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31. Werftgarantie

Am anderen Tag erfahre ich beim Frühstück, daß es noch einen anderen Grund gegeben hat, aus dem Carola sich gestern so früh zurückgezogen hatte. Sie hat heute nacht die Hundswache gehabt. "Ich bin morgen dran!" erwähnt Edwin mit vollen Backen.

"Bin neugierig, wann man uns wieder läßt!" sage ich zu Natalie. Sie kommentiert das nicht: unausgeschlafen. Wir sind gestern zu früh ins Bett gegangen.

Plötzlich, aus heiterem Himmel, muß ich wieder an Irene denken. Was würde sie denken, wenn sie sähe, daß ich jetzt schon wieder etwas mit einer anderen Frau habe? Ich verdränge den Gedanken schnell wieder. Außerdem hat Irene mal irgendwann gemeint, ich soll nicht allein bleiben, wenn ihr irgend etwas passieren sollte. - Von einem Zeitplan war in dem Zusammenhang aber nicht die Rede.

Allein wachgeblieben war Carola auf ihrer Hundswache wohl nicht: ich erfahre, daß Kufferath und Aldingborg die Stellung in der Kantine gestern abend lange gehalten haben, da nach dem plötzlichen Stimmungstief der Sekt nicht mehr alle wurde. Genau dafür haben sie dann in hartem, selbstlosen Einsatz gesorgt. Deshalb sind sie auch noch nicht dienstfähig.

Pünktlich um 8 Uhr an diesem Samstag morgen sind wir wieder an unserem Arbeitsplatz. Carola schläft noch, oder sagen wir, schon - sie muß sich jetzt gerade hingelegt haben. Vielleicht auch schon seit einer Stunde - ich weiß inzwischen, daß es üblich ist, daß die ersten, die morgens zum Dienst in der Zentrale auftauchen, den Wachhabenden wegschicken und auf diese Weise ihm oder ihr eine Stunde schenken. Bei mir und Natalie war es ja auch so - wenn auch aus ganz anderen Gründen.

Dafür ist Dr. Reinhardt bei uns. Allerdings weiß ich nicht, was es für einen Paläontologen im Moment zu tun gibt.

So um 8:30 Uhr bewegt sich die CHARMION auf einen breiten Spalt in der östliche Wand der Höhle zu. Das scheint der erfolgversprechenste weitere Weg zu sein, da es direkt nach unten ja nun nicht mehr weiter geht. Dieser Spalt ist um 45 bis 65 Grad geneigt, hat einen Durchmesser von 8 bis 12 Metern und eine Höhe von 30 bis manchmal 70 Metern. Und langsam führt er in größere Tiefen.

Wer immer heute am Ruder steht, er fährt etwas rasanter. Das mag aber auch daran liegen, daß die CHARMION in diesem Spalt sich nicht mehr quer zu ihrer eigenen Symmetrieachse bewegen muß. Unsere Geschwindigkeit ist bis zu 3 Knoten, oder 5 Stundenkilometer. Als wir in den Spalt einfahren, haben wir eine Tiefe von 2400 Metern. Um zehn Uhr haben wir vielleicht 8 Kilometer zurückgelegt. Da sind es 3100 Meter. Ein paarmal hat sich der Spalt zu größeren Höhlen geweitet, und ein paarmal hat es Abzweigungen gegeben. In der Zentrale hat man sich dann immer zu dem Weg entschlossen, der die geringste Änderung der Richtung erforderte. Das Kartographie-System wird dafür sorgen, daß keine der Abzweigungen vergessen werden wird, auch wenn diese Abzweigungen in der dreidimensionalen Darstellung noch wie ausgefranste Stummel aussehen - Echolot und Radar haben diese Abzweigungen im Vorbeifahren ja nur einige wenige hundert Meter weit erforschen können.

Im Laufe dieser Fahrt liegt das Boot oft nicht auf ebenem Kiel - wenn es in Richtung seiner eigenen Symmetrieachse zum Beispiel einen um 30 Grad nach unten geneigten Kurs verfolgt, dann ist es eben in dieser Zeit um diesen Winkel geneigt. Der Boden unseres Arbeitsraumes ist dann in Richtung Kantine sehr abschüssig, und man hat Schwierigkeiten, sich zu bewegen, wenn man aufsteht. Entweder, man dreht dann den Sitz gegen oder in Fahrtrichtung und schwenkt die Bildschirmgeräte entsprechend in die geeignete Lage, oder man schnallt sich sogar an.

Jedenfalls wird jetzt deutlich, warum man in diesem Schiff auch das erste Mal konsequent die Idee des 'papierlosen Büros' realisiert hat. Papiere und Unterlagen, die auf irgendwelchen Tischen lägen, würden sich selbst bei diesen normalen Manövern selbstständig machen. Ein großer Fortschritt, wenn man es mit den Büros meines alten Arbeitgebers vergleicht: Entweder, man hat die Fenster nicht geöffnet und sich so dem von der 'Klimaanlage' angebotenem Gemisch aus Frischluft und stark schwebstoffhaltiger verbrauchter Luft ausgesetzt, oder man hat versucht, bei offenem Fenster zu arbeiten - dann haben selbst leichte, unerwartete Windböen die Schreibtische abräumen können.

Wir haben wirklich Glück. Mehrere sehr unregelmäßige Höhlen führen uns rasch in immer größere Tiefe. Um 11:45 Uhr unterschreiten wir die 4000 Meter.

"Werftgarantie!" rufe ich laut, damit es auch jeder mitkriegt, "Eigentlich könnten wir jetzt bald essen, bevor die Balken anfangen, zu knacken!"

Vor dem Essen sehe ich mir noch einmal die Streßanalyse auf dem Bildschirm an. Man kann nicht so recht an den Wasserdruck von 400 Bar draußen glauben, da das Boot diese Belastung nicht im mindesten erkennen läßt. In den alten Weltkriegs-U-Booten fing es schon in bescheidenen Tiefen an, zu ächzen und zu knacken, weil der Bootskörper unter dem Wasserdruck schrumpfte und verschiedene Einbauten diese Formveränderung nicht mitmachten - und wenn es sich um einfache Holzvertäfelung einer Wand handelte. Bei geringfügig größeren Tiefen flog dann auch schon einmal mit scharfem Knall eine Niete aus der Wand des Druckkörpers.

Nicht so die CHARMION. Der hochfeste, vorgespannte Titanstahldruckkörper wird zwar auch zusammengepreßt. Aber sämtliche Einbauten, die diese Geometrieänderungen notgedrungen mitmachen müssen - die Spantenscheiben, durchgehende Decksböden, die meisten Wände, an der Wand des Druckkörpers entlang verlegte Leitungen - sind so in die Verteilung der Kraftfelder integriert, daß da ein Geräusch jedenfalls nicht entstehen kann. Das ganze Boot wird eben unmerkbar kleiner - das ist alles. Aber die Streßanalyse auf dem Bildschirm zeigt deutlich, daß der Druck draußen real ist - auf jeden Quadratmeter ist es jetzt das dreifache Gewicht des ganzen Schiffes.

Wichtiger aber: Die Geometrie des Druckkörpers ist genauso, wie sie sein sollte. Es gibt keinen Anlaß zur Sorge.

Das Mittagessen bringen wir schnell hinter uns. Dabei erfahre ich, daß sich auch mancher anderer so ab und zu die Streßanalyse ansieht, und Natalie befragt mich jetzt auch, wie man das macht, kaum, daß wir wieder vor unseren Bildschirmen sitzen. Bei der Gelegenheit bringe ich es der Gabi Gohlmann auch bei.

Dabei habe ich Gelegenheit, die beiden Frauen in einem Punkt zu vergleichen. Natalie läuft seit unserer spektakulären Nachtvorstellung vorschriftsmäßig in der Bordkluft herum. Gabi nur manchmal, weil sie ihre Kleidung so häufig ändert. Im Moment trägt sie ihr blaues Jersey-Kleid, und in ihrer Nähe spüre ich einen ganz schwachen Parfüm-Duft, gerade so schwach, daß man sich auch geirrt haben könnte und daß niemand auf die Idee kommt, auf die Filter in unserer Klimaanlage hinzuweisen. - Wie immer man auf so etwas hinweisen sollte, einer der Bordingenieure hat es ganz dezent einmal so ausgedrückt: Es sei an Bord er CHARMION erlaubt, zu stinken, aber nicht, zu duften.

Die oberen paar Knöpfe ihres Kleides hat sie geöffnet - wohl ohne jede Absicht - und als ich, hinter ihrem Sitz stehend ihr das Streßanalyseprogramm erkläre, kann ich unschwer feststellen, daß sie keinen BH trägt. Außerdem kann ich so ihre grauen Haare zählen - wenn ich es wollte und die Zeit dazu hätte: Sie hat schon eine ganze Menge davon.

Als sie einmal überraschend zu mir hochblickt, sieht sie, wohin ich blicke. Sie läßt sich aber nichts anmerken und ich sehe wohlerzogen wieder auf den Bildschirm.

All das alles erzeugt eine Atmosphäre von Normalität, die den Wasserdruck und die dunklen, verwinkelten Höhlen da draußen weiter aus dem Bewußtsein herausdrängen - aus meinem und wahrscheinlich auch aus ihrem. Ist es eine Art Kopf-in-den-Sand - Politik? Wer keine Uniform trägt, der ist auch kein Soldat. Dem kann nichts passieren. Unlogisch, natürlich, aber hinten in unserem Bewußtsein geschieht viel, was unlogisch ist. Jedenfalls trägt sie Zivil, und das beruhigt irgendwie.

An diesem Nachmittag haben wir Gelegenheit, sehr viele Sackgassen zu kartographieren. Außer der Geometrie der Höhlen gibt es kaum besondere Beobachtungen - außer einer: Amurdarjew glaubt, zu erkennen, daß das Wasser in diesen Höhlen häufiger durch kurze, heftige Strömungen bewegt worden sein muß. Immer dann, wenn lose Felsbrocken auf dem Boden der Höhlen liegen, findet er rundherum Schleifspuren, die mir jedenfalls vollständig entgangen wären. Auch aus der Häufigkeitsverteilung loser Felsbrocken entnimmt er derartige Hinweise. Aber, sagt er, diese Beobachtung ist noch sehr unsicher. Auf jeden Fall wird jedes aufgenommene Bild in der Computern der CHARMION gespeichert, jedes Pixel - die CHARMION vergißt nichts, was sie jemals gesehen hat. Spätere Vergleiche und Analysen sind immer noch möglich.

Als Wellington um 16:30 das Boot in einer Seitenhöhle zum Stillstand bringen läßt, sind wir insgesamt nicht sehr viel weiter gekommen. Die Wassertiefe ist jetzt 4300 Meter. Gabi ist kurz vorher in Richtung Zentrale verschwunden, weil sie die Wache von 16 bis 24 Uhr hat - wird sie außer persönlicher Anwesenheit wohl nicht viel zu tun haben - und Carola ist mit verschlafenem Gesicht wieder aufgetaucht. Sie trägt erfreulicherweise auch Zivil - Rock und Puli - und ich denke mir, daß Natalie jetzt wohl bald kleidungsmäßig wieder nachziehen wird.

Es wird eigentlich immer deutlicher: Während am Anfang der Reise die Nautischen mehrheitlich die Borduniform trugen und die Wissenschaftlichen Zivil, und es nur ein paar Ausreißer in beiden Gruppen gab, so trägt inzwischen bei den Wissenschaftlichen gar niemand mehr die Borduniform. Symptom verfestigter Cliquenbildung? - Nur Dr. Morton hängt gewissermaßen zwischen den Stühlen: Sie hat einen gewöhnlichen, weißen Arztkittel und eine der unseren schnittgleichen Borduniform in Weiß. Sie wird etwa in beiden gleich häufig gesehen. Wenn sie ganz in Zivil ist, trägt sie meistens Hemd und verschlissene Jeans, so daß man, wenn man ihren Beruf dann raten sollte, vielleicht auf eine Bauarbeiterin tippen würde und nicht auf eine Ärztin.

Beim Abendessen setzt sich Alfred Seltsam zu Natalie und mir. Er gibt sich betont aufgeräumt.

"Bin gespannt auf die Welthöhle. Wirklich!" Wenn er von uns nun anspricht ist nicht gleich zu erkennen.

Dr. Reinhardt, der nicht viel weiter sitzt, zieht die Nasenflügel mißbilligend hoch, sagt aber nichts. Aber ich sage etwas:

"Das ist noch sehr zweifelhaft, ob wir dahingelangen werden!"

"Wieso?" fragt Seltsam. Er studiert Natalie mit begehrlichen Blicken - die Rolle des Machos liegt ihm aber nicht: es sieht aufgesetzt und gekünstelt aus. Natalie ist auch völlig unbeeindruckt. Ich auch.

"Oh, ich habe es schon oft erklärt. Wahrscheinlich muß ich das immer wieder tun - sogar meine Frau hat mich einmal erstaunt gefragt, ob denn der Wasserdruck tatsächlich mit zunehmender Tiefe immer größer wird. Das war irgendwann in den Achtziger Jahren, und wir sahen die Fernsehversion von Buchheim's Boot. Ich war ganz baff, weil ich das für selbstverständlich hielt - man vergißt manchmal, daß nicht alle Menschen Physiker sind."

"Sie meinen, der Wasserdruck ist ein Problem? Dieses Boot wird doch jeden Wasserdruck aushalten - heißt es. Also noch mehr als jetzt."

"Dieses Boot - wahrscheinlich. Die Welthöhle, beziehungsweise ein Zugang zu ihr - nicht."

"Versteh ich nicht!"

Natalie reagiert überhaupt nicht auf seine wandernden Blicke. Der einzige Eindruck, den ich ganz zu Anfang von ihr hatte, und der immer noch stimmt: Wenn sie Männer ignorieren will, dann tut sie es.

"Die Oberfläche des Ozeans der Welthöhle" erkläre ich zum wiederholten Male, "liegt über 10 Kilometer tiefer als der Meeresspiegel. Das heißt, wenn es irgendwo eine Unterwasser-Verbindung zwischen den Weltmeeren und dem Ozean in der Welthöhle gäbe, dann würde an beiden Seiten dieser Verbindung ein Druckunterschied von mehr als 1000 Bar bestehen!"

"Naja," sagt Seltsam, "das wird dann wohl in einer gewissen Strömung resultieren!"

"Eine 'gewisse Strömung'! - Als ich Natalie etwas über diese Strömung erzählt habe, ist ihr schlecht geworden!"

Ich wiederhole die plastischen Schilderungen noch einmal, bis bei Natalie Anzeichen sichtbar sind, daß ihr der Appetit vergeht.

"Ja gut. Aber dann gibt es doch noch andere Möglichkeiten. Könnte nicht ein ganz langer Tunnel einen so hohen Strömungswiderstand haben, daß die Strömung nur ganz bescheiden ist?"

"Gute Idee! Im Prinzip - ja. In der Praxis - nein. Der Tunnel müßte immens lang sein - wahrscheinlich Hunderttausende von Kilometern. Wie sollte der entstanden sein? Und er müßte verschlungen sein, damit man einen Tunnel dieser Länge irgendwo unterbringen kann. Ein Tunnel von solcher Länge wäre für dieses Boot aber auch ein unüberwindliches Hindernis, wenn wir mehr Zeit brauchen, ihn zu befahren, als unser Leben währt. - Nein, ein permanent offenen Tunnel gibt es nicht. Da verwette ich ein Jahresgehalt."

"Meins oder Ihrs?"

"Beide zusammen!"

"Mmh." sagt Seltsam. Und: "Ist der wirklich so lang? Woher wollen Sie das wissen?"

"Herr Seltsam, Sie mögen der beste Evolutionär auf der ganzen Welt sein - oder auch der einzige - aber für die Physik bin ich noch zuständig. besonders bei so einfachen Dingen."

"Einfach?"

"Manche Dinge kann man ganz einfach ausrechnen. Wasser hat eine gewisse Zähigkeit. Nach dieser richtet es sich, wieviel Wasser durch ein Rohr fließen kann, wenn man den Rohrdurchmesser und das Druckgefälle längs des Rohres kennt. Die Wassermenge, die bei einem bestimmten Druckgefälle durch ein Rohr fließt, ist der vierten Potenz des Rohrdurchmessers proportional!"

"Und?" fragt Seltsam.

Reinhardt dreht sich ganz zu uns um: "Das ist das Hagen-Poiseuillesche Gesetz!" sagt er.

"Hervorragend, Herr Kollege! Die Bezeichnung weiß ich schon seit 30 Jahren nicht mehr. Mir reicht es aus, wenn ich inhaltlich weiß, worum es geht!"

Das war vielleicht etwas hart, aber ich stelle sofort fest, daß Reinhardt die Kritik gar nicht als solche aufgefaßt hat. Jedenfalls hat er seinen Spruch zum Besten gegeben, und ich kann weitermachen:

"Gut. Ich rechne es ihnen aus, ja? Ich kenne im Moment den zahlenmäßigen Wert der Zähigkeit von Wasser nicht, aber das macht nichts. Wir gehen einfach mal von einer Hauswasserleitung aus, ja?"

"Und was soll das bringen?"

"Warten Sie's ab. Ich zeige Ihnen, wie man mit minimalem Aufwand etwas ausrechnen kann."

"Bitte." sagt er. Viel lieber würde er sich mit Natalie unterhalten. Grund genug für mich, etwas ausführlicher zu werden:

"Der Wasserdruck in Hauswasserleitungen liegt so bei einigen Bar, oder Atmosphären, wie man früher gesagt hat. Wenn man einen Wasserhahn ganz aufdreht und den Strahl umlenkt, dann spritzt es durchs ganze Zimmer. Das heißt, das Wasser erreicht um die 10 Meter pro Sekunde. Mindestens. Wasserleitungen im Haushalt haben Durchmesser von einem oder 2 Zentimeter - meistens sind es irgendwelche Zollmaße - und die Länge dieser Leitungen ist so um die zehn Meter - das hängt von der Größe des Hauses ab. Darüber hinaus sind die Versorgungsleitungen der Stadt, die wir nicht mehr in die Rechnung mit einbeziehen müssen, weil die einen so großen Durchmesser haben, daß es dort kaum noch einen Unterschied macht, ob jemand seinen Wasserhahn ganz aufdreht oder nicht. Dort herrscht also immer der gleiche Druck."

"Gut. Weiter."

"Das sind also unsere Ausgangsdaten: Ein Rohr von einem Zentimeter Durchmesser, zehn Meter lang, Druckunterschied an den Enden ein Bar, und das Wasser fließt mit 10 Meter pro Sekunde. Ist das glaubhaft? Oder anschaulich?"

"Ich glaube, ja."

"Ich denke auch so - sehr falsch kann es nicht sein. - Also: Zehn Meter pro Sekunde bei dem Durchmesser, das sind ein Liter pro Sekunde. Etwa. Das Hagen-Poiseuillesche Gesetz setzt ja in seiner üblichen Formulierung den Volumendurchsatz in Beziehung zu den Rohrabmessungen und der Zähigkeit, nicht wahr, Herr Doktor Reinhardt?"

Reinhardt nickt. Würde ich an seiner Stelle auch tun. Ob er etwas von dem paraboloidförmigen Geschwindigkeitsprofil einer Strömung in einem Rohr weiß? Und ob er weiß, daß meine ganzen Erläuterungen Makulatur sind, wenn die Strömungen turbulent werden, weil das Hagen-Poiseuillesche Gesetz nur für laminare Strömungen abgeleitet wurde? - So kompliziert will ich es jetzt aber nicht machen.

"Also," fahre ich fort, "Der Volumendurchsatz bleibt gleich, wenn die Länge des Rohres zugleich mit der vierten Potenz des Durchmessers wächst. Okay? - Die CHARMION braucht mindestens einen Tunneldurchmesser von 10 Metern, sonst bleibt sie stecken oder schrammt häufiger an der Wand entlang. 10 Meter, das ist 1000-mal soviel wie ein Zentimeter. Dann müßte die Länge des Rohrer um 1000 mal 1000 mal 1000 mal 1000 wachsen, damit bei demselben Druckunterschied dieselbe Menge Wasser hindurchfließt. 10 Meter Länge viermal mit der 1000 malgenommen ergibt - na? - 10 hoch 13 Meter. 10 Milliarden Kilometer."

"Tatsächlich?" staunt Seltsam.

"Sie können es nachrechnen! - Aber ich bin noch nicht fertig. Erstens haben wir es nicht mit einem Druckunterschied von einem, sondern von 1000 Bar zu tun. Das heißt, daß man 1000 dieser Tunnel hintereinanderbauen muß, um wieder ganz genau dieselben Verhältnisse zu haben. Damit sind wir bei 10 Billionen Kilometern. Das ist übrigens etwa ein Lichtjahr."

Allmählich habe ich das Gefühl, daß Seltsam mir nicht glaubt.

"Nun wird unsere Versuchsanordnung gleich wieder kürzer, weil wir immer noch einen Wasserdurchsatz von einem Liter pro Sekunde haben. Das ist für einen Tunnel dieser Größenordnung aber sehr wenig - das Wasser steht ja fast still. Ich würde sagen, daß, weil die CHARMION bis zu 36 Kilometer pro Sekunde schnell sein kann, wir etwa die Hälfte dieser Geschwindigkeit als durchschnittliche Driftgeschwindigkeit in diesem Tunnel zulassen könnten - dann kann unser Boot immer noch in beiden Richtungen fahren. - Es ist vielleicht ein bißchen komplizierter, weil die Anwesenheit der CHARMION im Tunnel die Verteilung der Stromlinien stört, aber wir rechnen ja nur in Größenordnungen. - Die Hälfte unserer Maximalgeschwindigkeit, das sind 5 Meter pro Sekunde, bei 10 Meter Tunneldurchmesser entspricht das also etwa 350 Kubikmeter pro Sekunde. - So. Das sind jetzt ein um den Faktor 350000 größerer Volumendurchsatz als bloß ein Liter pro Sekunde. Um diesen Faktor müßen wir die Länge also wieder kürzen. 10 Billionen Kilometer durch 350000, das sind so ungefähr 30 Millionen Kilometer. - Tja. Ganz schön lang. So lang müßte der Tunnel also sein, um einen für die CHARMION befahrbaren Weg zwischen den Meeren der Erdoberfläche und den Meeren der Welthöhle zu eröffnen."

"30 Millionen Kilometer." Seltsam überlegt selber: "Mit unserer Maximalgeschwindigkeit ..."

"Rechnen Sie mit 30 Kilometer pro Stunde, dann geht's einfach!" schlage ich vor.

"Eine Million Stunden!"

"Ja."

"Das müßten etwa 100 Jahre sein."

"110 Jahre. Aber es war alles eine sehr grobe Schätzung. Wir können um den Faktor zehn daneben liegen. Mehrfach sogar. Aber ich denke, die Schätzung war konservativ."

"Also kommen wir nicht in die Welthöhle!" fragt Natalie jetzt dazwischen.

Sie ist mit dem Essen fertig, und ihre Frage ist an mich gerichtet. Deshalb beantwortet Seltsam sie: "So, wie Herr Homberg das darstellt, nein. - Aber ich glaube nicht, daß die EG soviel Geld springen läßt, nur um uns durch diese Höhlen zu kutschieren!"

"Herr Seltsam," unterbreche ich, "nach Ihren eigenen Aussagen bezeichnen Sie sich als Evolutionär, und sie haben uns schon in München erzählt, daß Sie Industrieerfahrung haben, oder?"

"Ja und?"

"Entscheiden Industrieunternehmen immer so rational? Geben sie das Geld immer sinnvoll aus? Besonders große Industrieunternehmen? - Sie selbst wären arbeitslos, wenn Industrieunternehmen so wären - wer bräuchte dann noch Evolutionäre?"

"Aber wenn wir nicht in die Welthöhle kommen, was machen wir dann?" fragt Natalie weiter, "der Rückweg ist doch zu?"

Reinhardt mischt wieder mit: "Da sind sie nicht auf dem neuesten Stand, Fräulein Yay. Als Sie den Höhleneingang zerschossen hatten, hat Wellington tags drauf ..."

"Frau Yay." sage ich.

"Was?"

"Es heißt: 'Frau Yay'. 'Fräulein' ist eine Diskriminierung. Da wir alle im Sold der EG stehen, haben wir im Dienst solche diskriminierenden Äußerungen zu unterlassen. Keine 'Fräulein', keine 'Neger', keine was weiß ich."

Natalie winkt ab: "Was hat Wellington tags drauf gemacht?"

Gut, denke ich. Wenn es nicht gewünscht wird, dann werde ich den Schwachen und Unterdrückten eben nicht zu Hilfe kommen.

"Während sie beide schliefen, wurde der Felssturz noch einmal sehr genau inspiziert. Es besteht die Möglichkeit, durch weitere Schüsse den Eingang wieder frei zu bekommen."

"Ist ja fabelhaft!" sage ich.

"Es besteht auch die Möglichkeit, daß dabei diese ganze Höhle am Eingang zusammenbricht. Ich weiß nicht, was daran fabelhaft sein soll."

Diesmal hat Reinhardt einen tadelnden Ton angeschlagen.

"Also Fazit: Beides ist unsicher, Welthöhle und zurück nach Hause, richtig?" faßt Seltsam rasch zusammen.

"Ja," ergänze ich, "wenn beides nicht möglich ist, dann werden wir zu einigen sehr interessanten Fossilien umgewandelt werden. - Sicher sehr interessant, wenn man sein Leben mit Fossilien verbracht hat, gewissermaßen die Krönung einer beruflichen Karriere in Paläontologie!"

Diesmal guckt Reinhardt richtig böse. Und Seltsam sieht Natalie an. Letzteres wäre ja nicht so schlimm - aber Natalie sieht zu lange zurück. Vielleicht weiß sie aber auch nicht, wo sie sonst hinsehen soll, wo wir uns so gegenübersitzen.

Unsere Diskussion ist teilweise auch an den anderen Tischen verfolgt worden. Es kommen noch weitere Einwände, einige davon basieren allerdings auf schlichtem Nichtverständnis der physikalischen Tatsachen. Joseph Priest hat noch eine interessante Idee - er stellt sich eine U-förmige Unterwasserverbindung zu den Meeren der Welthöhle vor. Wenn die Dichte des Wassers in dem Welthöhlenschenkel größer wäre als in dem anderen Schenkel, dann könnten auf diese Weise tatsächlich zwei Meere mit unterschiedlichem Niveau verbunden werden. Leider zeigt schon eine kurze Abschätzung, daß dieses zahlenmäßig nicht möglich ist, weil dieser Kanal dann bis zu sehr großen Tiefen hinunterführen müßte - 500 Kilometer bei zwei Prozent Dichteunterschied zwischen den beiden Schenkeln - außerdem wäre in unserem Schenkel das schwerere Seewasser, im Welthöhlenschenkel das leichtere Süßwasser. Es müßte aber gerade umgekehrt sein. So geht es also auch nicht.

Während die Diskussion über die Tische hinweg weiterläuft, lehne ich mich zurück und versuche, an etwas Erfreuliches zu denken. An das Erreichen der Welthöhle habe ich ja noch nie geglaubt, und bloß, weil wir - relativ überraschend - dieses unterseeische Höhlensystem unter dem Minch gefunden haben, wird das Erreichen der Welthöhle dadurch nicht wahrscheinlicher. Gegen die Existenz von unterseeischen Höhlen spricht nichts - gegen eine Verbindung zu der Welthöhle lehnt sich die ganze Physik auf.

Mein Blick fällt auf den SISC in der Küchenwand. Ich fühle mich an den 'Televisor' aus '1984' erinnert. Den SISC gibt es hier mindestens ebenso häufig wie den Televisor in Orwell's Roman. Aber unser Situation Screen ist eine wirkliche Einbahnstraße für Informationen: Er zeigt welche an, aber er kann nicht gucken.

Trotzdem stört mich jetzt irgend etwas am SISC. Vielleicht auch nicht am SISC, sondern mein Unterbewußtsein hat irgendetwas wahrgenommen, das noch nicht zu meinem Hauptbewußtsein gedrungen ist. Ist es die permanente Kenntnis des Wasserdruckes da draußen, der jetzt schon ein wenig höher ist als das, was uns die Werft als ungefährlich zusichern will? Ist es die Unklarheit über unseren Rückweg? Ist es die Tatsache, daß Natalie als die faktische Schönheitskönigin in der Besatzung dauernd den Nachstellungen anderer ausgesetzt ist? Ist es die Erinnerung an Irene, die ich nicht von diesem Rundflug abgehalten habe? Oder ist es die Erkenntnis, daß meine Trauer sich in Grenzen hält, gerade so, als ob dieses ein unvermeidlicher Schicksalsschlag gewesen wäre, oder als ob Irene zu mir in keinem besonderen Verhältnis gestanden hätte? Ist es das schlechte Gewissen wegen Natalie? Ist es alles zusammen? Und ich projeziere dieses allgemeine Unzufriedensein auf den SISC, der doch nun wirklich nichts dafür kann. Gerade der SISC ist doch die Einrichtung, die uns, im Gegensatz zur Besatzung der alten Kriegs-U-Boote, ständig auf dem Laufenden hält ...

Auf dem Laufenden? Ruckartig richte ich mich auf. Das Bild der Außenaufnahmen in den beiden, im Moment aufgeklappten Fenstern ist statisch und verändert sich nicht. Das wäre ja noch okay, weil die CHARMION sich selbst nicht bewegt, und wenn sie sich nicht bewegt, dann bewegt sich in diesen Höhlen gar nichts. Aber die Zeitanzeige! Die bewegt sich auch nicht!

"Was ist denn mit dem Situation Screen los?" frage ich mit etwas lauterer Stimme. Alle Blicke wenden sich den SISCs zu. Einen Moment lang wird es still in der Kantine.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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