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21. Auf See
Ich hatte es solange wie möglich hinausgeschoben, aber in dieser Nacht war ich das erste Mal vollständig in dieser lächerlich kleinen Kabine zuhause. Weil ich meine Sachen schon vorher eingeräumt hatte, blieb wenig zu tun übrig als sich schlafen zu legen.
Ausziehen und Klamotten verstauen geht in einem Volumen einer Telefonzelle. Dann Rumexperimentieren mit der Einstellung der Klimaanlage und der Beleuchtung - ich pflege bei Licht zu schlafen. Als ich feststellte, daß ich mir jede Temperatur und Luftfeuchtigkeit, die ich mir wünschen könnte, einstellen kann, war ich es zufrieden. Nicht einmal Fehlbedienungen waren möglich, man konnte zum Beispiel den Luftdurchsatz nicht versehentlich auf Null stellen, aber wer wollte, würde sich eine leichte Brise durch die Kabine wehen lassen können. Auch mit dem Waschen würde ich wohl bald soweit sein, instinktiv zu wissen, bei welchen Bewegungen man sich wo die Knochen anstößt und wie man die Verteilung der nassen und der blauen Flecken optimieren kann.
Dann kletterte ich in mein Bett hinauf. Als ich lag, fiel mir das erste Mal auf, wie still dieses Schiff war. Ich hörte weder etwas von Dr. Morton, die die Koje unter mir hatte, noch von Carola, deren Koje in der Verlängerung des Fußendes meiner Koje war, noch von Wellington, dessen Koje zwar in der anderen Kabinenzeile war, der aber nur einen Meter von mir entfernt schlief. Hervorragende Schallisolierung. Ich konnte mich also in der Koje hin- und herwerfen, wie es mir beliebte.
Ich überlegte mir, ob ich das Interkom ausprobieren sollte, um mit Carola zu sprechen, aber eventuell würde sie das falsch auffassen. Sie lag ja auch schon im Bett. Außerdem war ich zu müde.
Befriedigt stellte ich fest, daß mich der Gedanke, jetzt etwas mehr als zwei Meter unter dem Wasserspiegel zu schlafen, nicht im geringsten störte. Es hatte ja auch dauernd jemand Wache - demnächst auch ich, denn mit Beginn der eigentlichen Fahrt wird das wissenschaftliche Personal in solche Aufgaben mit einbezogen.
Im Einschlafen dachte ich an eine Kissenschlacht. Vielleicht war so etwas möglich, wenn man die Verbindungsöffnungen zwischen den Kabinen aufmontieren würde. Aber zum Werfen ist hier einfach nicht genug Platz. Ich erinnerte mich auch an eine Szene aus dem Film 'Manche mögen's heiß', in der ein halbes Dutzend echte Mädchen und ein nicht ganz so echtes in einem einzigen Bett eines Schlafwagens eine Party feiern - jetzt, in der Retrospektive, kommt mir das sehr geräumig vor.
Dann dachte ich daran, daß ich diese Nacht sowieso alleine geschlafen hätte - aber das Irene doch noch irgendwo gewesen wäre. Keinen Kilometer entfernt. Wenn ich eine Neigung zu Wirklichkeitsfluchten hätte, könnte ich jetzt versuchen, mir genau das einzubilden. Aber ich versuchte es nicht. Es wäre eine Art Verrat an Irene gewesen, ihren Tod so einfach wegzuleugnen. Und dann springt mich die Erinnerung wie aus einem Hinterhalt an, und ich liege wie erstarrt. Und trotzdem schlafe ich irgendwann ein.
Ein sanfter Glockenschlag. Der Situation Screen. Aufwachen, die Alpträume sind wieder weg, aber nicht die Erinnerungen an Tatsächliches. - Wenn ich doch dreißig jahre jünger wäre, und an dieser Expedition mit der Unbeschwertheit der Jugend teilnehmen könnte! Die Erwartung des großen Abenteuers - das geht nicht mehr so richtig. Oder liegt das daran, daß wir das große Abenteuer ja tatsächlich schon gehabt haben? Welche Steigerung ist noch möglich, wenn man tatsächlich schon in der Welthöhle gewesen ist?
Es ist 06:30 Uhr. Wer hat eigentlich entschieden, daß wir so lange vor dem Ablegen aufstehen müssen?
Eine halbe Stunde später bin ich in der Kantine. Sie ist brechend voll. Der größte Teil des wissenschaftlichen und des nautischen Personals ist da. Einigen sieht man die durchzechte Nacht an. Ich setze mich, nachdem ich mich mit einem Fertigfrühstück versorgt habe, zu Edwin und Carola, die mir einen Platz freigehalten haben. - Die Yay durch dumme Fragen zu ärgern, wie wir uns das gestern überlegt haben, dazu habe ich jetzt keine Lust. Außerdem sieht sie auch wie ein ungemachtes Bett aus - ein Blick auf jemanden, der gerade aufgestanden ist, zeigt, was für ein Widerspruch in sich der Begriff 'Schönheitsschlaf' ist.
"Was tun wir eigentlich - jetzt, wenn es losgeht?" fragt Edwin mit vollem Mund.
"Das ist in unseren Verträgen nicht sehr genau spezifiziert." sage ich, "Ich glaube, unsere Verträge sind da auch etwas unterschiedlich. Wenn wir hier mit dem Essen fertig sind, gehen wir in unser Labor hinauf, suchen uns einen bequemen Stuhl und schlagen die Zeit tot. Ihr beide werdet gebraucht, wenn irgend etwas mit der Bordsoftware schief geht. Solange nichts akutes anliegt, könnt ihr hacken oder knacken."
"Oder was?" fragt Edwin.
"Knacken! Umschreibung für 'Schlafen'! War das bei euch in euren Einheiten früher nicht üblich?"
"Ich war nicht beim Bund!" sagt Edwin.
"Ach so. Carola vermutlich auch nicht. Naja. Es reimte sich ja nur so schön. - Also. Ihr steht in Lauerstellung. Ich eigentlich auch, aber bei mir ist es mehr die Kenntnis der Welthöhle. Ich habe also eigentlich überhaupt nichts zu tun. Erstmal. - Ja, und dann - verschiedene Routinetätigkeiten an Bord werden ausschließlich vom nautischen Personal erledigt, so daß wir damit nichts zu tun haben - ja, und dann habt ihr sicherlich schon gemerkt, daß alle bei Wacheschieben drankommen. Das sind immer acht Stunden. Wenn man die acht Stunden von Mitternacht bis acht Uhr morgens hat, dann kann man den darauffolgenden Tag durchschlafen."
"Den ganzen Tag lang?" fragt Edwin.
"Natürlich - außer, wenn etwas besonders Dringendes vorliegt. Aber ich wette, daß du in diesen Kabinen ruhiger schlafen kannst als bei dir zu Hause, wo vier Kinder über dich hinwegturnen!"
Fast hätte ich mir die Zunge abgebissen - zwei Plätze weiter sitzt Dr. Solzbach, der seine Familie bei diesem Verkehrsunfall verloren hat. Er kann uns hören. Da sollten wir vielleicht das Gespräch nicht gerade auf Familie und Kinder bringen. Aber er scheint nicht zu reagieren und beschäftigt sich mit großem Ernst mit seinem Frühstück, als ob es das Wichtigste auf der Welt ist. Vielleicht ist es das für ihn im Moment auch. Vielleicht, wenn man vergessen will - wie ich in diesem Moment Irene. Ich schiebe den Gedanken rasch weg.
"Also," fahre ich fort, "ich lasse es auf mich zukommen. Alte Erfahrung: Niemals vordrängeln, wenn man glaubt, man hätte nichts zu tun und jeder dürfe das wissen. Dann dauert es nicht lange, und man hat zu tun. Ihr wißt doch: 'Geh nicht zu deinem Fürst, wenn du nicht gerufen würst.'"
Einen Moment reden wir wieder nichts, weil bei ungefähr dreißig Personen manchmal ein interessanter Effekt eintritt, der bei wesentlich mehr Menschen schon nicht mehr möglich ist: Zufällig sagt in einer Sekunde niemand etwas. In das allgemeine Gemurmel bricht eine überraschende Stille ein, wegen dieser Stille aber redet keiner weiter, selbst, wenn er gerade mitten im Satz war. Das ist jetzt gerade passiert. Eine Sekunde, zwei, drei.
"In Ordnung," sage ich, so daß es jeder hören kann, "schweigen wir von etwas anderem!"
Und das reicht schon aus, den Bann zu brechen. Zwei oder drei lachen, andere nehmen in dieses Lachen hinein ihr Gespräch wieder auf, und schon ist das allgemeine Gemurmel, das die Privatheit unserer Gespräche leidlich sichert, wiederhergestellt.
Niemand scheint besondere Eile zu haben. Als es auf acht Uhr zugeht, verschwinden nach und nach die meisten. Um 07:45 taucht plötzlich Ralf Fahlenbeek auf, sieht sich genau um und verschwindet dann wieder.
"Ein bißchen spät, wenn er jetzt erst die Vollzähligkeit überprüft haben sollte!" meint Edwin, "Tja - gehen wir dann nach oben?"
"Das Ablegen können wir auch hier verfolgen." sage ich, "Aber du hast recht. Gehen wir nach oben."
Oben, im Computerraum, sind wir ganz für uns. Jeder andere an Bord hat entweder nichts oder woanders etwas zu tun. Ich rechne kurz nach, ob dieser Raum für ein so kleines Schiff ungewöhnlich leer ist. Aber das kann man eigentlich nicht sagen. Trotz seiner Länge hat dieser Raum weniger als ein Zehntel des Schiffsvolumens. Und wir sind ein Zehntel der Besatzung.
"Die Zentrale wird ziemlich voll sein, denke ich." stelle ich fest, "Ist das nicht paradox? Wir drei, hier allein - wie in alten Ada-Compiler-Zeiten! Nur der Alois fehlt noch."
"Der hat doch Familie!" stellt Carola fest.
"Na und? Edwin doch auch! Hättest den Alois anrufen und ein paar Geheimnisse verraten sollen - vielleicht hätten sie ihn dann auch einkassiert und zum Mitfahren gezwungen!"
"Sie haben mich aber nicht gezwungen!" erwidert Edwin. Wir haben uns in drei der Sessel niedergelassen und beobachten nebenbei den Situation Screen. Ob Carola sauer ist wegen meiner Bemerkung?
"Das weißt du nicht, was sie getan hätte, wenn du nicht gleich mitgefahren wärest." sage ich, "Vielleicht hättest du es versuchen sollen, und sie hätten es erst einmal mit noch ein bißchen mehr Geld probiert!"
"Habe ich mir auch schon überlegt," sagt Edwin, "leider erst nachher."
07:55 Uhr. Noch fünf Minuten bis zum planmäßigen Ablegen. Auf dem Situation Screen ist eine Unterwasseraufnahme der Kaimauer zu sehen. Sie bewegt sich nicht.
"Können wir nicht oben zusehen?" fragt Edwin.
"Wo oben? Dieses Boot fährt nicht mit offenen Luken. Wir haben keinen Turm! Bei Schrittgeschwindigkeit würde uns schon das Wasser hineinstürzen, und bei Wellengang erst recht. Und in dieser Gegend ist immer Wellengang!"
07:58 Uhr. Eine Bemerkung auf dem Situation Screen belehrt uns, daß die Luken dicht sind.
"Der Alte will aber pünktlich losfahren!" stelle ich fest, "Und mit dem SISC sorgt er dafür, daß das auch wirklich alle merken."
"Welcher Alte?"
"Carola! Bis du denn nie zur See gefahren? 'Der Alte', das ist immer der Kapitän! - Außerdem ist er hier wirklich alt. - Wenn du mal 'Das Boot' von Buchheim lesen solltest, wirst du erfahren, daß die Alten der Kriegs-U-Boote um die 25 waren. Der 'Alte' auf Buchheim's Boot, der war wirklich alt - der war nämlich schon 32! Und die Mannschaften waren in den frühen Zwanzigern. Rekruten eben. So jung ist kaum jemand an Bord!"
"Doch. Manche sind viel jünger. Vivian zum Beispiel. Sie ist 19." meint Edwin.
"Woher weißt du das, als verheirateter Familienvater?"
"Ihr habt es mir erzählt."
"Haben wir das? Carola, haben wir das wirklich? Haben wir diesem verantwortungsbewußten Familienvater explizit und mit besonderem Nachdruck so auf das weibliche Jungvolk an Bord hingewiesen, daß ihm das gerade jetzt einfällt?"
Carola geht darauf nicht direkt ein: "Die meisten Bootsleute sind jünger als wir. Die 'Wissenschaftlichen', das sind im wesentlichen die 'Grufties'."
"Ach ja. Danke." sage ich. So wird man wieder auf das eigene Alter hingewiesen. Es gibt zwei Theorien bezüglich des Ausdruckes 'Gruftie'. Die eine sagt, daß alle dazu gehören, die über dreißig sind, die andere, daß man erst mit vierzig dazugehört. - In unserem Alter ist diese Unterscheidung natürlich absolut belanglos.
Punkt acht Uhr. Auf dem Situation Screen läuft die Missionszeit an. Und ganz langsam scheint die Kaimauer sich zu entfernen. Ein Fenster klappt auf und eine schematische Landkarte des Loch Broom wird sichtbar. Nach einer weiteren Minute ist es sicher, daß wir uns tatsächlich vom Kai entfernen. Er wird immer verschwommener. In einem weiteren Fenster wird jetzt das Bild einer Kamera eingeblendet, die sich ganz oben, gleich unter dem Laufsteg und neben einer der Kollisionsschienen, auf dem Boot befindet. Sie ist praktisch nur Zentimeter von der Wasseroberfläche entfernt und wird dauernd wieder überspült. Aber in den Intervallen dazwischen ist das Bild überraschend klar, und ich versuche, mich zu erinnern, mit welchen technischen Tricks die Frontlinse der Kamera klargehalten wird. Ich habe es doch bestimmt schon gehört, aber ich kann mich nicht erinnern.
Gerade will ich bemerken, daß jetzt in der Welthöhle die Schlafperiode anfängt - der SISC sagt es so. Aber ich sage nichts, denn das ist eine der vielen, kleinen, belanglosen Bemerkungen, wie man sie unter Eheleuten dauernd austauscht, wie 'Es wird regnen. Die Schlafperiode in der Welthöhle fängt jetzt gerade an. Wir müssen mal wieder die Fenster putzen.' Ich hätte es zu Irene gesagt, wenn sie jetzt da wäre.
Aber Irene ist nicht mehr am Leben.
Der Kai driftet nach rechts. Die CHARMION nimmt Fahrt auf.
Und man hört nichts. Der Boden vibriert nicht, und er schwankt nicht. Das Schiff rollt nicht und es stampft nicht. Was für ein Boot!
"Wie hast du damals gesagt, Carola? Als ich das erste mal dieses Boot betrat? 'Vergiß alles, was du über U-Boote weißt!' Wie recht du hattest!"
Edwin macht sich an einer der Konsolen zu schaffen. Ich auch, aber nur, um mir das betreffende Bild formatfüllend hereinzuholen. Die Kamera zeigt die Steuerbordaussicht, deshalb werden, wenn wir Ullapool umrunden und Kurs auf die offene See nehmen, die Berge hinter Ullapool in Sicht kommen, und der Einschnitt des Tales, in dem das Loch Achall liegt. Wenn Irene jetzt dort, in dem B&B der Peukerts, auf dem Balkon stehen und das Auslaufen des Bootes beobachten würde! Wir müßten sie auf den Bildschirmen gerade eben sehen können. Ich drehe meinen Sitz etwas zur Seite, so daß die anderen merken, daß ich nicht mehr sprechen möchte.
Es ist eine alberne Hoffnung, die da plötzlich aus einer Ecke meines Bewußtseins aufspringt. Sie ist doch nicht tot, sondern, nach langem Marsch vielleicht, wieder in der Zivilisation aufgetaucht, und jetzt, gerade nach unserem Ablegen, wieder in Ullapool angekommen. Früher ging es eben nicht. Sie hat das Zimmer wieder genommen und steht jetzt auf dem Balkon, um uns auslaufen zu sehen.
Ich brauche ja nur den Bildschirm anzusehen, um zu wissen, daß es nicht so ist.
Die CHARMION erreicht etwa zehn Knoten und hält diese Geschwindigkeit. Dabei hebt sie sich aus strömungsdynamischen Gründen etwas weiter aus dem Wasser, und die Kameras unter dem Laufsteg sind die meiste Zeit nicht mehr überspült. Gerade, als sich der Einschnitt des Glen Achall ins Bild schiebt, sprudelt das Wasser im Vordergrund auf. Sekunden später rauscht das Wasser über die Kamera, und die Aussicht ist weg: Die Tauchzellen außerhalb des Druckkörpers sind vollgelaufen. Das Boot taucht. Jetzt ist auch vorübergehend eine leichte Abschüssigkeit des Bodens in Richtung Kantine festzustellen.
Ein sehr sachter Tauchvorgang, nicht so etwas wie das panische Abtauchen verfolgter Kriegs-U-Boote. In diesem Boot gibt es zwei Typen von Tauchzellen: Diejenigen innerhalb des Druckkörpers, die das Gewicht des Bootes von etwas weniger bis etwas mehr als das Gewicht des verdrängten Wassers variieren können, und zwar sowohl für Süßwasser als auch für Meerwasser. Diese Tauchzellen können gegen hohen Außendruck ausgepumpt werden und funktionieren in jeder Tiefe. Ihr Vorteil ist auch, daß ihre Wirkung nicht wasserdruckabhängig ist, ihr Nachteil, daß sie wertvollen Platz innerhalb des Druckkörpers verbrauchen. Diese Tauchtanks, im Zusammenspiel mit den Trimmtanks, können das Boot in jede Position mit jedem Nick- Roll- und Gierwinkel bringen und halten.
Die Tauchzellen außerhalb des Druckkörpers hingegen werden normalerweise nur verwendet, um das Boot bei Überwasseraufenthalt oder im Hafen weit genug aus dem Wasser zu heben. Sie können durch Öffnen von wartungsfreien Magnetklappen sehr schnell geflutet werden. Ihr Inhalt von 160 Kubikmetern ermöglicht, das Boot etwa 1.35 Meter aus dem Wasser zu heben. Sie sind jedoch absolut ungeeignet, wenn man mit ihnen unter Wasser manöverieren wollte. Wenn zum Beispiel diese äußeren Tauchzellen teilweise mit Wasser gefüllt sind, und man erhöht die Tauchtiefe, dann wird die Restluftblase durch den höheren Druck zusammengedrückt, und der Auftrieb nimmt rapide ab. Das heißt, daß das Boot, mit dem man eben nur ein bißchen zusätzliche Tiefe gewinnen wollte, dazu neigt, jetzt erst recht abzusinken. Und wenn man steigen will, steigt der Auftrieb auch rascher als man das eigentlich möchte, weil sich die Restluftblasen ausdehnen und der Auftrieb so anwächst.
Erst bei sehr großen Tiefen fällt diese Wirkung zwar noch spürbar, aber nicht mehr sehr drastisch ins Gewicht. Wenn man aber in großen Tiefen mit den äußeren Tauchzellen manöverieren wollte, brauchte man immense Mengen Gas, um sie zu füllen. 50 Kubikmeter Luft unter Normaldruck sind unter dem Wasserdruck von 100 Metern Tauchtiefe nur noch fünf Kubikmeter, und in Tausend Metern Tiefe sind es nur noch ein halber Kubikmeter. Soviel Preßluft, um die äußeren Tauchzellen in großer Tiefe vollständig zu füllen, kann man gar nicht mitnehmen - diese braucht nämlich auch wieder Platz innerhalb des Druckkörpers.
Trotzdem wäre es natürlich im Notfall in jeder Tiefe möglich, auch die äußeren Tauchzellen vollständig mit Gas zu füllen, da das Boot über Einrichtungen verfügt, gelöste Gase aus dem Wasser zu extrahieren oder Wasserstoff und Sauerstoff durch Elektrolyse zu gewinnen. Mit genügend Zeit läßt sich so jede Gasmenge gewinnen. Und da die äußeren Tauchzellen nicht dicht sind, würde beim Auftauchen das überschüssige Gas aus ihnen einfach herausblubbern.
Entscheidet man sich für Elektrolyse, dann ist es natürlich unzweckmäßig, beide Gase gleichzeitig in die äußeren Tauchzellen zu pumpen. Das Boot würde sich in eine Bombe verwandeln. Man würde also entweder nur den Sauerstoff oder nur den Wasserstoff verwenden, wobei der letztere den Vorteil hätte, in doppelt so großer Menge bei der Elektrolyse anzufallen wie der Sauerstoff und auch bei höchsten Drucken ein vernachlässigbares Eigengewicht zu haben. Allerdings wäre das Erreichen der Oberfläche selber nicht ungefährlich. Für diesen Fall, wenn er denn doch mal eingetreten ist, ist die Methode der Wahl das langsame Ersetzen von dem Wasserstoff durch reinen Stickstoff, um zu vermeiden, eine Zeitlang Knallgas unter Normaldruck in den Tauchzellen zu haben. Dieses könnte bei einer Explosion den Druckkörper zwar nicht mehr beschädigen, aber alle Einrichtungen außerhalb desselben, und natürlich die Menschen, die sich auch gerade außerhalb des Druckkörpers am Boot aufhalten.
Das sind alle Möglichkeiten des Bootes, statisch seinen Auftrieb zu manipulieren. Die sogenannten 'Untertriebszellen' der alten Kriegs-U-Boote gibt es nicht. Diese Zellen pflegten bei Überwasserfahrt voll Wasser zu sein und wurden erst bei Erreichen der beabsichtigten Tauchtiefe ausgeblasen. Dadurch wurde der Vorgang des Abtauchens beschleunigt. Sowas ist nötig, wenn man sich durch Zerstören und Flugzeuge mit Wasserbomben verfolgt weiß. Aber schon ein Aufklärungs-U-Boot sollte sich nicht so weit vorwagen, daß solche überstürzten Manöver nötig werden. Und bei einem zivilen U-Boot ist das natürlich völlig unnötig.
"Sehr tief können wir nicht, solange wir noch im Loch Broom sind." sage ich. Dabei sehe ich die beiden ganz genau an. Zeigt einer Anzeichen von Beklemmung? So etwas kann man auch über sich selbst ganz überraschend erfahren. Ich erinnere mich an einen Ausflug in die Iberger Höhle im Westharz. Da hat der Führer irgendwann erwähnt, daß wir jetzt 80 Meter Fels über den Köpfen haben. Da geriet eine ältere Frau in Panik und mußte ganz schnell hinausgebracht werden. Hatte man ihr vorher nicht gesagt, daß es sich um eine Höhle handelt, die sie betreten würde?
Unsere Tauchtiefe ist nicht groß. In etwa 30 Metern pendelt sich das Boot ein. Die Geschwindigkeit steigt auf 12 Knoten - also 22 Kilometer pro Stunde. Mehr als mein doppeltes Dauerlauftempo.
Die Zeit vergeht jetzt ziemlich ereignislos. Auf dem Bildschirmen der optischen Kameras ist die meiste Zeit nichts zu sehen, und das Schiff ist wieder so ruhig als sei es ein Gebäude an Land. Um 09:00 Uhr sind wir auf der Höhe der Summer Isles, wie die schematische Karte zeigt. Nun haben wir nur noch die Äußeren Hebriden zwischen uns und dem Nordatlantik.
"Wenn es euch zu langweilig wird," sage ich, "Wie haben nicht nur die Weltliteratur in unseren Computern, sondern auch alle bekannten und weniger bekannten Filme in digitalisierter Form. Höchste Bild- und Tonqualität. Es reicht für Jahre!"
Das Public Announcment System gibt einen Gongton von sich. Dann sagt die Stimme des Alten: "Wellington. Wir werden in etwa einer Stunde unser erstes Operationsgebiet erreichen." Mehr nicht.
"Wenn wir Glück haben," sage ich, "werden wir häufiger nach Ullapool zurückkommen."
"Du meinst, wenn wir schnell etwas finden?" fragt Edwin.
"Nein. Ich meine, wenn wir überhaupt nichts finden. Das ist viel wahrscheinlicher."
"Warum?"
"Warum? Ist doch ganz einfach. In dem Geologencamp hat man es uns doch erklärt. Wenn man seismische Sprengungen machen will, dann muß man die Explosionen in festem Gestein vornehmen. Ebenso muß man die Geophone akustisch sauber an den Untergrund ankoppeln. - Hier werden sowohl Explosionen als auch die Geophone mitten im Wasser sein. Die Druckwellen werden also auf ihrem Weg nach unten erst das Wasser und dann den dämpfenden Grundschlamm passieren. Das Wasser wäre nicht so schlimm, aber was meinst du, was dann im Grundschlamm passiert?"
"Laß mich raten. Die Wellen werden gedämpft?" schlägt Edwin vor.
"Genau."
"Bist du sicher?"
"Ich habe mal Physik studiert. Ist lange her, aber ..."
"Ja, und warum sind die denn so sicher, daß es was bringt?"
"Weil es kaum etwas anderes gibt, was man sinnvoll machen kann. Wir setzen die Arbeit der Geologencamps vor der Küste fort. Und zwar sehr viel schlechter. - Und teurer. Wenn das der Steuerzahler der EG wüßte, was wir hier treiben!"
"Nun übertreib nicht," sagt Carola, "da gibt es noch viel sinnlosere Projekte. Die SPIEGEL-Redaktion beschäftigt seit Maastricht mindestens einen halben Redakteur mit dem Thema!"
Ich überlege mir, ob ich die naheliegende Bemerkung darüber loslassen soll, daß man eigentlich keinen halben Redakteur beschäftigen kann, weil der an seinem Schreibtisch ja dauernd vom Stuhle fällt. Aber das grenzt ja schon an tiefstes Kalauer-Niveau, und so lasse ich es lieber. Außerdem kommt jemand aus der Kantine zu uns rauf. Es ist Gerald Amurdarjew. Er nickt uns zu und setzt sich, fast gleichgültig, an eine der Konsolen. Mit dem Schimpfen über Geologen oder über das Finanzgebaren der EG ist es erst einmal vorbei.
Wir schielen ihm über die Schulter. Auf seinem Bildschirm dreht sich eine dreidimensionale Darstellung, die sogar wir erkennen: Es sind die Höhlenketten, die die Geologen zu Land mit ihren hochauflösenden seismischen Messungen gefunden haben.
Gerald Amurdarjew sieht, daß wir neugierig sind: "Kommen Sie ruhig her. Schauen Sie sich das an."
Als wir hinter seinem Sitz stehen, fährt er fort: "Da sind bis jetzt ja einige Höhlenketten gefunden worden. Manche sehr undeutlich, manche deutlicher. Das Gesamtbild ist sehr unklar. Und über die Entstehung wissen wir gar nichts. Aber eine dieser Höhlenketten ließ sich bis unters Meer verfolgen. Sie müßte etwa genau auf halbem Wege zwischen den Äußeren Hebrieden und dem schottischen Festland das Niveau des Meeresgrundes erreichen. - Wäre doch fein, wenn wir diese Kette finden, oder?"
"Mmh. - Und was machen wir, wenn wir sie haben?"
"Dann freuen wir uns." sagt Amurdarjew.
"Fein. - Um warum freuen wir uns?" fragt Carola. Recht hat sie. Das möchte ich auch wissen.
"Weil das wahrscheinlich alles sein wird, was wir mit dieser Erkenntnis tun können. Die Höhlen werden nicht bis zur Oberfläche durchkommen. Längst verschüttet."
"Frustriert Sie das nicht?" frage ich.
"Mmh. - Eigentlich nicht. Ich erwarte nicht mehr. Wir arbeiten hier mit den feinsten Geräten, die Geld kaufen kann. Niemals vorher und niemals nachher wird der schottische Festlandsockel so genau untersucht werden. Das ist schon etwas. Ich werde Veröffentlichungen schreiben, die niemals jemand kommentieren wird. - Ja Zentrale?"
Das Interkom hat sich gemeldet, und Amurdarjew spricht sich mit Wellington wegen des Zielgebietes ab. Dann wendet er sich wieder uns zu:
"So denkt doch jeder hier. Wer denken kann, weiß, daß man mit diesem Boot nicht in die Welthöhle gelangen kann. Aber wer denken kann, weiß auch, daß unsere Geldgeber nicht durch die Bank auch denken können. Die wirtschaftliche Verlockung der Welthöhle ist zu groß. Und dann wird investiert. Sie versuchen eben alles. Und damit kann man schöne Wissenschaft machen. Ist doch ein schöner Nebeneffekt, oder?"
"Meinen Sie, Wellington denkt auch so?"
"Ich weiß es nicht. Offiziell natürlich nicht. Aber er ist ja nicht dumm."
"Sie glauben dann wohl auch nicht an die Welthöhle?"
"Das ist eine andere Sache. Aber ich weiß nicht. Wirklich nicht. Sie wissen ja um meine Simulationen. Es gibt Denkmodelle. Und seit ich Sie und Ihre Frau kenne, Herr Homberg - Entschuldigung. Ich habe Ihnen noch nicht mein Beileid ausgesprochen."
"Ist okay. Sie sind doch nicht verpflichtet ..."
"Ich wollte nur sagen, ich kenne Sie jetzt seit einigen Monaten. Sie sind ganz normale Menschen. Sie beide. Sie wollen und wollten sich nicht interessant machen. Sie verteidigen ihre Welthöhle nicht einmal. Das paßt alles so zusammen. Sie müssen unten gewesen sein. - Nur werden wir bloß deshalb nicht hinkommen. Genausowenig, wie wir mit diesem U-Boot den Mond erreichen können."
Er wendet sich wieder seinem Bildschirm zu: "Die Welthöhle selber - ja, das wäre phantastisch. Wirklich phantastisch. Aber ich sehe keine Möglichkeit. Nicht so, wie wir es jetzt machen."
Ich versuche, das Thema wieder auf näherliegenderes zu bringen:
"Weiß man den etwas über den Meeresgrund in dieser Gegend?"
"Ja, natürlich. Auf jeder Seekarte sind die Tiefen eingezeichnet. Der Minch ist ein langweiliges Hügelgelände mit Tiefen bis zu 150 Meter, aber auch Untiefen wie etwa die Shiant East Bank mit weniger als 40 Meter."
"Der was?" fragt Carola.
"Der Minch ist der Meeresarm zwischen den Äußeren Hebriden und Schottland," erklärt Amurdarjew, "und normalerweise gibt es nichts, was einen Geologen hier interessieren könnte."
Wir verfolgen das ständig auf den neuesten Stand gebrachte Echolotprofil, das Amurdarjew in einem Fenster geöffnet hat. Er hat recht: Es ist wirklich langweilig.
"Die Punkte da sind von der Metallortung eingezeichnet. Wahrscheinlich Wrackteile. Oder Müll. Was von der Fähre nach Stornoway so eben mal über Bord geworfen wird. Oder von anderen Schiffen. Höhlungen dicht unter der Oberfläche würden wir auch noch mit Leichtigkeit nachweisen können - nur sind da kaum welche zu erwarten."
"Wie sähen die denn aus?" fragt Carola.
"So wie das da, zum Beispiel." zeigt Amurdarjew auf eine rote Ringlinie, die dem Echolotbild plötzlich überlagert wird. Ohne besondere Aufregung greift Amurdarjew zum Interkom:
"Zentrale? Bei minus acht Sekunden sind wir über etwas interessantem gewesen."
"Hält der Alte deswegen jetzt etwa an?" fragt Edwin.
"Natürlich. Dazu sind wir hier!" entgegnet Amurdarjew.
Das Manöver, zu dem Fleck zurückzukommen, dauert einige Minuten und geht so lautlos vor sich wie die ganze Fahrt bis jetzt. Die rote Ringlinie enthält plötzlich eine zweite, dann eine dritte. Es sieht aus wie Höhenlinien auf einer Karte, nur sind diese Höhenlinien ständig in Bewegung, weil permanent nachgemessen wird.
Amurdarjew prüft die Angaben: "Keine Höhle. Lockeres Gestein mit vielen kleinen Höhlungen."
"Ach ja?"
"Ja. Wenn ein paar Meter unter der Grundfläche die Dielektrizitätskonstante die des Meerwassers ist, dann hätten wir eine Höhle. Hier ist es aber nicht ganz so."
Er greift wieder zum Interkom, damit wir weiterfahren können.
"Also war das nur eine weiche Stelle auf dem Grund?"
"Wenn Sie so wollen - ja."
Wieder vergeht Zeit, in der Amurdarjew konzentriert seine Echobilder inspiziert. Ultraschall mit unterschiedlichsten Wellenlängen und Radarimpulse mit unterschiedlichsten Wellenlängen beharken den Meeresboden unter uns. Außerdem werden ständig die Variationen des Erdmagnetfeldes registriert. Ebenso Variationen in der chemischen Zusammensetzung des Meerwassers. Letztere wird uns aber eher zu weiteren Müllablagerungen leiten als zu irgend etwas anderem.
10:00 Uhr. Wir sind im eigentlichen Suchgebiet für heute angekommen. Die CHARMION beginnt zu kreuzen, um das Gebiet rasterförmig aufzunehmen.
"Das" sagt Amurdarjew, "wird alles sein, was wir für lange Wochen machen werden. Das wette ich. Erst werden wir den Meeresboden im Minch vermessen, genauer als es je zuvor möglich war, dann kommen Gebiete weiter nördlich dran. Irgendwann habe ich meine Software hier dann so konfiguriert, daß ich selbst überhaupt nichts mehr tun muß, und dann werde ich mich langweilen, genauso wie alle anderen an Bord. Ich schreibe ein paar Artikel, denke mit Freude im Herzen an mein Konto, das ohne mein Zutun wächst und gedeit, und vielleicht werde ich mit dieser Biologin etwas anfangen."
"Mit Natalie? Da werden Sie nicht ganz ohne Konkurrenz sein." stelle ich fest. Amurdarjew kommentiert das nicht. Er sieht den Bildschirm an. Gespannt oder uninteressiert? Ich weiß es nicht.
"Was soll denn drin stehen, in Ihren Veröffentlichungen?" frage ich nach einer Weile. Die CHARMION ist jetzt in einer Tiefe von 150 Metern, und der Bildschirm zeigt ein absolut flaches Stück Meeresboden 35 Meter unter uns an. Noch langweiliger geht es nicht, obwohl wir hier eine der tiefsten Stellen des Minch vor uns haben. Einen Moment lang flackert die rote Kringellinie auf und verschwindet wieder. Zehn Sekunden später passiert dasselbe noch einmal.
Amurdarjew greift in die Tasten, gleichzeitig greift er, ohne mir zu antworten, zum Interkom.
"Zentrale - da möchte ich einen Moment bleiben. - Genau da. Ja."
Das Fenster auf dem Bildschirm wird von einem zweiten teilweise überlagert.
"Radarechos aus größerer Tiefe. Das sehen wir uns mal in anderer Darstellung an. - Wahrscheinlich sind die Sedimentablagerungen hier besonders dick, aber die Diskontinuität zum festen Fels wird gerade noch von den Radarwellen erreicht. Wahrscheinlich gibt es sogar verschiedene Diskontinuitäten in verschiedener Tiefe - Änderungen der Dichte der Sedimente. Das kann der Rechner nicht mehr interpretieren, und deshalb sehen wir uns die Radarechos mal mit eigenen Augen an. Wir gehen auch ein bißchen in der Sendeleistung rauf."
"Und die akustischen Echos?" frage ich.
"Sie sehen ja - die kommen nicht durch. Diese Ablagerungen sind wie Watte. Eigentlich merkwürdig."
Ein paar Minuten später steht die CHARMION reglos 20 Meter über dem 185 Meter tiefen Stück Meeresgrund. Auf dem Bildschirm sehen wir ein zweidimensionales Zackengebirge, das ständig an Deutlichkeit gewinnt.
"Numerische Aufintegration der aufeinanderfolgenden Messungen!" sagt Amurdarjew und zeigt auf die Zacke ganz links: "Da. Das ist der Meeresboden unter uns. Das ist das deutlichste Signal. Alle anderen Signale sind schwächer, aber es gibt eine ganze Reihe davon. Das heißt, daß bis zum festen Meeresboden die Sedimente mehrfach ihre Eigenschaften ändern. Dazu kommen einige Mehrfachreflektionen, die die Auswertung nicht gerade einfacher machen: Nicht jedes Echo entspricht einer tatsächlichen Diskontinuität."
"Warum tun sie das, dieses Ändern der Eigenschaften? Sollten sich hier nicht immer ähnliche Stoffe ablagern? Die Sedimente kommen doch vom Land und werden von den Flüssen ins Meer getragen, oder?"
"Jaja, ungefähr. Aber das geschieht seit langer Zeit. Die Meerestiefe war vor langen Zeiträumen anders, die kaledonischen Gebirge waren vor Dutzenden von Millionen Jahren noch höher und so weiter. Alles ändert sich, wenn man lange genug wartet. Sie haben mich vorhin gefragt, was ich denn interessantes veröffentlichen könnte. Nun, diese Zacken hier reichen schon. Da kann man eine Veröffentlichung draus machen. - Mehrere, wenn es sein muß. Sind ja mehrere Zacken."
"Und nicht unbedingt in der Aprilausgabe?" sage ich.
Amurdarjew lacht: "Nein, das nicht! - Wir werden jetzt mal diese Ablagerungen durchschütteln."
Er greift wieder zum Interkom: "Zentrale? Ich hätte gerne eine Standardladung 50 Meter vor dem Bug und den Zündimpuls auf Synchronisationskanal. Meßprogramm läuft schon. Geht das? - Danke. Ja, ein paar Minuten können wir schon warten." Er lehnt sich zurück.
"Standardladung?" fragt Edwin.
"Kleine Torpedos, für seismische Zwecke. Spezialisiert auf sehr kurzzeitige Druckwellen und präzise Steuerbarkeit, um einen definierten Explosionsort sicherzustellen. Das hat nichts mit mit militärischen Anwendungen zu tun - die Dinger haben einen Durchmesser von 8 Zentimetern und einen Explosivkopf mit etwa drei Kilogramm Sprengstoff. Größere Objekte kann die Charmion unter Wasser nicht ausschleusen. Aber das braucht es ja auch nicht."
"Und wozu ist das jetzt gut?"
"Erstens wird die Druckwelle die Sedimente unter uns setzen. Zumindestens die oberen Schichten werden dadurch ihre elektrischen und akustischen Eigenschaften verändern. Zweitens ist die Explosion eine wesentlich stärkere akustische Emission als unsere Außenbord-Schallgeneratoren. Damit werden wir auch wieder Echos aus größerer Tiefe erhalten."
"Ah. Interessant." sagt Edwin. Er setzt sich, weil Carola das auch schon gemacht hat. Ich suche mir auch einen Sitz, von wo ich Amurdarjew über die Schulter schauen kann.
Einige Minuten lang passiert nichts. Es wird 11:00 Uhr.
"Ich brauche jetzt nichts zu tun, weil die Synchronisation automatisch den ganzen Meßvorgang ..." setzt Amurdarjew an, wird aber von einem merkwürdigen Geräusch unterbrochen, das aus Richtung Kantine, also von vorne kommt: Ein dumpfes 'Whuff'. Keine zwei Sekunden später ein dumpfer Knall. Sehr verhalten und von überall kommend. Der Fußboden zittert nicht. Die Fenster auf Amurdarjew's Bildschirm bauen sich neu auf.
"Das war es schon. Mal sehen."
Eine wirklich interessante Demonstration. Eine Explosion in dieser Nähe zum U-Boot würde uns in alten Weltkriegs-U-Booten ordentlich die Trommelfelle massiert haben, auch wenn diese seismischen Spezialtorpedos 20 bis 100 mal weniger Sprengstoff haben als etwa eine Wasserbombe. Aber die Stärke des Druckkörpers und die vielen schwingungsdämpfenden Einrichtungen an Bord der CHARMION sorgen dafür, daß von diesem Knall kaum etwas zu hören war.
Mindestens ebenso eindrucksvoll ist die selbstverständliche Effizienz, mit der die Rechner der CHARMION den Gewichtsverlust durch diesen Torpedo durch Umtrimmen und Wasseraufnahme in den Regelzellen wieder ausgleichen. Ich bin sicher, daß niemand in der Zentrale einen Finger rühren muß, um diese Dinge zu veranlassen - ganz im Gegensatz zu den Weltkriegs-U-Booten, wo das Umpumpen zwischen den Trimmtanks von Hand veranlaßt und wo die benötigte Wassermenge im Kopf ausgerechnet werden mußte.
Neue Fenster springen auf, mit alphanumerischen Meldungstexten. "Scheiße!" sagt Amurdarjew.
"Was ist denn?"
"Da ist irgendwo etwas in Bewegung gekommen. Das hat zusätzliche Geräusche gemacht. Nur ein paar Sekunden lang, aber die akustischen Echos sind versaut."
"Was soll denn hier in Bewegung kommen?"
"Erdrutsch!"
"Wo denn? Ist doch alles flach?"
Amurdarjew ist ungeduldig: "Es kann weiter weg sein - obwohl - nein, das glaube ich nicht. Die Reaktion war zu schnell da."
Er überfliegt die Bildschirme - er hat sich eine zweiten eingeschaltet, um gleichzeitig mehr sehen zu können.
"Es hat sich nicht viel geändert. - Hier - hört euch das an!"
Er legt das Signnal der Außenmikrophone an einen Verstärker und dreht auf. Zunächst hören wir nichts, dann fernes, dumpfes Rauschen.
"Das ist Brandung!" sagt Amurdarjew, "Aber da ist doch noch etwas!"
Ich höre nicht, was er meint. Hat Amurdarjew denn soviel mehr Praxis als wir bei der Beurteilung akustischer Unterwasseraufnahmen? Er war früher doch genauso wenig wie wir an Bord eines geologisch tätigen U-Bootes! - Oder üben Geologen in ihrer Ausbildung, selbst die Signale von Geophonen anzuhören und so auszuwerten?
"Wie dem auch sei - da uns eine Störung dazwischen gekommen ist, machen wir das Ganze noch einmal." Er greift wieder zum Interkom, um der Zentrale seine Wünsche mitzuteilen.
"Wieviel von diesen Kleintorpedos haben wir denn an Bord?" fragt Edwin. Genau weiß es keiner, aber der Torpedovorrat einschließlich aller Drohnen, Kamera- und Hydrophonträger braucht einige Kubikmeter. Das können immerhin einige hundert sein. Die Dinger haben eine Länge von bloß etwas mehr als einem Meter.
"Wenn wir den ganzen Tag so rumballern, sind am Abend keine mehr da!" sage ich.
Amurdarjew scheint beleidigt: "Wir ballern nicht rum! - Normalerweise hat man mit der Auswertung eines einzelnen Schußes mehr zu tun, wenn einem nicht so ein Störsignal wie eben dazwischen kommt. - Außerdem können wir jedesmal, wenn wir nach Ullapool zurückkommen, neue an Bord nehmen."
Einen Moment ist Stille. "So habe ich das doch nicht gemeint." sage ich. Amurdarjew geht darauf nicht ein. Vielleicht hat er es auch nicht so gemeint. "Nächster Schuß kommt gleich." sagt er.
"Müssen die die Torpedos vorne erst laden?" fragt Edwin.
"Ich nehme an, einige hat man immer in den Rohren." vermute ich. Eigentlich sollten wir es genauer wissen - wir haben uns die Pläne ja lange genug ansehen müssen.
"Könnte es sein" fahre ich fort, "daß diese Störgeräusche von der Explosionsblase herrühren, die ja gleich nach der Explosion aufsteigt? Ich habe so etwas in dem Buch vom Buchheim gelesen, und in einem Buch über Unterwasserexplosionen."
"Sowas lesen Sie?" Er meint wohl das zweite Buch. "Ja. Diese Gasblase macht Geräusche. Aber nur zum Teil. Sie hat ein viel geringeres Volumen als bei militärischen Torpedos, und das Rauschen aus der aufsteigenden Gasblase liegt in einem anderen Frequenzbereich. Zum Teil wenigstens. Dazu kommt, daß Teile der Explosionsgase in wenigen Dutzend Millisekunden zu festen Stäuben kondensieren, und die wiederum dämpfen die Geräuschbildung in der Gasblase."
"Ist diese Gasblase der Grund, warum jetzt der Kohlensäuregehalt ansteigt?" fragt Edwin und zeigt auf den Situation Screen. Einen Moment lang sind wir verblüfft. Keine von uns hat es gemerkt. Keiner von uns hat auch drauf geachtet.
"Zehn Punkte für dich, Edwin!" sage ich.
Amurdarjew greift wieder zum Interkom: "Zentrale - haben wir irgend etwas gemacht, was COzwei freisetzt? - Nein? - Nein. - Ja, natürlich haben wir es gemerkt. - Nein, wir haben keine Erklärung. - Glaube ich nicht. Die Schichten unter uns sollten Kohlensäure höchstens chemisch gebunden haben, und das kann man durch eine Erschütterung nicht freisetzen. - Ja, danke, ich warte schon drauf." Er hängt wieder auf.
"Und?" fragt Edwin.
"Ich weiß nicht. Naja, Gase aus der Erdrinde tauchen an vielen Stellen auf der Erde auf. Das kommt vor. Vielleicht war es wirklich nur die Explosionswelle. - Da, es steigt auch gar nicht weiter."
"Moment mal," wende ich ein, "wenn der Kohlensäuregehalt um uns herum ansteigt, obwohl wir 20 Meter über dem Meeresboden sind, dann kann das nur heißen, daß das Gas in feinen Blasen bis zu uns raufgeblubbert ist. Andere Transportmechanismen wären doch viel zu langsam, oder?"
"Der Physiker." murmelt Carola, "Weiß alles besser!"
"Es ist doch bloß logisch!" verteidige ich mich, "Die Kohlensäure muß schon in Gasform da gewesen sein! Und dann frage ich: Wieso hat sie sich nicht schon längst im Meerwasser aufgelöst?"
"Tut sie wahrscheinlich dauernd." vermutet Amurdarjew, "Es ist ein ständiges Gleichgewicht. Ständig löst sich Kohlensäure auf, und ständig kommt von unten neue nach."
"Und wieso war die Konzentration nicht von Anfang an in diesem Gebiet höher?"
"Weiß ich nicht."
"Ich auch nicht. Ich möchte es nur gerne wissen." ende ich.
Von vorne kommt wieder das 'Wuff', und wenig später der dumpfe Knall der Explosion. Amurdarjew hat vorübergehend die Lautstärke der Außenmikrophone runtergedreht und jetzt dreht er wieder auf. Deutlich hören wir das Rauschen der Explosionsgasblase. Genauso deutlich aber ein dumpfes Poltern.
"Schon wieder!" sage ich, "Sie brauchen es mir nicht zu sagen. Ich höre es."
"Sehen Sie mal!" sagt Amurdarjew, "Die Radarechos. Sind ein paar hinzugekommen. Ich nehme an, die Schichten haben sich gesetzt, und es gibt andere Sekundärreflektionen. Und das akustische Bild sieht jetzt auch anders aus. Steigt die Kohlensäure wieder?"
Eine Weile beobachten wir die chemische Zusammmensetzung des Wassers draußen, die wir nicht nur auf dem Situation Screen sehen, sondern uns auch auf eine dritte Konsole geholt haben.
"Kaum." sagt Edwin.
"Warte ab. Wenn es Blasen sind, dann müssen die ja erst zu uns hochblubbern."
Wir warten. Mitten in unser Schweigen hinein rumpelt es wieder in den Lautsprechern.
"Unheimlich." sagt Carola und sieht von einem zum anderen. "Was ist das?"
"Die Gasblase von der ..."
"Nein. Schon längst oben angekommen. Von der ist nur ein Schaumfleck auf der Meeresoberfläche übrig." sagt Amurdarjew, "Es ist etwas anderes."
Das Interkom schlägt an. Amurdarjew hebt ab:
"Ich weiß es auch nicht." sagt er und legt wieder auf.
"Lassen Sie mich raten, was Wellington gefragt hat." sage ich.
"Genau das hat er gefragt. - Es hat übrigens wieder aufgehört."
Einen Moment Stille. Amurdarjew blättert durch seine Fenster und begutachtet die Zackengebirge der akustischen und elektromagnetischen Reflektion.
"Ich würde vorschlagen, eine Detonation direkt auf den Meeresgrund zu setzen!" sage ich.
"Und was soll das bringen?"
"Damit sich alles, was locker geschichtet ist, setzt. Dann kriegen wir bei der vierten Explosion vielleicht klare Echos."
Amurdarjew überlegt einen Moment. "Gut. Dann muß ich unseren Chauffeur bitten, etwas zurückzusetzen. - Aber vorher will ich noch einen direkten Blick auf den Meeresboden werfen." Er greift wieder zum Interkom.
Kurz darauf sind wir in 180 Metern Tiefe nur noch wenige Meter über dem Meeresgrund. Die starken Außenscheinwerfer der CHARMION beleuchten diesen, und wir haben ein klares Bild auf den Bildschirmen. Aber es ist nichts Aufregendes - keine der Außenkameras zeigt etwas anderes als eine leicht gewellte Schlammebene.
"Ich habe auch nicht mehr erwartet. Ich wollte es nur mal gesehen haben."
Langsam zieht der Boden vorbei. Auf einem der Bildschirme sieht man einen offenbar neuen, zylindrischen Gegenstand. Das Interkom schlägt wieder an, und dann teilt uns Amurdarjew mit, daß das Ei bereits gelegt wurde.
"Wir haben es gerade gesehen. Ist es denn nicht vorne rausgekommen?" fragt Edwin.
"Drohnen und Torpedos können wir auch an der tiefsten Stelle des Schiffes ausschleusen. Ein bißchen habe ich noch von den Plänen in Erinnerung." antworte ich. Wir warten.
"Lassen wir Bildschirme und Außenkameras an, ja? Ich möchte sehen, ob Sande aufgewirbelt werden."
Amurdarjew nickt. Es dauert eine Weile. Dann huscht ein flauer, kaum wahrnehmbarer Lichtschimmer über den Bildschirm der Kameras, die nach vorne gerichtet sind. Fast gleichzeitig hören wir wieder den dumpfen Explosionsknall.
Es wundert mich nicht, daß diese Explosionskörper so wenig Licht erzeugen. Mit drei Kilogramm Blitzlichtpulver, also der notorischen Mischung von Magnesiumpulver und Kaliumpermanganat - Lieblingsspielzeug vieler heranwachsender Nachwuchspyromanen - kann man einen ganz ordentlichen Blitz erzeugen. Aber bei einer ganz anderen Zusammensetzung des Sprengstoffes, und bei einer Verdämmung der Explosion, die genauso lange hält, wie es nötig ist, um die kurzzeitigste Druckwelle zu erzeugen, wird nicht mehr sehr viel Licht erzeugt - der größte Teil des Lichtblitzes ist vorbei, bevor der Behälter des Sprengstoffes geborsten ist.
Nachdem das Rauschen der aufsteigenden Gasblase verklungen ist, murmelt Amurdarjew:
"Seltsam. Jetzt gab es keine Störgeräusche. Schade."
"Wieso 'schade'?"
"Weil das Boot nicht in der am besten geeigneten Position für Messungen war."
"Warum sind wir denn nicht über dem Explosionsort geblieben?" frage ich und schon beiße ich mir auf die Zunge. Das war eine bemerkenswert blöde Frage: Es wäre jeder Messung abträglich, wenn sich das Boot gerade im Weg der aufsteigenden Explosionsblase befände.
Das Boot bewegt sich wieder auf seinen vorherigen Platz zu, allerdings in größerer Tiefe. Auf einem der Bildschirme taucht der Explosionskrater auf, eine flache Mulde von nicht einmal zwei Metern Durchmesser. Der nur wenige Zentimeter hohe Kraterwall ist sacht gerundet, so, als ob dieser Krater schon sehr alt wäre. Wahrscheinlich haben die Wasserwirbel unmittelbar nach der Explosion alle harten Formen wieder verschliffen.
"Also, große landschaftliche Veränderungen kann man mit diesen Torpedos nicht bewirken!" stelle ich fest.
"Dazu sind sie auch nicht da." sagt Amurdarjew kurz.
Carola beugt sich vor: "Da bin ich nicht so sicher. Was ist das denn?"
"Was?"
"Diese Kante hier!"
Amurdarjew steuert die Außenscheinwerfer in eine andere Richtung. Dann sehen wir es auch: etwa 12 Meter von dem Krater entfernt ist eine Kante von zwei Zentimetern Höhe auf dem Meeresboden. Eine lange Kante - in beide Richtungen verschwindet sie jenseits der Reichweite der Scheinwerfer.
"War die vorher schon da?" frage ich. Statt einer Antwort läßt Amurdarjew die optischen Aufzeichnungen von kurz vor der Explosion über einen weiteren Bildschirm huschen. Damit hat er jetzt seine vierte Computerkonsole in Betrieb.
"Carola," sage ich, "du holst auf. Auch zehn Punkte!"
Vor der Explosion war diese Kante noch nicht da.
"Okay," sagt Amurdarjew, "das ist interessant. Jetzt sehen wir uns mal die Reflexe an!" Er wendet sich wieder den Bildschirmen mit den ständig laufenden Radar- und Echolotauswertungen zu.
In demselben Moment bricht ein Grollen los - und es kommt von allen Seiten.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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