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29. Shutdown
Einen Moment lang stehen wir wie erstarrt. Das Schiff droht mit Streik. Es dauert einige Sekunden, bis mir die Implikationen klar werden. In diesem Schiff wird alles durch den Rechner gesteuert. Wenn das Schiff unterwegs ist, dann darf man das System nicht herunter gefahren werden! Unter gar keinen Umständen!
"Carola, was soll das?" frage ich, "Wer hat denn den Shutdown eingeleitet!"
"Woher soll ich das denn wissen?"
"Du bist Systemverwalter - deswegen bis du an Bord!"
Das Interkom schlägt an. Ich weise drauf:
"Das ist für dich. In der Zentrale haben sie jetzt dasselbe Problem!"
Es ist für Carola. Wellington ist sehr aufgebracht. Aber Carola hat keine Erklärung. Keiner von uns hat eine.
"Okay, wir bereinigen das." Ich setze mich wieder hin. "Carola, finde den Prozeß, von dem der Shutdown aus gestartet worden ist! Den mußt du abschießen! Edwin, hilf ihr. - Ihr müßt es schaffen! Ihr kennt euch am besten aus!"
"Das glaubst auch nur du!" murmelt Edwin, aber sie machen sich sofort an die Arbeit.
Dann greife ich zum Interkom. Ich muß mit Wellington sprechen. Notprogramm - wenn er nicht von selbst drauf kommt: Erstens muß das Boot auf Grund gelegt werden, damit nicht genau das passiert, was wir vorhin im Spaß durchdiskutiert haben: Ausfall der automatischen Trimmung. Das wird leider nicht ganz einfach sein, weil der Grund unter uns extrem uneben ist. Auf ebenem Kiel würden wir wohl nicht zu liegen kommen.
Zweitens muß die Reaktorabschaltung vorbereitet werden. In dem Moment, wo die Rechnersteuerung wegbleibt, muß der Druck reduziert werden, damit die Reaktionen in den Titan-Palladium-Folien vollständig zum Erliegen kommt. Die dürfen nämlich unter keinen Umständen durch eine kurzzeitige, ungeregelte Leistungsexkursion zu heiß werden. Dann haben wir nämlich mal einen Reaktor gehabt. Im Plusquamperfekt.
Dann kommen wir hier nie wieder weg.
Wellington beherrscht sich mühsam. Ich höre das. Meine Maßnahmen hat er schon von selbst eingeleitet. Und mehr als das: Auch in der Zentrale versucht man, Jagd auf den Shutdown-Prozeß zu machen.
Wenn wir den abschießen, das wäre die allerbeste Lösung. Das sollte eigentlich auch kein Problem sein. Danach, wenn der Shutdown abgewendet worden ist, können wir uns in Ruhe dem Problem widmen, herauszufinden, wer diesen Prozeß initiiert hat.
Ich spüre den Bootsboden schwanken. Das Boot wird zwischen die Felsen unter uns gesteuert. Das geschieht natürlich im Moment unter Zeitdruck. Ich fürchte, gleich wird es laut werden.
Jemand faßt meinen Arm an. Es ist Natalie. "Ist es schlimm?" fragt sie.
"Nein. Noch nicht. Erst in - neun Minuten."
Carola und Edwin wirbeln auf der Tastatur herum. "Scheiße!" ruft Carola.
"Was?"
"Ich finde ihn nicht. - Der Shutdown muß unter root-Berechtigung gefahren worden sein. Aber ich finde ihn nicht!"
"Kannst du nicht alles abschießen, was du nicht kennst?"
"Bist du verrückt? Weißt du nicht, wieviele Prozesse auf diesem System laufen? - Ich weiß doch noch gar nicht, wie die verschiedenen Schiffsprozesse heißen. Ich könnte den Reaktor so kaputtmachen. Oder der Zentrale das Ruder aus der Hand nehmen!"
"Läuft denn das ganze Zeug unter 'root'-Berechtigung?
"Das weiß ich doch auch nicht." Sie hackt weiter.
Arme Carola. Intelligente Carola. Sie hat das Problem voll erfaßt. Sie weiß, was passieren wird, wenn sie oder Edwin es nicht schafft. Jetzt hackt sie um unser Leben. - Ich habe noch nie auf ihrer Stirn Schweiß gesehen - jetzt ist es soweit.
Ob sie jetzt auch an das alte Weltkriegs-U-Boot denkt, das wir oben gesehen haben? Hier, in diesen Höhlen wird nicht einmal jemand die CHARMION finden, wenn wir schon lange tot sind - soviel weiter sind wir von jeder Entdeckung entfernt.
Natalie sieht nicht gestreßt aus. Das kann aber schlicht und einfach daran liegen, daß sie nicht soviel Phantasie hat, sich von selber dieses Szenario vorzustellen. Ganz hoffnungslos ist das bei ihr aber nicht, erinnere ich mich - als ich ihr vor kurzem die Wirkungen hohen Wasserdruckes geschildert habe, ist sie auch nervös geworden.
"Ich habe das Root-Paßword auf 'ullapool' gesetzt. Häng dich rein und tu auch mal was!" bellt Carola zu mir rüber.
In der nächsten Sekunde habe ich mich als Systemverwalter angemeldet.
Da hebt plötzlich ein Kreischen an, das das ganze Boot schüttelt. Das Deck neigt sich schräg.
"Nicht hinhören!" schreie ich, "Das sind bloß unsere Kollisionsleitschienen. Da geht nichts kaputt! - Das kann das Boot ab."
Jede Minute drängt sich die Mitteilungsbox wieder in den Vordergrund:
PRO-UNIX - SYSTEM ADMINISTRATION CRASH PRIORITY MESSAGE SYSTEM SHUTDOWN IN 05 MINUTES PLEASE CLOSE YOUR APPLICATIONS, OR YOU MAY DAMAGE YOUR FILES!
Kaum, daß das Kreischen von draußen verebbt ist, hängt Wellingtons Stimme im Raum:
"Herhören. Reaktor wird acht Sekunden vor Shutdown abgeschaltet. Außer den Rechnern hat dann nichts mehr Strom!"
"Herwig, ich habe Angst!" flüstert Natalie. Also doch.
"Sag's nicht weiter. Ich auch."
Carola hat recht. Es sind verwirrend viele Systemprozesse aktiv. Keine Chance, den 'shutdown'-Prozeß zu erwischen.
Wenigstens liegt das Boot nicht allzu schräg - es wäre sehr lästig, einen Teil seiner Konzentration darauf zu verwenden, sich am Sitz festzuhalten oder sich gegen die Gurte zu wehren, wenn man angeschnallt ist. Oder gar über Kopf arbeiten zu müssen.
"Carola, wir können doch den Rechner wieder hochfahren, oder, auch wenn der auf Notaggregat läuft?"
"Natürlich," sagt sie, "Aber wie lange halten die?"
"Haben wir in München sicher gelernt. Aber dieser Rechner schaltet die Prozessoren und Speicher, die er gerade nicht braucht, ab. Wir könnten eine Menge Zeit haben. Ich weiß es nicht. Vielleicht."
"Und der Reaktor? Wieviel Strom braucht der zum Wiederanfahren?"
"Weiß ich auch nicht. Die Reaktoringenieure sind jetzt damit beschäftigt."
Plötzlich werden auf allen Bildschirmen sämtliche Fenster, in denen sich in den letzten Minuten scharfe Zacken ins Bild geschoben haben, dunkel. Die Außenscheinwerfer sind abgeschaltet worden. Schon in der nächsten Sekunde werden hier drinnen von acht Leuchtkörpern sieben ausgeschaltet.
"Jetzt schon?" fragt Gabi Gohlmann. Sie hat ein ängstliches Vibrato in der Stimme. Aber auch sie hat einige 'Shell'-Fenster auf dem Bildschirm. Ebenso Dr. Solzbach und Dr. Cohausz. Die drei sind aber keine große Hilfe, weil zweifellos Carola und Edwin die meiste UNIX-Erfahrung haben. Und der Pater sitzt hilflos und schweigend da. Was soll er sonst auch tun?
"Strom sparen." sage ich, "Deshalb wird jetzt alles mögliche abgeschaltet. Die Turbinen laufen noch ein bißchen weiter, wenn der Reaktor gestoppt wird."
"Ich finde es nicht, ich finde es einfach nicht!" Carola weint fast. Wut über die eigene Unfähigkeit oder über das System oder über den Täter? - Wenn es einen solchen gibt.
"Herwig! - Wieso waren es gerade 12 Minuten? Das gibt man doch beim Shutdown an, nicht wahr?"
PRO-UNIX - SYSTEM ADMINISTRATION CRASH PRIORITY MESSAGE SYSTEM SHUTDOWN IN 03 MINUTES PLEASE CLOSE YOUR APPLICATIONS, OR YOU MAY DAMAGE YOUR FILES!
"Ja, Natalie, aber ich habe jetzt keine Zeit ..."
"Wenn ihr es noch einmal aufruft - mit 999 Minuten, oder was dann die größte Zeitdauer ist?"
Ich sehe sie an: "Wo hast du denn die Idee her?"
"Es kommt mir so vor. So ein Programm darf doch nicht sich selbst in die Quere kommen, oder? Und in diesem System können Programme parallel laufen. Das wenigstens verstehe ich von Computern!"
"Könnte das gehen, was Natalie sagt, Carola? Hast du's gehört?"
Wieder ändert sich die Mitteilungsbox:
PRO-UNIX - SYSTEM ADMINISTRATION CRASH PRIORITY MESSAGE SYSTEM SHUTDOWN IN 02 MINUTES PLEASE CLOSE YOUR APPLICATIONS, OR YOU MAY DAMAGE YOUR FILES!
"Stör mich nicht. Such lieber auch in den 'login'-Protokollen."
Einen Moment lang kommt sie mir alt vor. Kann sie innerhalb von zwei Minuten dieses neue Konzept nicht verstehen, oder gibt es einen ganz einfachen Grund, aus welchem es nicht funktionieren kann, und sie hat nur nicht die Zeit, jetzt Anfängerunterricht zu erteilen?"
"Was meinst du?" fragt Natalie.
"Wenn ich die 'Shutdown'-Funktionalität implementieren würde, dann würde ich das so machen, daß ein zweiter Shutdown-prozeß nicht mehr gestartet werden kann, wenn schon einer läuft."
"Wäre das sinnvoll?" fragt Natalie drängend, "Denk mal an die Beleuchtung in Treppenhäusern. Die sind so eingestellt, daß sie nach fünf Minuten wieder ausgehen - es sei denn, jemand drückt nochmal den Lichtschalter. Dann zählen die fünf Minuten wieder von vorne los! - Das hat so eine technische Bezeichnung - ich weiß nicht ..."
"Nachtriggerbar?"
"Ich glaube, ja."
"Ich weiß nicht, ob man das 'shutdown' so implementieren sollte."
"Könnt ihr beiden nicht die Schnauze halten? Es ist zu spät, um das jetzt neuzuimplementieren!" ruft Carola rüber. Ich habe das Gefühl, daß sie durchdreht.
PRO-UNIX - SYSTEM ADMINISTRATION CRASH PRIORITY MESSAGE SYSTEM SHUTDOWN IN 01 MINUTES PLEASE CLOSE YOUR APPLICATIONS, OR YOU MAY DAMAGE YOUR FILES!
Ich überlege noch, ob ich in der online-Dokumentation nachschauen sollte. Aber soviel Zeit ist nicht mehr.
"In weniger als einer Minute fährt Wellington den Reaktor runter." sage ich, "Natalie. Ich versuche es. Wir können die Situation kaum noch verschlimmern!"
Ich tippe im Shellfenster ein:
# /etc/shutdown -t9999
9999 Minuten. Reine Zahlenmystik: Bei 99999 Minuten brauchte man schon mehr als 16 Bit, um die Zahl darzustellen. Weiß ich etwas über die Implementierungseinzelheiten bestimmter Systemprogramme? Also lieber nur 9999 Minuten.
Und wieder springt die Mitteilungsbox in den Vordergrund:
PRO-UNIX - SYSTEM ADMINISTRATION CRASH PRIORITY MESSAGE SYSTEM SHUTDOWN IN 9999 MINUTES PLEASE CLOSE YOUR APPLICATIONS, OR YOU MAY DAMAGE YOUR FILES!
Ich brauche einen Moment, um es zu verstehen. Dann umarme ich Natalie:
"Wir haben es geschafft! Sieh hin!"
Carola sieht auf meinen Bildschirm. Jetzt begreift sie. Aber:
"Und wenn jetzt doch beide parallel laufen?"
"Das werden wir gleich wissen!"
"Wegen dem Reaktor ..."
"Scheiße. Wellington muß Bescheid wissen!" Ich hänge mich ans Interkom. Wellington hat die neue Zeitangabe natürlich gesehen.
"Chef - wenn jetzt Meldungen kommen - oder nein, die kommen ja nur auf der Konsole des Veranlassers. Starten Sie dauernd neue Applikationen! Wenn das plötzlich nicht mehr geht, dann heißt das, daß wir zwei laufende Shutdown-Prozesse haben. Dann müssen sie den Reaktor sofort abschalten. Wenn es aber doch geht, dann haben wir - 9999 Minuten Zeit. Das ist fast eine Woche!"
Wellington stimmt zu und hängt auf. Wir starren gebannt auf meinen Bildschirm.
Als sich dort wieder etwas ändert, heißt es:
PRO-UNIX - SYSTEM ADMINISTRATION CRASH PRIORITY MESSAGE SYSTEM SHUTDOWN IN 9998 MINUTES PLEASE CLOSE YOUR APPLICATIONS, OR YOU MAY DAMAGE YOUR FILES!
"Kein Abmelden von Dämonen. Keine andere Mitteilungsbox dazwischen. Nichts. Ich glaube, wir haben es geschafft!" sage ich, "Carola, dann kannst du mich abschießen. - Es heißt übrigens: 'wegen des Reaktors'. Genitiv!"
Dann zeige ich Natalie die Box: "Sieh sie dir noch einmal an: 9998 Minuten bis zum Shutdown! Und immer noch bezeichnet das Programm dies als etwas, was einer 'crash priority message' würdig ist. Das ist Informatik. Das ist Systemprogrammierung. - So einen Blödsinn haben wir bei unserem alten Arbeitgeber auch zustande gebracht!"
Carola setzt sich wieder an ihren Bildschirm. "Da ist dein shutdown-Prozeß!" zeigt sie, "Mitten drin in der Prozeßliste. Wie es sich gehört! - Den anderen shutdown-Prozeß sehen wir wegen etwas anderem nicht. - Dativ."
"... aus einem anderen Grunde nicht. Wenn schon!" kontere ich.
Sie tippt das 'kill'-Kommando ein. Ohne weitere Kommentare verschwindet die Mitteilungsbox. Es ist, als wäre nie etwas gewesen.
"Natalie!" sage ich, "Du erhälst den Oskar für UNIX-Systemverwalter! Wegen dieser hervorragenden Leistung! - Genitiv!"
Ich kann nicht sehen, was Carola für ein Gesicht macht, als ich Natalie in die Arme nehme und küsse. Wegen dem Blickwinkel.
Aber ich kann hören, daß Cohäuszchen diesmal keine unpassenden Bemerkungen zum Besten gibt. Weder im Genitiv noch im Dativ.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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