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30. Bordfest
Es dauert nicht lange, bis das Boot wieder frei schwimmt, bis die Beleuchtung überall wieder hell ist, und bis sämtliche Bordsysteme überprüft worden sind. Wir sind aus der Sache völlig ohne jeden Schaden herausgekommen.
Bis auf die kleinen Tatsache, daß wir nicht wissen, wie es passieren konnte, daß ein 'shutdown'-Prozeß von selbst gestartet wurde. Solange wir das nicht wissen, kann es jederzeit noch einmal passieren.
Was wäre gewesen, wenn es des Nachts passiert wäre, und der Wachhabende zufällig mehrere Minuten lang keinen Bildschirm angesehen hätte? Es graut mir, wenn ich daran denke. Wie verletzlich wir doch sind.
Jetzt bin ich fast geneigt, zu denken, daß für uns das ORANGE-BOOK, dieser offizielle Maßnahmenkatalog für die Sicherheit von Computersystemen, doch eine feine Sache wäre. Die Rechnersysteme auf der CHARMION sind unter dem Gesichtspunkt der Kooperation konstruiert und nicht dem der maximalen Abschottung. Aber wenn natürlich ein Saboteur in der Besatzung ist, oder ein unverbesserliches Spielkalb ... ich kann es irgendwie nicht glauben. Wir hätten alle draufgehen können, wenn Natalie eben nicht den rettenden Einfall gehabt hätte. - Naja, wenigstens bestand die Möglichkeit. Man hätte die Systeme sukzessive wieder rauffahren können, erst die Rechner, dann den Reaktor, dann den Rest. Aber was, wenn während dieser Arbeiten schon wieder ein shutdown-Prozeß losgerannt wäre?
Carola und Edwin sind jetzt am intensivsten dabei, herauszufinden, was eigentlich passiert ist. Bei den anderen ist Feierstimmung: Natalie ist die Heldin des Tages. Unsere Sondervorstellung in der Zentrale ist, scheint es, vergessen. Oder, wenn sie irgendwie indirekt erwähnt wird, dann bewundernd. Natalie, die Sex-Queen of Outer Space, die mit einer Hand verlorene U-Boote retten kann. Naja, so ähnlich jedenfalls. Irgendwie bin ich eifersüchtig.
Wie schnell doch Volkes Stimmung schwanken kann!
Und allmählich ärgert es mich auch, daß ich Natalie monatelang so vollkommen falsch eingeschätzt habe. Von uns ist keiner auf die Idee gekommen, einen 'shutdown'-Prozeß mit einem anderen, gleichartigen Prozeß erst zu modifizieren und dann in Ruhe abzuschießen. Natalie läßt privat mehr von ihrer Intelligenz durchblicken als bei distanzierterem Umgang.
Ob da ein allgemeines Prinzip dahintersteckt, daß Frauen sich häufig so verstellen? Oder glauben, sich so verstellen müssen? - Als ich vor jetzt 16 Jahren Irene kennengelernt habe, bin ich auch Zeuge einer solchen Metamorphose gewesen. Abgesehen davon, daß Irene ihr Alter am ersten Tage unserer Bekanntschaft innerhalb weniger Stunden von 25 auf die damals korrekten 31 hinaufkorrigiert hat, legte sie mir gegenüber innerhalb weniger Tage vollständig jedes gezierte Verhalten, daß eine Frau durchaus nicht anziehender macht, vollständig ab. Die wahre Irene war ein ganz anderer, ein viel liebenswürdigerer Mensch. Andere Frauen hingegen haben erst gar keine solch gekünstelte Umgangsform entwickelt, wie etwa Carola.
Das Boot steigt am Nachmittag in die Mitte der Höhle, um weitere Messungen in den Wänden rundherum vorzunehmen. Wir müssen ja noch rausfinden, wo es weitergeht. Amurdarjew hat da am meisten zu tun. Und Carola und Edwin arbeiten Dr. Cohausz und Dr. Solzbach weiter in das PRO-UNIX ein - sie sollen einen Mehrfach-Paßwort-Mechanismus bauen, den man mit existierenden Anwendungsprogrammen assoziieren kann. Dabei werden Paßwörter vom System generiert und sowohl dieser schutzbedürftigen Anwendung als auch bestimmten Besatzungsmitgliedern mitgeteilt. Dann kann man solche Konfigurationen erzeugen wie etwa ein Programm, das nur gestartet werden kann, wenn von drei Besatzungsmitgliedern wenigstens zwei ihr okay geben, indem sie dem Programm das Paßwort mitteilen.
Ich bin da etwas skeptisch - besonders der Systemverwalter kann sich ja sowieso über alle Beschränkungen hinwegsetzen - und die Systemverwalterberechtigung, die Kenntnis des sogenannten 'root'-Paßwortes, haben fast alle.
Zum anderen ist es möglich, daß sich jemand sensible Systemprogramme, wie etwa das 'shutdown'-Programm, kopiert hat und es irgendwo aufbewahrt, vielleicht sogar in verschlüsselter Form. Die Menge der Daten in den Schiffsrechnern macht es völlig unmöglich, so etwas jemals nachzuprüfen.
So gegen 16 Uhr macht sich eine gewisse Freizeit-Stimmung an Bord breit. Plötzlich läuft ein Gerücht um: Das Alkoholverbot soll, mit Genehmigung des Alten, heute zeitweise aufgehoben werden. Es ist auch genug Sekt da, heißt es - aber keiner weiß, wo. Die Schiffsoffiziere wissen es. Aber auch die können nicht hexen. Wo versteckt man Getränke an Bord dieses Schiffes? Niemand nimmt an, daß die Schiffsoffiziere wertvolles Volumen ihrer eigenen Privatkabinen für so etwas geopfert haben.
Auf mehreren Bildschirmen entdecke ich Rißzeichnungen des Schiffes, die um alle Achsen gedreht und gewendet und gezoomt werden. Da wird mit allen technischen Mitteln spekuliert, wo das Depot wohl sein könnte! - Das gibt mir wieder Veranlassung, über Motivation und deren Erzeugung nachzudenken. Aber niemand hat eine Idee.
So um 17 Uhr sind praktisch alle in der Kantine. Es ist nicht so, daß eine offizielle Feierstunde angesetzt gewesen wäre - wir werden auf dieser Reise noch öfter in schwierige Situationen geraten, und man kann ja nicht jedesmal einen Festakt veranstalten. Außerdem sind wir noch ganz am Anfang der Reise - der SISC zeigt eine Missionszeit von erst 57 Stunden an. Aber Wellington weiß wohl, wie wichtig der Anstrich von Normalität für die Moral der Besatzung ist. Wir sitzen hier zwar in einer fremden Höhle, 2500 Meter unter dem Meeresspiegel, und der direkte Rückweg ist uns - wahrscheinlich - nicht mehr möglich. Aber solange wir noch feiern können, kann es so schlimm ja nicht sein.
Einer muß in der Zentrale bleiben, und das ist Wellington selbst. Fahlenbeek und Ammerlingen kommen rein, und beide tragen je zwei weitgebeulte - ALDI-Tüten! Unter allgemeinem Klopfen packen sie den Inhalt aus - acht Flaschen 'Fürst von Metternich'. Jeder denkt sich das gleiche: Wo waren die ALDI-Tüten? Wo waren die Sekt-Flaschen? Gibt es noch mehr davon?
Ich habe mich in die hintere Ecke gesetzt, bugwärts. Irgendwie fühle ich mich schlapp. Natalie sitzt mitten im Raum, an eine der Säulen, die von der Spantenscheibe gebildet wird. Sie zieht die Aufmerksamkeit der meisten Umsitzenden auf sich.
Edwin sitzt mir am Tisch gegenüber. Ich blicke mich um:
"Ich dachte, es wären alle hier? Wo ist denn Carola?" frage ich Edwin.
"In ihrer Kabine. Sie ist restlos erschöpft, sagt sie."
"Glaube ich. Hast du gesehen, wie sie vor dem drohenden Shutdown aussah?"
"Ja." meint Edwin, "Aber ich glaube, das ist es nicht. Oder nicht nur."
"Natalie?"
"Ja. Sie hat ihr die Schau gestohlen."
"Kann doch jedem mal passieren, daß ein Laie - oder ein relativer Laie - mal etwas besser macht. Das sollte ihr berufliches Selbstbewußtsein aushalten."
"Eigentlich schon. Aber nicht bei Natalie."
"Ich weiß, daß sie sich nicht riechen können."
"Was meinst du, wie sie über Natalie geredet hat. In der letzten Zeit, als ihr nicht in Hörweite wart."
"Nach dem Abend, wo wir da ..."
"Genau."
"Hoffentlich," sag ich, "ist da nicht ein persönliches Interesse an meiner Person, das mir bis jetzt eben noch gar nicht aufgefallen ist. Kann ich mir nicht vorstellen. - Kenne sie doch schon seit - naja, 15 Jahren oder so."
"Weiß man bei den Frauen nie. Aber ich glaube, diese berufliche Niederlage wiegt schwerer. Zusammen mit der Angst um unser Leben."
"Dann sollten wir ihr klarmachen, daß es keine berufliche Niederlage war. Es war ein Glücksfall. Niemand wußte, wie in PRO-UNIX der Shutdown implementiert ist. - Ich habe übrigens immer noch nicht in den man-pages nachgesehen."
"Na, die wird schon wieder. Die Carola, meine ich."
"Viel interessanter ist, wie nahe wir wirklich dran waren. Und ob man die Reaktoren ganz ohne Strom wieder anfahren kann. Ich kenn doch die Baupläne - wir haben wirklich nicht sehr viel Batterien an Bord."
"Da weiß ich was neues!" sagt Edwin.
"Was denn?"
"Hast du noch keine Schlüsse draus gezogen, daß diese Akkus völlig wartungsfrei sind?"
"Das kann man heute sowohl mit Bleiakkus als auch mit Nickel-Cadmium-Akkus erreichen. Ich glaube schon, daß wir das Feinste vom Feinen - und das Teuerste - an Bord haben!"
"Noch teurer." sagt Edwin. Inzwischen haben wir alle unser volles Sektglas.
"Noch teurer?" frage ich nach einem langen Zug.
"Ja. Ich habe es mal durch Zufall gehört. Priest und Colbert haben mal drüber gesprochen. Das ist so eine ähnliche Technologie wie die Speicherchips, die hier verwendet werden. Aber ich weiß keine Einzelheiten. Nur, daß pro Kilogramm Akku mehr als eine Kilowattstunde gespeichert werden kann."
"Donnerwetter. Das wäre enorm. Das wäre - das ist mindestens eine Zehnerpotenz mehr als das, was man mit Bleiakkus erreichen kann. Unglaublich! - Ich glaube, ich kenne immer noch nicht alle technischen Wunder hier an Bord."
"Zum Beispiel, wo sie den Sekt versteckt haben." bringt Edwin es wieder auf den wesentlichen Punkt.
Eine Weile hören wir nur in das allgemeine Gerede. Ich versuche, mich zu erinnern, wieviel Kilogramm Bleiakku man braucht, um eine Kilowattstunde unterzubringen. Ich glaube, es war irgend etwas zwischen 20 und 40, aber ich weiß es nicht mehr.
"Es macht einem fast wieder Sorgen." sage ich, mehr zu mir selbst.
"Was denn?" fragt Edwin.
"Mehr als eine Kilowattstunde pro Kilogramm."
"Wieso?"
"Wenn das stimmt - Bei TNT hat man 1.25 Kilowattstunden pro Kilogramm. Wenn diese neuen Akkus genausoviel Energie enthalten, dann könnten sie explodieren. - Vielleicht, ich weiß es nicht."
"Und wieso können Bleiakkus nicht explodieren?"
"Weil eine Kilowattstunde einfach zuwenig Energie ist, um die 20 oder 40 Kilogramm Bleiakku zu verdampfen, die zu ihrer Speicherung nötig sind."
"Ach so." sagt Edwin. Er glaubt mir aufs Wort. In diesem Punkt wenigstens.
"Mach dir jetzt aber keine Sorgen!" fahre ich fort, "Es kann so sein. Es muß nicht. - Denk an das Schwere Wasser in unserem Körper. Da ist soviel Energie drin, daß man damit dieses Boot aufblasen könnte. Trotzdem sind menschliche Körper nicht explosiv. - Trotzdem schade, daß diese Akkus noch nicht allgemein erhältlich sind - oder sind sie das?"
"Ich glaube nicht," sagt Edwin, "aber ich weiß es nicht."
"Man könnte soviel damit machen." Edwin nickt. Er ist redefaul.
Allmählich wird es lauter. Der Sekt tut seine Wirkung. Ich sehe von einem zum anderen.
Viele diskutieren den 'shutdown'-Vorfall. Durch genaues Zuhören kann man herausfinden, wer wieviel von Informatik versteht. Ich höre aber nicht zu genau hin - immer, wenn ich Zeuge einer Fachdiskussion werde, wo ich vom Fach mehr verstehe als die Diskussionsteilnehmer, fühle ich den Drang, mich einzumischen und Irrtümer zu korrigieren. Vielleicht ist das ein Überbleibsel aus früher Kindheit, wo man noch fürs Besserwissen gelobt wurde. Wenn man das in der Kindheit erlebt hat, dann hat man es später schwer, einzusehen, warum andere einem nicht um den Hals fallen, wenn man etwas besser weiß.
Wir haben jetzt möglicherweise zwei schwarze Schafe an Bord: Den Adressaten der Direktive q78q99q. Und denjenigen, der den Shutdown-Prozeß gestartet hat - wenn dies nicht ein Systemfehler war. Beide könnten ein- und derselbe sein, müssen aber nicht. Wieso sollte der mit der Direktive q78q99q sich selbst die Ausführung seines eigenen Auftrages sabotieren?
Ich will gerade Edwin fragen, was er glaubt, was die Ursache sein könnte, daß man den ersten Shutdown-Prozeß nicht in der Prozeßliste sehen konnte. Aber da wendet sich Dr. Thomas Reinhardt zu mir um, der zwar neben mir sitzt, aber mir bis jetzt den Rücken zugewendet hat.
"Sind sie nicht," sagt er, "aber es wird nicht lange dauern, bis man sie kaufen kann."
Nanu, denke ich. Wieso ist der Reinhardt so freundlich zu mir? Wieso geht er, der größte Paläontologe aller Zeiten, plötzlich von sich aus aus sich heraus und auf andere Themen ein?
Nach ein paar Sekunden komme ich drauf. Ist doch klar: Der, der seine Kompetenz als Paläontologe am allermeisten in Frage gestellt hat und dieses immer wieder tut, ist Alfred Seltsam, der Evolutionär. Seltsam hat aber auch ein Auge auf Natalie geworfen - so deutlich, daß es wohl auch Reinhardt aufgefallen ist. Seit unserer Sondervorstellung in der Zentrale bei meiner ersten Nachtwache sieht Seltsam naturgemäß etwas betrübter drein, weil ich das Rennen zu dem Platz zwischen Natalie's Beinen haushoch gewonnen habe. Dabei weiß er gar nicht, daß ich eigentlich zu diesem Rennen nicht an den Start gegangen bin - es hat sich eben so ergeben.
Aber Seltsam's Enttäuschung zeigt sich nicht sehr deutlich, und mir wäre es eigentlich auch nicht unbedingt aufgefallen. Aber Seltsam ist der Intimfeind von Dr. Reinhardt, und dem ist es aufgefallen.
Solche Dinge muß man sich immer wieder vor Augen halten, wenn man der irrigen Vorstellung anhängt, Wissenschaftler würden persönliche Probleme rationaler lösen als andere Leute!
Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, daß sich seine Worte immer noch auf das Akku-Thema beziehen.
"Wissen Sie zufällig, ob diese neuen Akkus explosionsgefärdet sind?" frage ich höflich. Gute Stimmung verbreiten kann ja nicht schaden.
"Ich kann mir nicht vorstellen, daß man diese Akkus kurzschließen kann, und es passiert nichts. Irgendwo muß die Energie ja bleiben! - Wissen Sie, wenn man einen sehr starken Kurzschluß macht, dann wird die ganze Energie ja auch im Akku selbst freigesetzt!"
Ich könnte ihn jetzt drauf hinweisen, daß ein diplomierter Physiker schon mal etwas von den Geheimnissen des Innenwiderstandes eines Akkus gehört hat. Aber wir wollen ja freundlich bleiben.
"Da kann man ja tragbare Kameras ewig lang betreiben!" wirft Edwin ein, "Wenn wir zum Beispiel Saurier in der Welthöhle aufnehmen wollen, dann wird das doch sehr nützlich sein, nicht?"
Idiot, denke ich. Da erwischt man einen der seltenen Augenblicke, in dem Reinhardt nicht über Paläontologie spricht, und Edwin bringt das Thema wieder auf den Tisch.
Reinhardt will gerade antworten, aber er kommt nicht mehr dazu. Eine Alarmsirene geht wieder los.
Die meisten Mitglieder des nautischen Personals springen auf, Fahlenbeek und Ammerlingen sind die ersten, die in die Gänge vor den Kabinenzeilen hechten und in Richtung Zentrale laufen. Ich höre Gläser, die zu Boden gehen und wieder hochspringen: Spezialgläser. Unzerbrechlich. Die hätte der Buchheim in seinem Boot gebraucht!
Außer den nervtötenden Alarmsirenen passiert nichts. Das Licht flackert nicht, das Boot schaukelt nicht, man hört keinen Lärm. Nichts. Die Sirenen werden nach vielleicht acht Sekunden wieder abgestellt.
"Was ist denn los?" flüstert Edwin. Reinhardt ist aufgesprungen, aber weil ihm nicht einfällt, was er in einem unspezifizierten Notfall tun sollte, setzt er sich wieder hin. Jetzt ist erst einmal Stille in der Kantine - die Augen der meisten Verbliebenen richten sich auf die SISCs.
Die zeigen nichts an, was Anlaß zur Besorgnis geben könnte - jedenfalls auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick:
"Was ist denn mit dem Wasser draußen los?" fragt Edwin. Jetzt sehen es alle: Die Ziffern tanzen. Die Wasserdichte draußen schwankt. Und die chemische Zusammensetzung ändert sich auch.
"Belege Alarm - Belege Alarm. Alarm wurde rechnerausgelöst - kein Grund zur Sorge." Wellington's Stimme schweigt wieder.
"Ich würde mir schon Sorgen machen, wenn der Rechner von sich aus Alarme auslöst, so ganz ohne Grund!" sagt Edwin, und nach einer Pause: "Er hat ja schon einiges ohne Grund ausgelöst."
"Das wissen wir noch nicht, wenn du den Shutdown meinst." sage ich, "Dieser Alarm jetzt wird sicher etwas mit der Wasserdichte zu tun haben. Sieh da! Temperatur ist auch gestiegen. Von 11.1 auf 11.5 Grad."
"Das ist doch fast nichts!" sagt Edwin.
"Es muß einen Grund haben!"
Ein paar Minuten lang wird nur müßig hin und herspekuliert. Die Werte der Salzkonzentration, der Dichte, des CO2-Gehaltes und der Temperatur driften wieder auf ihre vorherigen Werte. Dann werden wir aufgeklärt:
Aus den Öffnungen am Grunde der Höhle, in der die CHARMION sich jetzt befindet, und die zum Einfahren des Bootes zu klein sind, sind Fladen von Wasser aufgestiegen, die einen geringeren Salzgehalt, eine höhere Temperatur und eine höhere CO2-Konzentration haben. Insgesamt müssen es einige hundert Tonnen gewesen sein, die auf ihrem Aufstieg die Position der CHARMION passiert haben.
Da sich dieses aufsteigende Wasser nur sehr wenig von dem normalen Wasser unterschieden hat, waren die Wirkungen auch nur gering. Wenn ein Taucher draußen gewesen wäre - was bei diesem Außendruck nicht möglich ist - dann hätte er gar nichts von diesem Vorgang gemerkt. Das Boot hat eben festgestellt, daß sich der Auftrieb plötzlich geändert hat - um wenige hundert Kilo - und hat entsprechend reagiert, um an Ort und Stelle zu bleiben. Da diese geringen Änderungen sehr plötzlich eintraten, nachdem die Wasserzusammensetzung ja schon lange Zeit unverändert war, wurde Alarm ausgelöst. Das war alles.
Nach und nach tauchen einige vom wissenschaftlichen Personal wieder auf. Aber an diesem Abend will die richtige Stimmung nicht mehr aufkommen. Jeder weiß: Es ist nicht unser Verdienst, daß dieses Ereignis so geringe Auswirkungen hatte. Wir wissen ja nichts über die Ursache. Was wäre gewesen, wenn es sich um Tausende Tonnen von Heißdampf gehandelt hätte? Oder um Lava? Oder wenn schlicht und einfach die Höhle zusammengebrochen wäre?
"Wie soll man," fragt Edwin niemanden Bestimmtes, "unter diesen Umständen ein rauschendes Bordfest veranstalten?"
"Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben!" zitiere ich, "Deshalb lasset uns essen und trinken und fröhlich sein, denn morgen sterben wir alle sowieso. Oder wer weiß, vielleicht heute schon!"
"Geh zu Carola in ihre Kabine! Mit dem Spruch wirst du sicher viel Eindruck machen." schlägt Edwin vor.
"Ich gehe jetzt in meine eigene Kabine. Und ich nehme auch jemanden mit, um bei ihr Eindruck zu machen!" sage ich und stehe auf. Als ich die Kantine verlasse, folgt Natalie mir. Die meisten Augen folgen Natalie. Die Augen von Dr. Reinhardt liegen auf Seltsam.
Da war meine Diagnose wohl korrekt.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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