Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


******** ********

24. Defensiv-Manöver

Die Kantine ist in dieser Freistunde ziemlich voll, und ich brauche eine Weile, um mir mein Fertiggericht warmmachen zu können. Dann komme ich gegenüber von Gabi Gohlmann zu sitzen. Es ist nichts von dem Wellenschlag auf die Hülle der CHARMION zu bemerken, weil das Boot in etwa zehn Meter Tiefe getaucht ist und diese Position beibehält. Wie üblich liegt das Boot so ruhig wie ein Gebäude auf dem Festland.

"Wie geht's dem Haus?" frage ich, aus Höflichkeit und um von den unmittelbaren Problemen etwas abzulenken, "Schon abbezahlt?"

"Wo denkst du hin!" weicht sie aus, "Aber das kümmert mich jetzt nicht. Das läuft ja praktisch von selbst."

Sie sieht gut aus, in ihrer Bordkluft, denke ich. Manchen steht es mehr, manchen weniger. Dieses soldatische dieses Overalls ist ihrer Weiblichkeit nicht abträglich. Ob das an ihrer knabenhaften Figur und ihrer kleinen Statur liegt? - Ob jemand gut aussieht oder nicht wird nicht von rationalen Überlegungen entschieden. Es gibt einige Kriterien, von denen man mehr oder weniger weiß, daß sie mitwirken. Das ist alles. - Vielleicht liegt das bei Gabi auch daran, daß sie ihre verfügbare Kleidung häufig wechselt. Es gibt keinen Gewöhnungseffekt, selbst, wenn sie mal nach einigen Tagen wieder dasselbe trägt, was hier auf dem Boot unvermeidlich ist - eine Riesengarderobe kann ja niemand mitnehmen. Gabi hat eben den Bordoverall in ihre Kleidungsrotation mit einbezogen.

"Ich frage nur, weil ich mir überlege, was diese Spalte da jetzt finanziell bringt. Nach unseren Verträgen gibt es ja extra Prämien, wenn wir manche Dinge erreichen. Was ist aber, wenn wir nicht rauskriegen, ob diese Spalte etwas mit der Welthöhle zu tun hat oder nicht?"

"Ich dachte, das ist sicher?"

"Oh, Gabi! Es gibt soviele geologische Formationen. Da kann noch alles möglich sein. Und wenn, mal angenommen, wenn es mehr als eine Welthöhle gibt, und wir finden den Zugang zur falschen, was dann? Nach dem Buchstaben der Verträge kriegen wir dann keinerlei Prämien!"

"Steht denn in den Verträgen drin, daß genau die Welthöhle erreicht werden muß, in der ihr beiden wart?"

"Es ist schon eine Zeit her, daß ich den Text so genau gelesen habe. Bei Juristen muß man mit allem rechnen, weißt du!"

"Gut, daß wir keine an Bord haben!"

"Wieso?"

"Wenn du so von ihnen redest!"

"Würdest du mich denn verpetzen?"

"Vielleicht würde ich dich erpressen!"

"Dann würde ich behaupten, die Höhlen, die wir erreichen, noch nie zuvor gesehen zu haben! - Vielleicht gibt es ja zwei."

So flachsen wir eine Weile weiter. An ihrer Reaktion merke ich, daß sie, trotz der Schlucht da draußen, das Erreichen der Welthöhle für unwahrscheinlich hält, und zwar deshalb, weil sie spürt, daß ich auch nicht so richtig daran glaube. Dabei muß ich ihr meine physikalischen Vorbehalte gar nicht erklären.

"Mir wäre es recht, auch wenn wir nicht hinkommen. Es ist sowieso schon ein Abenteuer. Dies ganze Boot hier und so. So etwas erlebt man nur einmal im Leben."

Ob das, was sie sagt und wie sie es sagt, sie das von dem Verdacht, Adressat der Direktive q78q99q zu sein, reinwaschen kann? Aber sie ist intelligent. Sie würde mir auch etwas vormachen können.

"Für mich ist es mein zweites Abenteuer."

"Und für deine Frau a ... Entschuldigung."

"Macht nichts."

"Es ist mir nur so rausgerutscht."

Vielleicht grinse ich etwas zu schief: "Wenn du so willst - sie hat auch ihr zweites Abenteuer gehabt. Aber es war wohl nur den Bruchteil einer Sekunde lang." Ich denke noch einmal über das, was ich gesagt habe, nach, und finde es dann geschmacklos. Gabi läßt sich nicht anmerken, ob sie das auch so sieht.

"Wenn es wenigstens schnell ging." sagt sie.

"Schneller als bei der Challenger."

"Dem explodierten Space-Shuttle, vor 13 Jahren?"

"Ja. Die hatten noch etliche Sekunden zu leben. Heute weiß man das. - Wenigstens sind diese Astronauten nicht vorsätzlich umgebracht worden." Das letzte sage ich so leise, daß, außer Gabi, niemand es hören kann.

"Wieso? Wurde deine Frau denn vorsätzlich umgebracht?" Sie müßte anders reagieren, wenn sie etwas damit zu tun hätte, denke ich. Aber wer weiß in jedem Falle, wie Menschen reagieren? Ich relativiere deshalb so, daß sie, auch wenn sie etwas weiß, nicht auf die Idee kommt, das ich etwas weiß:

"Ja, natürlich. Von den Herstellern der Luft-Luft-Raketen an Bord des Duocopters. Die dürfen nicht einfach von selbst losgehen. Das ist eine unglaubliche Schlamperei!"

"Ach so meinst du das." sagt sie.

Plötzlich wird es wieder still im Raum. Erst denke ich, es ist wieder so eine aus statistischen Gründen zustandegekommene Pause, wie schon heute morgen. Aber das ist es nicht. Alle Köpfe sind herumgefahren. Alle sehen den Pater Palmer an:

Der hat sich soeben eine Zigarette angesteckt. Es war das Geräusch des aufflammenden Streichholzes, daß, so leise es war, alle anderen Geräusche im Raum vorübergehend zum Erliegen gebracht hat.

Nun dürfte es zwar einige Raucher an Bord der CHARMION geben, und im Prinzip ist die Luftreinigung auch leistungsfähig genug, damit fertigzuwerden. Trotzdem würde der Wartungsaufwand an Filtereinrichtungen ansteigen, und in den kleinen Volumina der Räume an Bord kann eine einzige Zigarette die Luft sofort gründlich verpesten, egal, was die Klimaanlagen durchschleusen.

Rauchen ist deshalb, wie auf allen U-Booten der Welt, verpönt, auch, wenn es nicht explizit in den Bordvorschriften und in unseren Verträgen drin steht. Sogar die Verwendung von Parfüms ist aus denselben Gründen nicht gerne gesehen.

Pater Palmer hat das wohl noch nicht gewußt. Bis eben. Nun sieht er alle Blicke auf sich ruhen. Und zwar sind das entweder die Blicke der Nichtraucher, die da sagen 'Schon wieder so ein Raucher, der...', oder es sind die Blicke der anderen, verhinderten Raucher, die da sagen: 'Wieso darf der das, wenn ich es nicht darf?'.

Augenblicklich drückt er die Zigarette aus. "Tschuldigung." murmelt er. Langsam kommt das allgemeine Gemurmel wieder in Gang.

Ich bemühe mich, die aufsteigende Antipathiewelle zu unterdrücken. Er hat seine Zigarette ja ausgemacht, und er wird es nicht wieder tun, jedenfalls nicht vor den Augen anderer. Raucher sind noch keine schlechten Menschen. Ja, einige der Menschen, die ich am allermeisten schätze, sind Raucher. Aber natürlich ist der Aufenthalt im selben Raum mit einem Raucher schwer erträglich - eigentlich überhaupt nicht erträglich. Und daß ein Raucher in fortgeschrittenerem Alter häufiger Krankheitsausfälle zeigt, die andere ja irgendwie kompensieren müssen, macht den Umgang mit ihnen auch nicht gerade leichter.

Ein Komilitone - lang ist's her - hat das einem Raucher gegenüber mal so ausgedrückt: 'Wenn wir beide zusammen in der Badewanne säßen und ich hätte Dünnschiß, würde dir das gefallen?' Ich fand den Vergleich sehr treffend und habe ihn in analogen Situationen Rauchern gegenüber immer mal wieder selbst gebraucht. Dabei stellt man schnell fest, wieweit Abstraktionsvermögen und Humor auf der Gegenseite reichen.

Ich habe den Vergleich gelegentlich noch präzisiert: Der Urin eines gesunden Menschen ist völlig steril. Also ist jemanden anzupissen auf jeden Fall weniger gesundheitsschädlich als Passivrauchenlassen. Bei diesem Vergleich hat nur ein einziger Raucher mir zugestimmt. Und weitergeraucht. Alle anderen waren stocksauer. Und haben auch weitergeraucht.

Dabei weiß ich, warum man raucht. Ich kann es schon verstehen. Die Anhebung der Assoziativität großer Neuronenareale durch Nikotin bewirkt ein schärferes Denken, ein rascheres Auffassen, ein schnelleres, geistiges Arbeiten. Das kann für einige Menschen den Unterschied zwischen Kreativität und stumpfer Tätigkeit bedeuten, so wie ich selber den Unterschied zwischen Wachheit und Müdigkeit empfinde. Wenn es all die Nebenwirkungen des Rauchens nicht gäbe, würde ich es deshalb ganz rational für mich in Betracht ziehen. Neurotransmitter-Engineering, so würde man es vielleicht nennen. Warum nicht?

Habe ich nicht, seinerzeit, aus ganz ähnlichen Gründen, getrunken? Der Alkohol wirkt etwas anders - die Assoziationen werden ein bißchen chaotisch und, am Anfang des Trinkens, steigt die Assoziativität auch. Bei mir jedenfalls. Da kommen Ideen, die sonst nie gekommen wären. Die Fähigkeit, solchen Ideen gezielt nachzugehen, schwindet aber in demselben Maße, und gerade dieser Effekt wurde im Laufe der Zeit immer deutlicher. Das war der Grund, daß ich vor etwa 20 Jahren den Alkohol für lange Zeit aus meinem Leben verbannt habe. Der Preis war einfach zu hoch.

"Trinkst du eigentlich wieder?" fragt Gabi.

"Kannst du Gedanken lesen?"

"Wieso?"

"Gerade habe ich an Nikotin- und Alkoholsucht gedacht. An Ähnlichkeiten und an Unterschiede. Was soll das eigentlich heißen, 'Trinkst du eigentlich wieder'?"

"Du hast doch in deinem Buch von dieser zehnjährigen Wette geschrieben! Zehn Jahre ohne Alkohol - die ganzen Achtziger Jahre."

"Habe ich das? Ist mir völlig entfallen. Vielleicht sollte ich mein Buch mal selber lesen."

"Weißt du denn nicht mehr, was du geschrieben hast?"

"Ne. Nicht in Einzelheiten. Wenn man tatsächliche Gegebenheiten beschreibt, dann braucht man sich nicht soviele Fakten zu merken, die man sich ausgedacht hat. Dann weiß man nachher aber auch nicht mehr, welche von diesen Fakten nun tatsächlich ihren Weg in den Text gefunden haben und welche nicht. Bei einem Roman wäre das anders, da muß man sorgfältig Buch darüber führen, was geschehen und was gesagt worden ist. - Was habe ich denn geschrieben?"

"Na, daß du diese zehn Jahre gar nichts getrunken hast, und danach nur sehr sporadisch,"

"So stimmt das auch. Ganz genau so."

"Vermißt du es nicht?"

"Vermisse ich Fieber? Zahnschmerzen? Durchfall? Kopfschmerzen? Müdigkeit? Afterjucken? Bauchschmerzen? Herzschmerzen? Magenschmerzen? Morgens den sauren Geschmack in der Speiseröhre?"

"Das ist doch etwas anderes!"

"Nur graduell. Beim Alkohol fängt alles mit einer - kleinen - 'Initialeuphorie' an. Danach kann man all den anderen Scheiß haben."

"Also trinkst du nicht mehr?" stellt sie fest.

"Nein. Aber vielleicht nicht aus Gründen meines überlegenen Charakters - so etwas habe ich nämlich nicht. Sondern, weil ich das Glück habe, daß meine Gesundheit schnell genug Schaden nimmt, wenn ich es doch tue, und weil ich Angst vor den Spätfolgen habe!"

Nach einer Pause, in der ich den Mund zu voll hatte, um etwas zu sagen, rede ich weiter: "Außerdem: Niemand - Niemand! - ist autorisiert, sich über Alkohol oder Drogen kompetent zu äußern, solange man nicht selbst von diesem Problem gestreift wurde. Deshalb bedauere ich es nicht, mal getrunken zu haben. Ich habe ja gewonnen! Ich habe den Feind gesehen, bin rechtzeitig weggelaufen und habe so gewonnen. Was will ich mehr? - Man wird stärker dadurch. Man hat eine 'Kinderkrankheit des Gemütes' durchgemacht. Das gehört dazu, zum Leben. - So wie die Liebe und der Tod dazugehört."

Gabi denkt über das letzte lange nach. "Aber du hast das Problem doch nicht. Warum fragst du?" frage ich, als sie nichts sagt.

"Ich kannte mal jemanden ..." sagt sie und stochert in ihren Essensresten.

Aha, denke ich. Ich weiß, wann ich das Thema nicht weiter verfolgen sollte.

"Wo warst du eigentlich, ich meine, vorhin?" frage ich, als ich merke, daß es auf 14 Uhr zugeht. Außerdem will ich das Thema wechseln - auch Irene hatte mal mit dem Alkohol zu tun, und daran will ich jetzt nicht denken.

"Hier. Ich habe mir alles auf dem SISC angesehen."

"Du kannst zu uns nach oben kommen, in unseren Arbeitsraum. Da ist mehr Platz, und wir können auf mehr Bildschirmen mehr zur gleichen Zeit sehen."

Ein paar Minuten später sind wir alle wieder oben: Gerald Amurdarjew, Carola und Edwin, dann Gabi und ich. Kaum, daß wir unsere Plätze eingenommen haben, kommt noch jemand vom Niedergang zur Kantine zu uns hoch: Der Pater.

"Darf man sich zu Ihnen setzen?" erkundigt er sich höflich.

Carola ist am schnellsten: "Sie dürfen. Wohin Sie wollen. Können Sie mit diesen Geräten umgehen?"

"Nein!" sagt der Pater, "Ich verwende zwar einen PC bei meinen Studien. Aber diese Geräte scheinen ganz anders zu sein. Ist das Windows?"

"So etwas ähnliches," sage ich, "diese Geräte können etwas mehr als ein PC. - Sie sagten 'bei Ihren Studien'?"

"Ja."

"Forschungsarbeiten?"

"Ja. Aber Sie würden es nicht so nennen."

"Was sind denn das für Forschungsarbeiten?" frage ich, halb höflich, halb interessiert.

Wir werden von der Stimme Wellingtons unterbrochen, die durch alle Räume dringt: "Bevor wir uns wieder der Schlucht nähern, wollen wir den Meeresboden im Umkreis von einigen Kilometern begutachten. Ich bitte um die übliche Aufmerksamkeit!"

"Wir werden hier zum Sehen und Staunen spazieren gefahren!" murmelt Amurdarjew. Ich weiß nicht, ob das kritisch gemeint ist - vielleicht will er lieber so schnell wie möglich einige Blicke auf die Schlucht werfen anstatt noch weiter den unberührten Meeresboden anzustarren.

Der Pater blickt verwirrt. Er weiß nicht, ob er meine letzte Frage noch beantworten soll. Ich baue ihm eine Brücke:

"Wenn der Alte gründlich genug ist, dann können Sie noch ihre ganze Doktorarbeit vorlesen, bevor wir diese Schlucht wieder zu sehen bekommen!"

"Ich beschäftige mich mit Eschatologie." sagt der Pater jetzt.

"Mit der was?" fragt Edwin.

"Das ist die Lehre vom Endschicksal des einzelnen Menschen und der Welt." erklärt der Pater.

"Das ist vielleicht für einen Theologen etwas anderes als für einen Physiker!" sagt Edwin und sieht mich an, "Herwig sieht immer rot, wenn sich ein Theologe zu solchen Themen äußert!"

"Das stimmt gar nicht," sage ich schnell, "ich bin schon völlig zufrieden, wenn man mich nicht totschlägt, bloß, wenn ich mal das Wort 'Darwin' in den Mund nehme!"

Jetzt ist der Pater sehr unsicher. Ich nehme an, daß er erst vor kurzem dazu aufgefordert wurde, sich dieser Expedition anzuschließen. Vielleicht hat er nicht einmal mein Buch gelesen, wie es jeder andere hier hat tun müssen, und auch vieles von dem Vorwissen, daß wir anderen uns in München schon angeeignet haben, wird ihm fehlen. Vielleicht hat er auch gar keine genaue Vorstellung von seiner Aufgabe an Bord. Am besten, ich frage ihn direkt danach:

"Bitte entschuldigen sie, ich - Toleranz ist nicht meine Stärke. Mein Fehler. Aber die Kirchengeschichte sprüht auch nicht gerade vor Toleranz - deshalb bin ich da immer etwas auf dem Sprunge, mich gegen Angriffe zu verteidigen, die vielleicht gar nicht beabsichtigt sind. Entschuldigen sie bitte. - Seit wann wissen Sie denn, daß sie auf dieser Expedition dabei sind?"

"Ich habe keinen Angriff vorgehabt," beantwortet der Pater meine erste Frage, "und die Weisung, hier teilzunehmen, erhielt ich am letzten Freitag."

"Am letzten Freitag!" sagt Edwin, "An dem Tag, an dem Herwig's Frau umgekommen ist! Dann wissen Sie es ja nicht länger als wir, daß Sie mitkommen!"

"Wessen Frau ist umgekommen?" fragt der Pater.

"Das spielt jetzt keine Rolle," sage ich, "wir haben Anweisung, uns der Aussicht zu widmen. Gilt für alle, Herr Kollege Daum!"

Während wir geredet haben, hat das Boot seine Position verlassen und ist tiefer hinabgetaucht. Der Meeresboden kommt langsam wieder in Sicht der Scheinwerfer. In ovalen Schlingen, die immer weiter werden, führt uns Wellington im Uhrzeigersinn um die Schlucht herum. Zu Anfang sehen wir sie noch auf den Bildschirmen derjenigen Kameras, die rechts raussehen - ein grundloses, dunkles Etwas auf dem Meeresboden, hinter einem heller erleuchteten, abschüssigen Hang im Vordergrund. Dann führt der Weg nur noch über den Meeresgrund, der in geringer Entfernung völlig unberührt aussieht, so, als hätte es nie in unmittelbarer Nähe diesen Einbruch des Meeresbodens gegeben. Alles, was die Kameras je aufnehmen, wird in digitalisierter Form in den Rechnern gespeichert. Wir wissen, daß wir uns alles noch einmal ansehen können, wenn wir wollen. Jedes Pixel.

"Es ist immer noch viel COzwei im Wasser gelöst." stellt Amurdarjew fest, "Komisch. Ich glaube nicht an vulkanische Gase und dergleichen. Nicht hier."

"Aber es wird weniger, je weiter wir uns von der Schlucht entfernen." stellt Edwin fest. "Ist doch zu erwarten." sage ich.

"Ist das immer Kohlendioxid? Vulkanische Gase, meine ich?" fragt Carola.

"Eigentlich nicht," sagt Amurdarjew, "Meistens ist es ein Gemisch von sehr vielen Dingen: Schwefelwasserstoff, Schwefeldioxid, Wasserdampf, Stickoxide vielleicht auch - von allem etwas. Ist bei jedem Vulkan und jedem Geysir und jeder Fumarole anders."

"Der Körpergeruch der Erde!" ergänze ich, aber dann geht mir auf, daß das weder eine geistreiche noch eine witzige Bemerkung war.

Eine Weile sagt keiner was, aber dann beugt sich Amurdarjew vor:

"Zu erwarten: Die Abnahme der Kohlendioxidkonzentration: ja. Die Metallmasse da: nein."

Ich sehe mir das Störecho an. Etwa 1500 Meter südlich von uns ist etwas, was Radarwellen reflektiert. Dabei sind unsere Sendeantennen gar nicht in die Richtung gerichtet, und Seewasser ist durchaus nicht das beste Medium, Radarwellen ungestörte Ausbreitung zu ermöglichen. Also muß es eine ordentliche Masse sein - eine steile Flanke eines Hügels, oder ...

"Ein Wrack," sage ich, "es wird ein Wrack sein. Das ist eigentlich schon zu erwarten. Zehntausende von Schiffen liegen auf dem Meeresgrund aller Meere. Vielleicht Hunderttausende."

"'Peter Moosleitner's Interessantes Magazin'!" bemerkt Edwin, "Den Artikel habe ich, glaube ich, auch gelesen."

"Ich lese gelegentlich auch richtige Fachliteratur!" pariere ich, "Nicht nur 'Frau im Spiegel'!"

"Mmh." sagt Amurdarjew, ohne auf unser Geplänkel zu achten. Da die CHARMION sich spiralig von der Schlucht mit der geringen Geschwindigleit von sechs Knoten entfernt und jetzt eine Entfernung von 2500 Meter von dieser hat, werden wir das Echo wiederfinden, wenn wir die Schlucht noch einmal umrundet haben. Das wird fast eineinhalb Stunden dauern. Das ist Amurdarjew zu lang. Er greift zum Interkom:

"An Kommandant: Da ist etwas Auffälliges, etwa vier Kilometer südlich von der Schluchtmitte." Er sagt nicht, daß er dahin möchte. Verläßt er sich darauf, daß Wellington auch neugierig ist, oder hofft er es nur?

Wellington ist neugierig. Langsam dreht die CHARMION nach Süden ab. Knapp eine Viertelstunde später sind wir da.

"Die haben es hinter sich." sagt Edwin. Er sieht angestrengt auf die Bildschirme, wie alle anderen auch. "Seit mehr als 50 Jahren."

Gabi beißt sich auf die Unterlippe. "Ob sie noch drin sind?" fragt sie.

Das Boot ist ein deutsches VIIC-Boot aus dem zweiten Weltkrieg. Weil wir seit Monaten gewußt haben, daß wir auf eine Unterseefahrt gehen werden, haben wir viel über die Geschichte des U-Boot-Baus gelesen und Bilddokumentationen gesehen. Über ein Boot dieses Typs hat der Buchheim nicht nur seinen Roman verfaßt, sondern auch einige Bildbände veröffentlicht: Kriegsberichtsfotos. Deshalb erkenne ich es genau wieder.

Da ist der Turm. Der Wintergarten mit dem kleinen Geschütz - stellenweise behangen mit faserigem Gewächs. Die Grätings oben auf dem Druckkörper. Die Satteltanks. Die CHARMION liegt jetzt parallel zu dem anderen Boot, etwas höher, aber sonst Breitseite an Breitseite.

Es ist nur ein Wintergarten und keine zwei, wie man es später gemacht hat, um versuchsweise die Luftverteidigung von aufgetauchten U-Booten zu verbessern. Daraus, und aus der Tatsache, daß so ab März 1941 die Lage für die deutschen U-Boote schwer und wenig später katastrophal wurde, weil der U-Boot-Krieg praktisch verloren war, spricht alles dafür, daß dieses Boot wahrscheinlich um 1941 gesunken ist, keinesfalls später als 1943.

"58 Jahre." sage ich nur, "Seht ihr irgend eine Beschädigung am Rumpf?"

Amurdarjew bastelt mit den Kontrollfeldern seines Echolotes herum. "Aber es ist voll Wasser. Keine einzige Luftblase."

"Wie sollte auch - nach der langen Zeit!" sage ich, "Das Turmluk ist aber zu. Kombüsenluk und Torpedoluk auch. Sie sind nicht ausgestiegen."

"Das heißt, sie sind noch drin?" fragt Gabi besorgt.

"Ich glaube ja."

Der Pater bekreuzigt sich.

"Das hätten sie vor 60 Jahren tun sollen, anstatt so reibungslos mit den Nazis zusammenzuarbeiten!" sage ich grob.

"Herwig, das ist doch unmöglich, wie du dich jetzt benimmst! Was kann denn Herr Palmer dafür?" Carola ist sauer.

"Habt ihr nicht genug Phantasie, euch vorzustellen, wie die da drinnen ersoffen sind?"

"Deshalb ist er noch lange kein Mittäter! Persönlich schon gar nicht - damals war keiner von uns geboren."

Ich hole ein paarmal tief Luft. Der plötzliche Ärger flaut wieder ab.

"Entschuldigen Sie," sage ich zu Palmer, "Sie sind nicht Rechtsnachfolger der ganzen Organisation, der Sie angehören. So wie wir ja nicht Rechtsnachfolger der Nazis sind. - Aber wir sind in einem U-Boot, und die da waren es auch. Die beiden Boote sind annähernd gleich groß."

Die CHARMION wird noch auf die andere Seite des Bootes manöveriert. Auch dort dasselbe Bild: Nirgends eine sichtbare Beschädigung. Die Torpedoklappen sind geschlossen. Das Boot liegt mit nur leichter Schräglage auf Grund.

"Wahrscheinlich," sage ich, "gibt es ein größeres Leck unter der Verkleidung, so daß wir es nicht sehen können. Kann man das mit dem Echolot irgendwie feststellen?"

"Ich finde nichts." sagt Amurdarjew, "aber auch durch ein sehr kleines Leck kann ein Boot rasch vollaufen."

"Was ihnen wohl passiert ist?" fragt Gabi.

"Das werden wir nie wissen. Ich weiß nicht einmal, ob es hier, im Minch, Geleitzüge gegeben hat, die das Ziel deutscher U-Boote waren. Was sonst hätte ein U-Boot hier zu suchen gehabt? - Vielleicht haben sie versucht, einer Wasserbombenverfolgung zu entgehen. In dieser Tiefe ist dann irgend etwas gebrochen - vielleicht die Abluftklappen für die Diesel. Irgend so etwas. Ein armdicker Strahl in fast zweihundert Metern Tiefe - das macht keiner mehr zu."

"Wie tief ist den das Boot in dem Roman gewesen?" fragt Edwin.

"In dem Roman von Buchheim, die Sache vor Gibraltar? 280 Meter glaube ich. Aber die haben ein Schweineglück gehabt. Und eine gute und eingespielte Mannschaft. Wenn du's gelesen hast, dann weißt du ja, daß sie es nur gerade eben geschafft haben. - Die hier haben es gerade eben nicht geschafft."

"Ich glaube, ich möchte nach Hause!" sagt die Gabi.

"Nanana! Wir sind doch nicht in derselben Gefahr. Nicht dieses Boot. Uns bewirft niemand mit Wasserbomben. Und unsere Werftgarantie ist ein bißchen mehr als die von dem Boot da. Das ist so, als ob du ein Stahlrohr mit einer Toilettenpapierrolle vergleichst."

Gabi sieht nicht überzeugt aus.

"Selbst, wenn wir uns vor fast 60 Jahren hier aufgehalten hätten, könnte uns in diesem Boot kaum etwas passieren." fahre ich fort.

"Allerdings hätten wir mit diesem Boot auch keine der Kriegsparteien besonders beeindrucken können." meint Edwin, "Nicht mit diesen kleinen Torpedos."

"Vielleicht," sage ich, "ein kleines Loch in eine Schiffswand müßte man schaffen. Aber etwas anderes kommt mir in den Sinn: Wenn wir hier gewesen wären, als dieses Boot da abgesoffen ist - was hätten wir tun können?"

"Hätte man sie nicht heben können?" fragt Gabi erstaunt.

"Wenn ihnen nur einige Tonnen Auftrieb gefehlt hätten, dann gerade eben noch. Wenn das Boot schon zu weit vollgelaufen wäre, dann nicht mehr - ein paar hundert Tonnen zusätzlichen Auftrieb kann die CHARMION nicht erzeugen, wenn man nicht lebensgefährliche Experimente mit den äußeren Tauchtanks machen will. Aber das ist nicht der Punkt: Womit hätten wir dieses Boot da greifen sollen, um es zu heben? Die CHARMION ist darauf eingerichtet, tief zu tauchen und zu beobachten. Ein bißchen schießen kann sie auch, aber da war dieses andere Boot da schon besser ausgerüstet. Aber was sonst können wir noch?"

"Du meinst, wir hätten nichts tun können? Gar nichts?"

"Genau das meine ich. Wir hätten zusehen können, wie sie absaufen. - Da, mit diesem Echolotrelief hätten wir sogar Bewegungen in dem Boot nachweisen können, je mehr Wasser drin war, desto besser. Wir hätten die letzten Zuckungen der Besatzung aufzeichnen können. Aber wir wären nicht in der Lage gewesen, ihnen zu helfen."

"Du hast eine perverse Phantasie." stellt Carola fest. Amurdarjew bespricht sich mit der Zentrale. Wir entfernen uns allmählich wieder von dem gesunkenen U-Boot.

"Das ist keine perverse Phantasie. Ich hoffe, wir werden nicht in die Lage kommen, externe Greifvorrichtungen jemals zu brauchen."

"Und warum haben wir so etwas nicht?" fragt Edwin.

"Ich kann das nur vermuten. Man hätte etwas bauen können, so wie unsere Antriebsaggregate. Sogar etwas, was sich kaum abnutzt, natürlich ohne jede Durchführung durch den Druckkörper, außer Elektrizität. Aber wahrscheinlich war für diese Entwicklung nicht mehr genügend Zeit, oder die Notwendigkeit wurde nicht gesehen - oder nicht rechtzeitig gesehen. Was weiß ich."

Allmählich verschwindet das Boot wieder aus dem Blickfeld. Plötzlich kommt wieder Wellington's Stimme über die Lautsprecher:

"Es ist jetzt 15 Uhr und 50 Minuten. Das heißt, daß wir uns in bedrohlicher Weise dem Dienstschluß nähern. Trotzdem denke ich, daß es im Sinne von Ihnen allen ist, wenn wir uns die Schlucht noch einmal etwas genauer ansehen."

"Oh," sagt Gabi, "ich hatte schon gehofft, daß es diese Nacht noch einmal nach Ullapool zurückgeht."

"Am Wochenende, wenn nichts dazwischen kommt. Um jeden Tag zurückzufahren sind hier die Anfahrtwege schon etwas zu lang." sage ich.

Kurz nach 16 Uhr stehen wir wieder über der Schlucht. Amurdarjew hat viel zu tun: Die optischen Bilder der Außenkameras ansehen, die Reliefs der Echolotungen, Radar und so weiter. Das Boot wird so ausgerichtet, daß es genau über der Schlucht steht und mit dieser parallel ist. Der Bug zeigt also nach Norden. Dann beginnt das langsame Sinken mit nicht mehr als 10 Zentimetern pro Sekunde. Ich weiß, daß man ein so präzises Einhalten der Sinkgeschwindigkeit ohne die Rechner gar nicht erreichen könnte, egal, ob man die Regelzellen oder die externen Propeller oder beide in Kombination verwendet.

Um genau 16:15 Uhr sind wir auf der Höhe des Schluchtrandes, in 185 Metern Tiefe. Kurz darauf versperren uns die Schluchtwände die Sicht auf den umgebenden Meeresgrund, der ohne das Licht aus den Scheinwerfern der CHARMION wieder in völlige Dunkelheit zurückfällt - inzwischen ist nämlich das Tageslicht auch schon vergangen. In diesen Breiten wird es im Winter früh dunkel.

Ob man den Widerschein unserer Scheinwerfer an der Wasseroberfläche sehen kann - wenn da zum Beispiel jetzt gerade die Fähre zwischen Ullapool und Stornoway vorbeifahren sollte? Wenn, dann wird dieser jetzt verlöschen, wo wir in die Schlucht abtauchen, denke ich.

Die Felswände treiben rechts und links in 12 bis 15 Metern Entfernung langsam nach oben. Amurdarjew versucht, mit dem Echolot die Beschaffenheit dieser Wände zu ergründen.

"Hartes, massives Material," sagt er, "nur manchmal liegt auf einem Sims noch etwas Sand und kleineres Geröll."

"Wie tief geht es unter uns runter?" frage ich.

"Weiß ich noch nicht. Einige hundert Meter mindestens. Die Echos sind unklar."

"Oh."

Ich sehe der Gabi an, daß sie am allerliebsten wieder in Ullapool wäre. Auch Carola behagt der Gedanke nicht, in diesen Schlund der Erde einzufahren.

"Zum Einstürzen ist diese Schlucht zu stabil," sage ich, "es waren Ablagerungen in der Schlucht, die ins Rutschen gekommen sind - nicht die Schluchtwände selbst!" Carola sieht nicht wesentlich beruhigter aus. Was der Pater denkt, kann ich seinen Gesichtszügen nicht entnehmen.

16:30 Uhr. Tiefe 275 Meter, oder 90 Meter unter der oberen Schluchtkante. Die Wände sind einander auf 18 bis 20 Meter nähergekommen. Die Sinkgeschwindigkeit wird noch etwas gedrosselt. Lange Zeit sagen wir nichts, weil nichts Interessantes geschieht.

17:00 Uhr. Tiefe ist jetzt 500 Meter. 215 Meter unter der Kante. Die Schlucht hat sich leicht gedreht, so daß das Boot jetzt mit dem Bug nach Nordnordost zeigt. Die Wände sind einander auf 15 Meter nahegekommen. Immer noch ist es für den Rudergänger offenbar kein Problem, mit Computerhilfe die CHARMION ohne jede Wandberührung weiter in die Tiefe zu steuern.

Die Schlucht beginnt jetzt aber, etwas nach Osten abzubiegen, das heißt, die Ostwand wird ein Überhang und die Westwand ein normaler, sehr steiler Felshang. Es liegt jetzt immer mehr Geröll dort, insbesondere auch deshalb, weil beide Schluchtwände zunehmend unregelmäßiger werden. Schließlich sehen wir so große Felsen, die offenbar in labilem Gleichgewicht auf unregelmäßigen Simsen liegen, daß mir bei dem Gedanken, einer davon könnte sich lösen und beim Runterstürzen die CHARMION treffen, mulmig wird.

17:30 Uhr. Ich bin kurz auf der Toilette gewesen und habe versucht, mir vorzustellen, diese Toilette wäre in irgendeinem Gebäude auf der Erdoberfläche. Es hat mich nicht sehr beruhigt. Es war auch schwer, zu verdrängen, wo wir uns befinden, da ja auch auf den Toiletten ein Situation Screen ist.

Draußen zeigen sich inzwischen immer mehr Spuren des Erdrutsches, und die Schluchtwände sind einander zwischen 15 und 5 Metern nahe. Das heißt, es gibt immer wieder Stellen, wo die CHARMION nicht durch kann und wo wir um eine Bootslänge vor oder zurück müssen. Ohne Computerhilfe würden wir noch viel mehr Zeit brauchen. Die Tiefe ist jetzt 600 Meter.

Die Meßgeräte stellen auch Schwebestoffe, die noch von dem Erdrutsch übriggeblieben sind, im Wasser fest. Aber in den letzten Stunden haben sich die meisten davon schon wieder abgelagert, und die Sichtbehinderung ist unwesentlich - gerade, daß man vor dunklerem Hintergrund die Scheinwerferstrahlen im Wasser erkennen kann.

18:00 Uhr. Seit zwei Stunden diese zermürbende Sinkfahrt. Jetzt sind wir in 660 Metern Tiefe. Riesige Felsbrocken haben sich zwischen den Schluchtwänden verkeilt. Wellington hat zweimal über Lautsprecher verkündet, daß die Bewegungen der CHARMION so sachte seien, daß wir nicht befürchten müssen, etwas zum Rutschen zu bringen. Er sagte auch, daß wir uns jetzt einen Platz zum Übernachten aussuchen. Dabei habe ich Gabi angeschaut. Sie hat es schon vorher kommen sehen. Nichts mit Ullapool heute abend. Und Carola hat Schweiß auf der Stirn. Edwin ist unruhig, er ist aufgestanden und geht auf und ab. Der Pater hat seit einer Stunde kein Wort gesagt und nur den Bildschirm angesehen.

18:30 Uhr. 700 Meter Tiefe. Die Formen der Felsen rundherum sind sehr unregelmäßig. Ich kann jedenfalls nicht sagen, welche Felsen bei dem Erdrutsch bewegt wurden, und welche noch fest mit ihrer Umgebung verbunden sind. Wir haben jetzt auch dauernd Felsen über uns, und niemand weiß, wie fest diese liegen, und worauf.

Während der ganzen Zeit ist der Kohlendioxidgehalt des Wassers hoch geblieben. Es gab leichte Schwankungen im Salzgehalt, und Amurdarjew meinte, schwache Auf- und Abwärtsströmungen nachweisen zu können. Eine Erklärung dafür hat er nicht. Die Außentemperatur ist nur unwesentlich höher als oben auf dem Meeresgrund.

"Wahrscheinlich" sagt er, "ist es so, daß in dem lockeren Material Meerwasser mit einem anderen Salzgehalt drin war. Daher die Konzentrationsunterschiede. Die werden sich irgendwann ganz ausgleichen."

"Und warum" frage ich, "hat Meerwasser in diesem lockeren Material einen anderen Salzgehalt gehabt?"

Amurdarjew zuckt die Schultern. "Ionenaustausch. Wasser aus dem Boden. Ich weiß es nicht."

"Ich werde Dr. Cohausz fragen - der ist Chemiker." sage ich.

19:00 Uhr. 750 Meter Tiefe. Mir reichts allmählich. Jede halbe Stunde eine Bootslänge mehr nach unten. Die CHARMION bewegt sich so langsam, daß praktisch keine Wirbel auftreten können. Aber wir lesen auf dem SISC auch, daß ein ordentliches Ein- und Auspumpen in den Regelzellen erfolgt: Da sind deutliche Dichteschwankungen des Wassers - woher? Noch Nachwirkungen des Erdrutsches?

Wir fahren durch ein Felsentor, daß wie ein fast gleichseitiges Dreieck von 13 Metern Kantenlänge aussieht. Es ist im Moment der einzig mögliche Weg, wenn wir nicht zurückwollen - was jetzt genausoviel Zeit kosten würde. Die Seite, die den Boden dieses kurzen Tunnels bildet, ist mit Geröll übersät. Dann weitet sich dieser Tunnel wieder.

Inzwischen können wir nicht mehr sagen, daß dieses eine Schlucht ist. Wir haben echte Höhlen erreicht.

Ich sehe mir das Tunnelstück, durch das wir eben gekommen sind, auf dem Bildschirm an, der die Aussicht nach hinten raus zeigt. Mächtige Felsquader lehnen dort aneinander und bilden so das Tunneldreieck. Es sieht unstabil aus: Der eine Quader könnte unter dem anderen durchrutschen, und dann ist dieser Tunnel für uns zu. Aber warum sollte er das gerade jetzt tun?

Es sieht auch so aus, als ob man weiteren Höhlen folgen kann, wenn wir die derzeitige Richtung beibehalten. Aber das ist jetzt nicht geplant. Wir bleiben erst einmal hier.

Diese Höhle bildet hinter diesem Dreieckstor einen Dom, so daß das Boot höher steigen kann als die Oberkante des dreieckigen Einganges und auch höher als die Oberkante der weiterführenden Höhlen. Da Wellington das Boot jetzt für die Nacht ruhig legen will, möchte er das Boot in eine stabile Position bringen. Ich weiß nicht, warum er meint, daß das Boot im oberen Bereich dieser Höhle sicherer ist - vielleicht könnte ein erneuter Erdrutsch große Felsen durch den Eingang werfen, und die sollten natürlich am besten unter dem Boot hindurchrollen. Die Höhlendecke scheint vertrauenerweckend stabil.

Aber eine Überraschung steht uns noch bevor: als das Boot die Oberkante des Einganges erreicht hat, sinkt der Salzgehalt deutlich. Er entspricht nun gewöhnlichem Meerwasser mit einer Zumischung von 20 Prozent Süßwasser.

"Das ist interessant!" sagt Amurdarjew, "Ich glaube, wir haben es hier mit echten Süßwasserquellen zu tun, die wir natürlich noch finden müssen. Andere Erklärungen für dieses Konzentrationsgefälle gibt es nicht."

Als wir uns in Richtung Kantine bewegen, von der bereits lauteres Stimmengewirr zu hören ist, hat Edwin noch eine wichtige Frage:

"Was macht man hier an Bord eigentlich nach Dienstschluß?"

"Das ist eine berechtigte Frage." sagt Amurdarjew. "Vielleicht kann man die dahingehend beantworten, daß wir immer im Dienst sind, solange die Mission andauert."

"Außerdem gibt es viele Möglichkeiten," nehme ich den Faden auf, "zum Spielen sind jede Menge Computer da. Die Konzentration wird dir auch nicht abhanden kommen, weil Alkohol an Bord verboten ist, und die wenigen Damen an Bord sind vielleicht auch nicht in der Lage, ein bewegtes Nachtleben zu organisieren, so daß dich niemand ablenkt!"

"Tzzz!" macht Carola mißbilligend.

"Ich gehe ja nur die prinzipiellen Möglichkeiten durch!" sage ich. In der Kantine angekommen suchen wir uns freie Plätze.

"Eine der Möglichkeiten haben Sie vergessen!" sagt Amurdarjew, "jeder von uns kann zur Wache eingeteilt werden. Dann ist man auch acht Stunden lang beschäftigt."

"Womit?" fragt Gabi.

"Mit Nichtstun." sage ich, "Das ist verdammt anstrengend. Wirst schon sehen. Wir haben ja Bundeswehrerfahrung - also eine gezielte Ausbildung zum Zeittotschlagen. Aber für dich wird das neu sein!"

Esther Petersen betritt die Kantine und tritt sogleich an unseren Tisch heran. "Herr Homberg? Schöne Grüße vom II WO!"

Es hat sich angehört wie 'Zwei We-Oh'.

"Von wem bitte?"

"Vom zweiten Wachoffizier. Naja - vom zweiten Offizier halt!"

"Ich dachte, dies wäre ein ziviles Schiff." sage ich.

"Ist es auch. Aber manchmal kommt dieser alte Sprachgebrauch eben noch hoch. - Ich glaube, Wellington hat damit angefangen - der ist ja mal auf richtigen U-Booten gefahren. Marine steht eben auf Tradition."

"Was soll das denn heißen," frage ich empört, "'auf richtigen U-Booten'? Was ist dies denn für ein U-Boot?"

"Sie meint, auf militärischen U-Booten!" versucht Amurdarjew zu beschwichtigen. Esther Petersen sieht einen Moment verwirrt drein. Ich will die Wortwahl nicht weiter verfolgen.

"Und was," frage ich, "will denn der Herr Fahlenbeek von mir? Soll ich in die Zentrale kommen?"

"Das ist jetzt noch nicht nötig. Erst um Mitternacht."

"Warum das denn?"

"Der II WO teilt die Wachen ein. Sie haben heute nacht die Hundswache. Von Mitternacht bis morgens um acht Uhr."

Edwin lacht laut. Auch Carola scheint irgendwie schadenfroh zu sein - ein Zug, den ich an ihr noch nicht kenne.

"Hätte man das nicht früher erfahren können?"

"Jeder kommt mal dran."

"Das weiß ich. Das habe ich auch nicht gefragt. Ich meine, hätte man das nicht früher erfahren können, um sich drauf einzurichten? Vielleicht hätte ich mich dann noch etwas aufs Ohr hauen können!"

"Der II WO hat jetzt erst die Einteilung vorgenommen. Bis Mitternacht ist Amerlingen dran - der I WO. Der wird Ihnen dann zeigen, was man tun muß. Und morgen löst Sie der II WO selbst ab."

Esther dreht sich um und setzt sich an den Nebentisch zu ihren Kollegen vom nautischen Dienst, die unsere Diskussion die ganze Zeit amüsiert verfolgt haben.

"Gerade noch haben wir davon gesprochen!" grinst Amurdarjew. So lustig finde ich das im Moment nicht.

"Wieso ich - jetzt? Wieso gleich so zu Anfang?"

"Ich nehme an," sagt Amurdarjew, "daß jetzt erst einmal die wissenschaftlichen dran kommen, weil das Boot bis vor einigen Tagen nur von den Nautischen in Betrieb gehalten wurde."

Ich stehe auf. "Das sind noch viereinhalb Stunden. Ich will versuchen, vorher noch etwas zu schlafen. - Tja. Kein Nachtleben."

"Wieso?" fragt Carola, "Was, wenn nicht die ganze Nacht Wachsein, ist denn Nachtleben?"

"Carola, ich werde die ganze Nacht Vorschriften lesen. Wahrscheinlich darf der Wachhabende - so heißt das wahrscheinlich - bei Bedarf weitere Mitglieder der Besatzung wecken. Ich finde es schon. Und dann wird mir schon etwas einfallen!"

"Du hast doch schon Wacherfahrung, oder?" sagt Edwin dazwischen, "Da, auf diesen Schiffen in der Welthöhle! Dann kannst du es doch! - Und bitte keinen Alarm heute nacht, ja?"

Ich ziehe mich ohne weiteren Kommentar in meine Kabine zurück. Natürlich kann ich keinen Schlaf finden, so früh am Tage, und das ärgert mich dann wieder, weil ich weiß, wie ich mich in und nach einer durchwachten Nacht fühlen werde. Sollte gerade ich nicht bei heller Wachheit sein, wenn wir weiter durch diese Höhlen vorstoßen?

Um das Wecken kümmere ich mich nicht. Amerlingen wird schon einen Weg finden, mich aus der Koje zu schmeißen, wenn er selbst ins Bett will.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


Zurück zu meiner Hauptseite