreuz hier zeigt die momentane Richtung der Symmetrieachse des Bootes. Auch die Schlagseite kann man erkennen. Im Moment ist das Boot wieder dabei, auf ebenem Kiel zu gelangen. Das Kreuz ist dabei, auf dem künstlichen Horizont aufzusitzen. Sieht man ja deutlich. - Der Punkt mit dem Kringel drumrum ist die Richtung des momentanen Geschwindigkeitsvektors. Sie sehen, daß der gerade auf das Kreuz zuwandert - so, wie es also aussieht, werden wir uns in Kürze in Richtung unserer Symmetrieachse bewegen. - Da unter dem Fenster sind dann einige zahlenmäßige Angaben - momentane Geschwindigkeit und so weiter."

"Sieht einfach aus. Und wie steuert man es?"

"Wenn man es manuell macht, mit diesem Trackball. Man kann auch auf den Trackball in dieser Armlehne schalten - was einem eben mehr liegt."

"Ach so. verstehe. Wie in den alten Airbussen."

"Ja."

"Und Sie haben eben das Boot schief gelegt?"

Amerlingen greift auf einen der Trackbälle: "Passen Sie mal auf!"

Kaum, daß er den Trackball berührt, springt mitten auf dem Bildschirm eine Mitteilungsbox auf:


        SUPERVISOR CONTROLLED MANEUVER

        CONTROLS INACTIVE NEXT 7 MINUTES

        PLEASE WAIT

"Was heißt das?" frage ich.

"Sehen Sie doch. Das Schiff steuert sich selbst!"

"Aber das - Ich denke, dazu sollte es auch in der Lage sein!"

"Wir haben es nicht veranlaßt. Es hat von selber angefangen. Aus der Ruheposition heraus. Ohne jede Vorwarnung!"

Die Box ist wieder verschwunden. Die Geschwindigkeit nimmt ab.

"Macht das Manöver denn Sinn?" frage ich, "Was macht das Boot denn eigentlich?"

"Es hat seinen Standort um nur wenige hundert Meter verändert!"

Ich sehe von einem zum anderen. Wellington räuspert sich:

"Ich sage es eigentlich ungern, aber unsere Informatik-Spezialisten sollten dem sofort nachgehen."

"Der Edwin - ich meine, der Herr Daum - hat doch sowieso Wache. Aber er ist nicht dazu gekommen, sich vorher hinzulegen. Und die Kollegin Rau ist wahrscheinlich auch sehr erschöpft. Die haben beide heute schon eine ganze Menge Extra-Arbeit eingeschoben. Hat das nicht Zeit?"

"Herr Homberg, sehen Sie nicht, was da passiert? Das Boot hat, zeitweilig und von sich aus, das Kommando übernommen und ein selbstständiges Manöver gemacht! Ich als Kapitän des Bootes sollte von solchen Fähigkeiten meines Schiffes etwas wissen! Ich weiß nichts davon! Und ich weiß nicht, was noch passiert! - Sie könnten übrigens auch mitarbeiten."

Ich spüre Natalie's entäuschten Blick im Genick.

"Wenn wir müde sind, dann erreichen wir in acht Stunden entfernt nicht so viel wie in einer wachen Stunde!"

"Das Problem dringt! Verstehen Sie das nicht?"

Ich schüttele den Kopf: "Diese Dialogbox da eben hat gesagt, daß das Manöver in wenigen Minuten zu Ende ist. Dann haben wir doch erst einmal wieder Ruhe, oder?"

"Vielleicht - vielleicht auch nicht. Finden Sie wenigstens heraus, was der Grund sein könnte, daß das Boot seine Position dort aufgegeben hatte. Ich möchte es so."

Kapitän ist Kapitän. Ich drehe mich um: "Ich muß die Kollegin Rau wecken. Vielleicht ist sie noch nicht einmal eingeschlafen."

"Das können Sie auch von hier aus. Und Sie," Wellington sieht Natalie an, "Sie können schlafen gehen."

Natalie bleibt aus Solidarität aber erst einmal da. Als deutlich wird, daß wir nach Ablauf der angekündigten Zeitspanne tatsächlich wieder Verfügungsgewalt über das Boot haben, verziehen Wellington und Ammerlingen sich. Fahlenbeek bleibt da, Edwin taucht pünktlich um Mitternacht auf, um seine Wache anzutreten, Gabi tritt ab, Natalie kauert sich in einem der Sessel zusammen, und als die Carola verschlafen und zerknautscht auftaucht, wird die Stimmung fast frostig. Allerdings richtet ihr Ärger sich nicht gegen mich.

Das Boot liegt wieder bewegungslos, nur ein paar hundert Meter von dem Ort entfernt, wo es vor knapp fünf Stunden positioniert wurde. Fahlenbeek findet rasch heraus, daß kleine Positionsänderungen - einen Meter vor oder zurück - möglich sind, so wie immer. Die Steuerung verhält sich normal. Warum also hat sich das Boot zeitweise selbstständig gemacht?

"Ganze Menge passiert, seit dem Abendessen!" sage ich, "Erst der SISC-Vorfall, und dann der Wassereinbruch, der keiner war."

Edwin schüttelt den Kopf: "Ich sehe auch überhaupt nicht, wie wir da weiterkommen sollen - Diese Sache müßte jetzt Spuren hinterlassen haben. Sonst haben wir überhaupt keine Chance. In diesem Rechner geht so viel vor sich, was niemand weiß!"

"Vielleicht hat das Boot einfach Angst gehabt, an einer bestimmten Stelle!" läßt Natalie sich aus ihrem Sessel vernehmen. Sie gähnt, und Carola guckt schon wieder mißbilligend. Diese unsachlichen Äußerungen - schon gar von Natalie - mag sie nicht.

"Am besten," sage ich, "durchforsten wir einfach mal alle Aufzeichnungen. Was ist da hinten anders gewesen als dort, wo wir jetzt sind? - Die beiden Orte sind ja nicht weit voneinander entfernt. Wenn trotzdem irgend etwas anders ist, dann könnte es daran liegen! - Tja, tut mir leid. Das artet in eine reine Fleißarbeit aus. Aber es ist immer noch einfacher, als das Stück Software aufzuspüren, was sich da selbstständig gemacht hat!"

So machen wir's. Außenaufnahmen vergleichen, Echoaufzeichnungen vergleichen, Radaraufzeichnungen vergleichen, die dreidimensionalen Kartenstücke dieser Gegend ansehen. Und die ganze Zeit die Erwartungshaltung: Fängt das Boot vielleicht wieder damit an?

Wir finden nichts Schlüssiges. Und das Boot liegt ruhig, als ob es nie Ungehorsam gezeigt hätte.

Als es zwei Uhr wird, sage ich: "Es hat keinen Zweck. Wir erreichen mehr, wenn wir morgen wach sind."

"Ich habe jetzt sowieso Wache!" sagt Edwin. Fahlenbeek überlegt.

"Vorschlag zur Güte, Zwei WO!" sage ich, "Wir fahren zurück. Dahin, wo das Boot sich selbstständig gemacht hat. Mal sehen, ob es das wieder tut! - Oder wir gehen gleich ins Bett!"

Fahlenbeek überlegt noch einen Moment. "Gut." sagt er. Mit ein paar Griffen ruft er auf seiner Konsole das Steuerungsprogramm auf. Endlich geschieht wieder etwas!

Ein paar Minuten später sind wir wieder unterwegs. Langsam und sachte, rechnergestützt gedämpfte Manöver - nicht einmal Wellington soll merken, daß sein Schiff sich wieder bewegt. Um 2:25 Uhr haben wir die alte Position wieder eingenommen. Das Schiff wird wieder positioniert.

Wir sehen uns, müde wie wir sind, die Felswände rundherum an. Dieser Höhlenraum unterscheidet sich in nichts von vielen anderen, durch die wir gekommen sind.

"Tja, ich - das war's dann wohl, denke ich." sage ich, "Carola! Ab in die Falle!"

Carola sieht Fahlenbeek an - sie weiß schon, daß ich nicht befugt bin, sie zu entlassen. Der aber nickt.

Natalie ist auf ihrem Sitz eingeschlafen. Das wird gleich etwas schwierig werden, sie soweit zu wecken, daß sie in ihre Kabine gehen kann.

"Ich mache noch eine aufintegrierende Echolotmessung!" sagt Edwin, kaum daß Carola raus ist.

"Wozu soll das gut sein?" frage ich.

"Damit wir sicher sind, daß wir wirklich wieder genau an derselben Stelle sind, wo das Boot heute abend - das heißt, gestern abend - positioniert wurde."

"Da können Sie sicher sein," sagt Fahlenbeek, "schon die Trägheitsnavigation stellt das sicher."

"Naja, trotzdem - ich möchte es mal sehen. Außerdem ist das so interessant, wenn sich das Bild life entwickelt!"

Diesen Zug, den Hang zur rechnererzeugten Grafikästhetik, habe ich an Edwin noch nie beobachtet. Aber er hat natürlich recht: Wenn der Rechner fortlaufende Echolotmessungen zu einem Bild immer größerer Genauigkeit integriert, dann hat die Entstehung der dreidimensionalen Detailzeichnung etwas Faszinierendes an sich. Wie auf einen Zauberspruch hin bilden sich auf dem Bildschirm Schleier, die in die wirklichen Formen der Höhle kondensieren.

Edwin kennt das Programm inzwischen schon gut. Mit ein paar geschickten Handgriffen hat er die Messung in die Wege geleitet. Fahlenbeek und ich stehen hinter seinem Sessel und sehen dem in Entstehung begriffenen Bild zu. Edwin dreht und wendet es, um es von allen Seiten zu betrachten.

Plötzlich fällt mir etwas auf:

"Edwin! Laß es mal in Seitenansicht stehen! - Ja, so. Siehst du es?"

Edwin beugt sich vor: "Da über der Höhle?"

"Ja! - kriegen wir das noch besser?"

"Die Messung läuft ja noch!"

Gebannt starren wir auf den Schirm. Über der unregelmäßigen, durchbrochenen Blase, die das dreidimensionale Abbild dieser Höhle darstellt, schwebt ein Schleier. Ein kupelförmiger Schleier.

Ein fast durchgehender Schleier, einige Meter tief im Fels drin!

"Wenn es das ist was ich glaube, das es das ist, dann machen wir uns am besten so schnell wie möglich wieder fort!" sagt Fahlenbeek langsam.

"Ein Spalt?" fragt Edwin, "Es ist ein sehr schwaches Signal."

"Ja. Es muß ein Spalt sein. Die Schallwellen müssen da durch eine ganze Menge Fels durch!- Aber es sieht so aus, als ob der sich über die ganze Höhlendecke erstreckt! - Eine meterdicke Schicht! Und die kann jede Sekunde runterkommen!"

"Wieso denn? Wieso denn gerade jetzt? Die Höhle ist doch schon Jahrmillionen Jahre alt! Außerdem ist es ja vielleicht gar kein Spalt." wendet Edwin ein.

"Jedenfalls ist es etwas, was eine akustische Diskontinuität bedeutet - und das heißt, es ist in irgendeiner Hinsicht eine mechanische Diskontinuität." meint Fahlenbeek.

"Aber trotzdem. Diese Felsen hängen da schon so lange! Warum sollen sie gerade jetzt ..."

"Ist doch klar!" sage ich, "Seht ihr das nicht! Die Wärmeerzeugung der CHARMION! Wir machen doch ständig ein paar hundert Kilowatt Wärme! Das warme Wasser steigt von den Wärmeaustauschern auf und sammelt sich in der Kuppel. Die hat hier zwar einen größten Durchmesser von über 90 Metern, aber schon in der Breite ist es viel weniger, und in der Tiefe sind es zehn bis zwölf Meter. Das ist eine Wassermenge, die wir schon deutlich genug erwärmen können, wenn wir länger hierbleiben. - Und das könnte Wärmespannungen in der Felsdecke geben!"

"Stimmt!" sagt Fahlenbeek, "Stimmt genau."

Ich fahre fort: "Genug Wärme, um die Höhlendecke anzuheizen - es stimmt, Edwin: Diese Felsen mögen da seit Jahrmillionen hängen, und vielleicht hängen sie noch einmal so lange da. Aber wenn wir sie jetzt so heizen, dann können wir sie damit herausbrechen."

"Und wir sind genau drunter!" Jetzt versteht Edwin.

Ich sehe Fahlenbeek an: "Nichts wie weg!" Er nickt und setzt sich ohne Umstände wieder an die Steuerung.

Nach ein paar Minuten haben wir den Höhlenraum verlassen. Erst dann wage ich, weiter zu reden - als ob vorher unsere Stimmen ausgereicht hätten, die Felsdecke zum Einsturz zu bringen!

"Jetzt wissen wir wenigstens etwas. Nämlich, warum es angeraten ist, sich an dem Platz nicht aufzuhalten - jedenfalls nicht mit einem U-Boot, das soviel Abwärme erzeugt wie wir."

"Denn hat das - also das, was unser Boot übernommen hat - uns ja das Leben geretten! Vielleicht wenigstens."

"Ja. Hat es. - Aber was war es?"

Bevor wir uns wirklich zum Schlafen zurückziehen können, macht Edwin hier noch einmal ganz genau die gleiche Messung. Tatsächlich: an unserer neuen Position droht uns keine Felsdecke zu erschlagen.

Fahlenbeek hat so Gelegenheit, vor dem Schlafengehen noch einen interessanten Eintrag mit dem LOGEDITOR zu machen.

Und wir haben Gelegenheit, uns zu überlegen, welche Instanz da eine schützende Hand über die CHARMION und jede lebende Seele an Bord gehalten hat.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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