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28. Im Labyrinth

"Da kommen ja unsere beiden Flitterwöchner!" sagt Edwin und wendet sich wieder seinem Bildschirm zu. Die anderen - Carola, Pater Palmer, Amurdarjew, Gabi Gohlmann und jetzt auch Mario Wondrachek, Dr. Cohausz und Dr. Solzbach - blicken kurz auf, manche grinsen.

Es ist in diesem Arbeitsraum etwas voller geworden - jetzt sind wir hier im Moment zu zehn. Ein Drittel der gesamten Besatzung.

Wir haben das Frühstück heute morgen ausfallen lassen und sind um acht Uhr direkt hierher gekommen, um nicht mit allen anderen auf einmal konfrontiert zu werden. Jetzt denke ich aber, daß wir doch hätten frühstücken können.

Günther Cohausz grinst uns in seiner sympathischen Weise an. Ich sehe es ihm an: er formuliert noch an etwas herum. Ihm würde ich den Wasserschwall in unsere Koje heute nacht zutrauen.

"Habt ihr eine ruhige Nacht gehabt?" fragt er.

"Ununterbrochen." sage ich. Alles grient - also sind alle informiert. Hätte mich auch gewundert. Carola steht auf.

"Wenn ihr Eure Gedanken mal wieder auf etwas Dienstliches konzentrieren könntet - so kurz vorm Wochenende, wo man ja lieber woanders stecken möchte - nein, so habe ich das nicht gemeint!" protestiert sie, als wieder alles in Gelächter ausbricht, "Ich dachte nur an den allgemeinen Gegensatz zwischen Dienst und Freizeit!"

"Nochmal!" ermutige ich sie, "Du willst uns doch sicher Arbeit anschaffen, nicht? - Das kann man sicher ganz unverfänglich formulieren." Ich kenne Carola ja - zweideutige Redewendungen versteht sie zwar, setzt diese aber selbst nicht absichtlich ein - oder es wäre jetzt das erste Mal gewesen.

"Auf Befehl des Alten." sagt sie. Cohäuszchen unterbricht: "Ja, Herwig, es ist schwer, an Bord eines U-Bootes etwas zu arbeiten, was nichts mit Wasser zu tun hat!"

Es macht mir wirklich nichts aus, der Gegenstand allgemeiner Heiterkeit zu sein. Überhaupt nichts. Auf einem Lanzarote-Urlaub vor neun Jahren habe ich mal Modell für einen Karikatur-Straßenmaler gestanden. Ein gewisser Jorge Molina - so hieß er. Ich erinnere mich heute noch. Es war ein Maiabend in Puerto-del-Carmen, und wir wollten etwas mit nach Hause nehmen, ein richtiges Andenken, mehr als Photos. Und da war dieser Karikaturist, der gegen Geld porträtierte. Ich konnte nicht sehen, was er macht, aber Irene sah sich das Werk von Anfang an an. Und nicht nur sie - es blieben immer mehr Menschen stehen und sahen zu, ständig mein Gesicht mit der in Entstehung begriffen Zeichnung vergleichend. Zum Schluß waren es über dreißig Zuschauer, und der Herr Molina erhielt stehenden Applaus, als er fertig geworden war. Die Zeichnung war auch gut gelungen. Wenn mir dieses Angestarrt-werden unangenehm gewesen wäre, hätte ich ja jederzeit weggehen können. Aber wo geht man hier an Bord hin, wenn man nicht mehr angestarrt werden möchte?

"Also, das grundsätzliche Problem ist, - wir möchten ja wissen, wo wir stecken." Das Grinsen rundherum wird nie aufhören, wenn sie nicht ihre Wortwahl sorgfältiger trifft.

"Wir haben hier ein System, das du wahrscheinlich noch nicht ausprobiert hast. Es kartographiert diese Höhlen, durch die wir uns bewegen, automatisch mit. Es sind nämlich sehr viele Höhlen, viele Abzweigungen, immer kommt man irgendwo nicht weiter und muß zurück. Es ist ein Labyrinth von Höhlen ..."

"Ja, und die sind alle voll Wasser!" ranzt Cohäuszchen dazwischen. Das 'voll Wasser' betont er besonders, und er bekommt wieder seinen Lacherfolg.

"Sei doch mal still! - Also, wir bekommen ein dreidimensionales Modell. Das wird immer genauer und umfangreicher, je länger wir herumfahren. Und aus diesem Modell lassen sich vielleicht Schlüsse ziehen, die uns dann die richtigen Abzweigungen weisen. - Das ist jedenfalls die Idee hinter der Sache. Bewertung von Abzweigungen. Deshalb ist das Schiff an diesem einen Tag noch nicht so weit gekommen wie der Alte das gerne gesehen hätte. - Wir müssen sehr viel vor und zurück fahren."

"Vor und zurück!" murmelt Cohäuszchen.

"Man kann eine Pointe auch totreiten." sage ich. Bei den Worten 'dreidimensionales Modell' hat er zwar einen Moment Natalie scharf angesehen, aber die Pointe kam nicht. Oder ob er nicht drauf gekommen ist?

"Also, es läuft darauf hinaus, sich das Modell dieser Grotten sehr genau anzusehen. Von allen Seiten. Dieses System funktioniert so ähnlich wie ein CAD-System." Carola sieht Natalie an: "Sie - können Sie eigentlich auch mit dem Rechner umgehen?"

Die Frage ist eigentlich überflüssig. Wir sind zwar von München aus nicht an die Rechner der CHARMION gekommen, aber ohne Computer ging es auf den Lehrgängen auch nicht. Aber daß Carola Natalie nicht grün ist weiß ich ja.

"Ich habe mich eigentlich mehr mit Biologie beschäftigt." entgegnet Natalie, die wohl auch nicht genau weiß, was die Frage soll.

"Das hat ja auch keiner von uns bezweifelt!" stellt Cohäuszchen laut und vernehmlich fest.

"Nun sei doch mal still!" funke ich dazwischen.

Wir lassen uns kurz in das System einführen. Es ist wirklich einfach. In einem der Betriebsmodi kann man ein filigran aussehendes Modell der Höhlen auf dem Bildschirm rotieren lassen, die Blickrichtung und den Maßstab ändern und sich sogar perspektivische Bilder ausgeben lassen. Der momentane Standort des Schiffes kann durch einen leuchtenen Punkt bezeichnet werden oder auch nicht, ganz wie man will, und man kann auch den gesamten bisherigen Kurs einzeichnen. Ein schönes Spielzeug.

"Das hätte man haben müssen, um dieses alte Adventure-Spiel zu spielen - du weißt schon. Die Sache mit der 'Collosal Cave'."

"Wir sind in einer 'Colossal Cave'." stellt Carola fest, "Wenn dieses keine 'Colossal Cave' ist, dann weiß ich nicht, was man darunter versteht."

Natalie hat den Bildschirm neben mir. Und ich kann nicht erkennen, daß sie sich irgendwie langsamer in dieses Programm einarbeitet als jeder andere. Carola hat überhaupt keinen Grund, so zu reden.

"Also ich würde sagen," läßt sich jetzt Amurdarjew vernehmen, "daß sich diese Höhlen am besten erklären lassen, wenn man annimmt, daß sie teilweise künstlich sind."

Endlich wenden wir uns wieder sachlichen Themen zu!

"Und wieso?" frage ich. Aus dem Augenwinkel beobachte ich den SISC. Es ist bald 9 Uhr, und wir haben eine Tiefe von immer noch 1700 Meter. Die CHARMION hat sich heute zwar schon bewegt, aber dieses entlang einer horizontalen Höhlenkette. Ich erkenne auf dem Bildschirm, welchen abwärts führenden Höhlenschacht Wellington ansteuert. Im Moment haben wir bequem viel Manöverraum: 20 Meter in der Breite und 45 Meter hoch. Es war schon weniger.

"Zunächst einmal ist auf den ersten Blick überhaupt nicht zu erkennen, wie diese Höhlen entstanden sind. Verkastung nicht, das ist klar, Lavaausspülung aber auch nicht, und Hohlräume, die bei Faltungsvorgängen entstehen, haben nicht diese Größe und würden sich im Allgemeinen auch mit Bruchmaterial füllen."

"Nun ja," sage ich, "das ist das Problem mit der ganzen Welthöhle. Wissen wir, wie jene entstanden sind, dann wissen wir, wie diese entstanden sind, und umgekehrt. Es könnte der gleiche Vorgang sein."

"Ja." sagt Amurdarjew, "Der Amurdarjew-Homberg-Prozeß."

"Hoho! Sie sind aber schon weit in der Namensgebung!"

"Ist es nicht logisch? Sie haben in ihrem Buch schon über vulkanische Gase, die die Höhle aufgeblasen haben - gewissermaßen - spekuliert, und meine Simulationen weisen in dieselbe Richtung."

"Nun gut, aber Sie sprachen eben von 'teilweise künstlich'. Wie kommen Sie darauf?"

"Weil wir bisher mit dem Boot überall durchgekommen sind."

"Nein nein nein. Da machen Sie sich etwas vor." protestiere ich, "Gerade eben haben Sie darauf hingewiesen, daß wir ständig versuchen, auf immer wieder neue Weise einen Weg durch dieses Höhlenlabyrinth zu finden. Wo das Boot nicht durchkommt, da kommen wir eben nicht weiter, und da enden auch unsere Bemühungen, die Höhle zu kartographieren. Und wo es durchkommt, stellen wir eben fest - naja, daß wir durchkommen. Ist doch trivial! - So direkt können wir nur die dem Boot zugänglichen Regionen der Höhle kartographieren."

"Vielleicht." murmelt Amurdarjew.

"Außerdem," fahre ich fort, "wie soll man hier etwas künstlich verändern? Man braucht U-Boote. Und zwar von den besten, die es gibt!"

"Diese Höhlen brauchen in der Vergangenheit nicht immer unter Wasser gewesen zu sein," deutet Amurdarjew an, "die Welthöhle ist es ja heute noch nicht."

"Die Welthöhle ist ja auch ein bißchen größer. Und tiefer."

"Und was ist mit der Wippsteinhöhle? Wo Sie raufgekommen sind? Und den Höhlen unter dem Höllentalplatt?"

"Ich weiß es nicht," sage ich. "Derselbe geologische Mechanismus - vielleicht. Aber keine künstliche Bearbeitung. Nicht hier. - Naja, wenn diese Höhlen mal trocken waren, dann vielleicht."

"Es könnte sich hier um die große Verbindung zwischen Welthöhle und Erdoberfläche handeln, über die sie spekuliert haben - oder um eine davon. Der Minch war nicht immer ein Meer, wissen Sie."

"Das ist aber schon sehr lange her."

Amurdarjew beugt sich nach vorne. Auf seinem Bildschirm springt ein neues Fenster auf:

"Das haben wir gestern gefunden, als Sie ..."

Pause.

"Mit Vagina Pectoris im Bett lagen!" tönt Cohäuszchen dazwischen.

"Nicht hinhören!" sage ich zu Natalie, "Einfach nicht hinhören. Der ist ja nur neidisch, der alte Junggeselle! Zweiter Frühling - du verstehst!"

"Da spricht ja auch ein Spezialist in Sachen 'Zweiter Frühling'! - Wie alt bist du noch, Herwig?" entgegnet Cohäuszchen.

"Also wir haben es jedenfalls gestern gefunden!" sagt Amurdarjew, ohne sich vom Thema ablenken zu lassen, mit etwas lauterem Tonfall. Auf dem Bildschirm zieht Höhlenwand vorbei. Sie wird durch die Scheinwerfer der CHARMION grell angestrahlt.

"Und?" frage ich, "Was ist daran besonderes?"

"Warten Sie es ab!"

Eine Weile lang zieht nur die beleuchtete Felswand vorbei. Das Wasser ist so klar, daß diese Höhlenwand auch über Wasser hätte aufgenommen sein können. Dann schwenkt die Kamera plötzlich nach unten. Ich halte den Atem an.

"Das sieht ja aus wie ein - wie ein Kai!"

"Nicht wahr!" sagt Amurdarjew. In der unteren, seitlichen Rundung der Höhle, durch die wir gestern gefahren sind, ist ein Sims von fast fünfzig Metern Länge. Seine Kante zur Höhlenmitte ist senkrecht, seine Oberfläche waagerecht und bis zu einigen Metern breit. Der Sims ist schon vielfach zerschlagen, die Kante schartig. Aber meiner Ansicht nach muß eine gerade Kante dieser Länge einfach künstlich sein. Insbesondere, weil sie abrupt endet, und das an beiden Seiten.

"Ist sie aus dem Fels herausgeschlagen oder irgendwie gemauert?" frage ich.

"Aus dem Fels heraus. - Sie haben jetzt eben schneller als wir gestern gesagt, ganz spontan, was es sein könnte."

"Ein Kai? Eine Anlegestelle? Ein Hafen? Das hieße ja, daß diese Höhle vor langer Zeit einmal nur teilweise voll Wasser gewesen sein muß! - Macht das Sinn?"

"Sehen Sie sich ihr Modell an! Da sind mehrere horizontale Höhlenketten, die, teilweise mit Wasser gefüllt, schiffbare Kanäle abgeben würden!"

"Das ist ja phantastisch," sage ich, "eine historische Entdeckung!"

"Ihr wart ja beschäftigt!" murmelt Edwin zu uns herüber.

"War da noch mehr, außer dieser Kaikante? Gebäudereste? Andere Artefakte?"

"Nein, nichts."

"Was für ein Konzept," sage ich, mehr zu mir selbst, "das würde auf einen frequentierten Verkehrsweg hinweisen, zwischen der ..."

"Noch ist es zu früh." wehrt Amurdarjew ab, "Und das Kanalkonzept trägt auch nicht überall. Es sind noch zu viele Höhlenketten da, die so liegen, daß man sie nicht sinnvoll teilweise mit Wasser füllen kann. Und die Stelle, an der wir jetzt gleich ankommen, entspricht zum Beispiel mehr einem Schacht. Was soll man damit anfangen. Ich meine, wenn man ein primitiver Volksstamm ist und nicht über Technologie verfügt."

"Bevor der Herwig jetzt ganz aus der Hose fällt, sollten wir ihm aber sagen, daß diese Kante auch immer noch natürlich entstanden sein könnte!" bemerkt Cohäuszchen.

"Ist das wahr?" frage ich, "Ich bin kein Geologe."

"Im Prinzip. Außer der exakten Form der Kantenreste dieses - Kais - gibt es ja keinen Hinweis. Und andere Stellen haben wir bis jetzt auch nicht gefunden."

"Ist das alles, was gestern an interessanten Dingen passiert ist?"

"Ja. Sonst sind wir nur ein bißchen gekreuzt. - In diesem Höhlenarm waren wir schon, aber wir sind umgekehrt. Ich glaube, wir kommen jetzt an diesem Schacht an."

"Warum ist Wellington nicht gestern da eingefahren?"

"Er wollte einen ganzen Arbeitstag dafür haben."

"Aha."

Es wird 09:30 Uhr. Auf den Frontbildschirmen fällt der Boden der Höhle, der wir gerade folgen, in die Tiefe. Über diesem Abgrund kommen wir zum Stillstand. Die Tiefe ist immer noch 1700 Meter.

Ich beuge mich zu Natalie rüber: "Vergiß alles, was ich dir gestern über die Wirkungen des hohen Wasserdruckes gesagt habe - Es wird jetzt noch mehr, weil wir noch tiefer gehen!"

Sie sagt nichts - es ist nicht zu erkennen, ob ihr die Vorstellung unangenehm ist. Bei den anderen scheint das auch nicht der Fall zu sein - merkwürdig: Seit wir den möglichen Rückweg zerschossen haben und jedem bewußt sein sollte, daß es nur mit Schwierigkeiten möglich sein wird, je wieder zurück zu kommen, hätte man doch eigentlich erwartet, daß das die allgemeine Stimmung drücken wird. Aber das ist nicht der Fall.

Ich denke, daß das daher kommt, daß wir alle seit Monaten mit dem Gedanken vertraut gemacht wurden, auf diese Expedition in das Innere der Erde zu gehen. Zum zweiten schirmt uns die voll funktionsfähige CHARMION mit ihrem relativen Luxus von der Umwelt ab. Schließlich geht es uns hier drinnen genauso gut, als ob wir im Hafenbecken von Ullapool lägen. Nur Landgang ist nicht drin. Dafür sind wir anderweitig beschäftigt.

Plötzlich kommt mir noch eine ganz abwegige Idee: Wir haben den Rückweg gar nicht zerschossen. Es hat sich herausgestellt, daß man mit dem Boot die Höhlen doch wieder verlassen kann - aber da hatten wir die Zentrale schon wieder verlassen. Und weil wir uns einen großen Teil des drauf folgenden Tages nicht haben sehen lassen, hat uns niemand Bescheid gesagt. Ergo: Alle wissen, daß der Rückweg offen ist - nur wir nicht. Dann ist es natürlich kein Wunder, daß kein Jammern und Zähneklappern herrscht.

Ich nehme mir vor, das baldmöglichst nachzuprüfen. Jetzt direkt zu fragen ist wohl nicht sinnvoll - ich glaube nicht, daß wir der Wirklichkeit entsprechende Antworten bekommen.

Das Boot verharrt über dem Abgrund. Wir holen uns die Lotungen auf die Bildschirme. In jeder Sekunde wird das Modell der Höhlenketten genauer.

"Geht ganz schön tief runter." murmelt Edwin, "Könnt ihr irgend ein Ende erkennen?"

"Nicht in Reichweite der Lotimpulse." sagt Amurdarjew. Er bespricht sich mit der Brücke. Dann wendet er sich an uns:

"Tja, Wellington sieht keinen Grund, nicht reinzugehen."

"Und worauf wartet er noch?"

"Weiß ich nicht. Vielleicht ist er mal für kleine Jungs. Muß gleich losgehen."

Es dauert aber noch einige Minuten, bis wir auf den Bildschirmen sehen, daß die beleuchteten Höhlenwände beginnen, nach oben zu driften.

"Schön langsam - zehn Zentimeter pro Sekunde. Das wird noch lange dauern." sage ich.

"Solange dieser Schacht so maßgeschneidert ist. Seht es euch doch an: etwa oval, 20 Meter Durchmesser und wechselnd 80 bis 100 Meter lang." bemerkt Amurdarjew, "Als ob er für uns gemacht ist."

"Kann man das Boot auf die Spitze stellen, wenn es enger wird?" fragt Natalie. Es ist doch überraschend - die Frage hat auch schon in meinem Unterbewußtsein begonnen, sich zu formen. Aber Natalie hat sie formuliert, nicht ich.

"Nein." Carola's Stimme hört sich unwirsch an. Sie hätte einen anderen Tonfall aufgelegt, wenn ich das gefragt hätte.

"Wieso 'nein'? Woher willst du das wissen?" Ein bißchen muß ich Natalie zu Hilfe kommen.

"Ist doch klar! Poltert doch alles durch die Gegend, wenn das Boot sich zu sehr neigt!"

"Wir. Wir poltern durch die Gegend. Wenn wir uns nicht festhalten. Die schweren Maschinen sind alle solide mit dem Druckkörper verbunden. Die funktionieren in jeder Lage. Müssen sie ja, für den Notfall - wenn man sich mit dem Boot unabsichtlich auf den Kopf stellen sollte."

"Aber der Schwerpunkt des Bootes ist doch so niedrig ..." will Carola einwenden, aber da weiß ich besser Bescheid:

"Er ist niedriger als der Schwerpunkt des verdrängten Wassers - aber nicht viel. Und das kann man mit den Trimmtanks ändern. Das Boot braucht diese Manöverreserve - unsere ganze Lagestabilität kommt von der Rechnersteuerung. Wenn jetzt alle Rechner ausfallen sollten - oder sagen wir mal, nur die Lageregelung - dann kann sich das Boot in jede Position drehen!"

Natalie sieht beunruhigt drein. Ich muß ein paar beruhigende Worte hinzufügen:

"Aber das muß man sich nicht so vorstellen, als ob in der Sekunde, wo die Rechnersteuerung ausfällt, sich das Boot auf den Kopf stellen würde. Die momentane Trimmung hat das Boot ja auf ebenem Kiel gehalten. Und die würde sich nur verändern, wenn wir alle anfangen, durch das Boot zu laufen und Dinge hin- und herzutragen. Oder anfangen, die Trimmtanks manuell umzupumpen."

"Nein, Herwig, ganz richtig ist das nicht!" sagt Günther Cohausz, "der Lagesteuerung steht es frei, auch die externen Propeller zur Lagesteuerung zu benutzen!"

"Jetzt willst du wohl zeigen, daß du es besser weißt! - Natürlich stimmt das, was du sagtst. Im Prinzip. Das wird aber nur vorübergehend gemacht. Der Rechner bemüht sich, das Boot so schnell wie möglich wieder statisch auszutrimmen, weil das dann weniger Energie verbraucht. Ohne die externen Propeller. - Aber um auf die Frage von Natalie zurückzukommen. Ja, es geht tatsächlich. Aber es ist aufwendig, denn es ist eigentlich nicht als normales Manöver vorgesehen. Man muß vorher im ganzen Schiff alles festlegen, was lose rumliegt. Und während eines solchen Manövers muß sich natürlich jeder in einem Sitz anschnallen."

"Und wenn man in der Kabine ist?" fragt Natalie.

"Sollte man wohl wach sein. - Aber weil unsere Kabinen so klein sind, kann man dort gar nicht die Fallhöhe erreichen, um sich ernsthaft zu verletzen."

"Besonders, wenn man zu zweit in der Kabine ist!"

"Günther! Du strapazierst unseren Langmut!"

Eine Weile betrachten wir wieder die Wände des Höhlenschachtes. Sie sehen völlig natürlich aus. Amurdarjew wird wahrscheinlich mehr fachliche Beobachtungen machen können, aber nichts davon scheint aufregend zu sein - sonst würde er es uns sagen. Es ist jetzt 10:20, und wir haben eine Tiefe von 1900 Metern.

"Ein Kaffee wäre jetzt recht." stelle ich fest und sehe niemanden dabei an.

"In unserem Labor in der Firma hatten wir immer eine Kaffeemaschine - hier müßte sich jemand in Richtung Kantine aufmachen. - Tja." Das war Edwin. Sieht nicht so aus, als ob er dabei an sich gedacht hat.

Da steht die Gabi Gohlmann auf: "Ich hole welchen. Wer will?"

"Halt!" Die Carola schneidet ihr fast das Wort ab, "Du willst doch nicht für diese Chauvis das Dienstmädchen machen?"

Gabi setzt sich wieder. Sie ist unsicher.

"Also für mich ist das da draußen zu interessant. Ich gehe jetzt nicht." stelle ich fest.

"Das habe ich mir fast gedacht." stellt Carola fest.

10:40 Uhr. Tiefe etwas über 2000 Meter. Wir haben immer noch keinen Kaffee. Aber die Diskussion, wer Kaffee holen sollte, zieht sich hin.

"Halbe Werftgarantie. Über 2000 Meter jetzt." sage ich, um das Thema aufzulockern. Dabei lasse ich mich weiter in den Sessel sinken.

"Na und?" sagt Edwin.

"Wir haben noch lange Zeit, bis wir bei 4000 Meter sind. Dann können wir anfangen, uns aufzuregen.

"Der Schacht wird enger." sagt Amurdarjew, "vielleicht werden wir uns deshalb bald aufregen."

"Kaum. Wenn's nicht weitergeht, dann fahren wir eben wieder zurück."

Er hat zwar recht. Aber in Längsrichtung wird der Schacht dafür weiter. Manchmal sind es über 200 Meter, und manchmal ziehen sich Felsspalten weiter weg als man sie mit der Echolotung erfassen kann. Das Radar kommt ganz genauso nicht überall hin, und mit der visuellen Inspektion sieht man erst recht nicht alles, was weiter entfernt ist.

Die Felswände werden unregelmäßiger. Ich weise darauf hin, daß ich diesen Trend auch in dem allerersten Schacht, in dem wir erst in diese Höhlen eingefahren sind, festgestellt habe.

Amurdarjew nickt. Aber er hat dafür keine Erklärung. Noch nicht.

Plötzlich steht Natalie auf, ganz plötzlich. "Ich hole uns Kaffee. Wer?"

"Ätsch!" sage ich zu Carola. Sie braucht einen Moment, um Position zu beziehen. Persönliche Antipathie gegen Geschlechtszugehörigkeitssolidarität.

"Und du läßt dich einfach so bedienen." sagt sie. Da sie keine klare Aussage über Natalie machen kann, bin ich eben dran.

"Ja." sage ich.

Cohäuszchen sieht ihr nach. "Sags nicht!" warne ich.

"Was denn?"

"Was du vorhattest zu sagen. Sags nicht!"

"Was wollte ich denn sagen?"

"Ich weiß es nicht."

"Ich wollte nur sagen, daß ihr grün auch steht. Das darf ich doch, oder?"

So, wie er 'grün' und 'auch' betont, ist es eine Unverschämtheit. Ich geb's auf.

11:00 Uhr. Tiefe 2150 Meter. Wir schlürfen unseren Kaffee. Niemand spricht.

Der lange, jetzt sehr unregelmäßige Schacht macht seitliche Versetzungen. Kein Wunder, daß die dadurch verursachten zusätzlichen Reflexionen die Echolotung so sehr erschweren. Auf unseren Bildschirm vervollständigt sich die rechnerbasierte Darstellung des Höhlensystems langsam weiter. In der rotierenden 3-D-Darstellung kann man gut erkennen, wie der Schacht sich windet.

Dann weitet sich der Schacht plötzlich wieder. Die Wände treten fast zweihundert Meter auseinander. Langsam schweben wir um 20 Minuten nach 11 Uhr in eine Höhle ein, deren durchschnittlicher Durchmesser etwa 220 Meter ist und die eine sehr unregelmäßige Form hat. Spalten und Gänge gibt es in mehrere Richtungen, auch nach unten - die aber sind für das Boot alle zu klein.

Als diese Tatsache deutlich wird, sagt Carola: "Sackgasse. Da müssen wir wohl zurück."

"So schnell nicht," sagt Amurdarjew, "Wir müssen die Höhle sehr genau absuchen, um sicher zu sein, das es wirklich nirgends weitergeht. Ich fürchte, das wird uns den Rest des Tages beschäftigen. - Das wird noch sehr langweilig heute."

So um kurz vor 12 Uhr kommt das Boot dicht über den Klippen auf dem Boden der Höhle zum Stillstand. 2500 Meter Wassertiefe.

"Mittagspause!" hören wir die Stimme Wellingtons über die Rundspruchanlage, "Es ist Punkt zwölf. Um ein Uhr machen wir weiter."

Gerade wollen wir uns erheben. Da springt plötzlich auf jedem Bildschirm eine Mitteilungsbox auf, die die vorhandenen Fenster überlagert:


        PRO-UNIX - SYSTEM ADMINISTRATION

        CRASH PRIORITY MESSAGE

        SYSTEM SHUTDOWN IN 12 MINUTES

        PLEASE CLOSE YOUR APPLICATIONS,

        OR YOU MAY DAMAGE YOUR FILES!

Und die Mitteilungsbox blinkt, als wolle sie in uns allen einen epileptischen Anfall auslösen.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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