Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


******** ********

20. Einschiffung

Am nächsten Tag flog ich mit einem Duocopter nach Cape Wrath. Es war nicht zum Identifizieren einer Leiche - man hatte keine gefunden. Und es gab nur wenige Trümmer. Was immer den Duocopter und Irene erwischt hat, es muß enorm schnell gekommen sein.

Der Flug mit einem Duocopter war ein bißchen unangenehm. Nicht, weil ich selber Angst um mein Leben hatte - ich war in einem Zustand, wo mir das zeitweilig egal war. Außerdem glaubte ich nicht an eine echte Gefahr für mich selbst.

Aber diese Duocopter sind bei hoher Geschwindigkeit ziemlich laut. Es sind Arbeitstiere. Schwerlasten und Wendigkeit. Dafür braucht man sie. Sie können die Ausrüstung eines ganzen Camps in die Wüste bringen, oder sie können genug Bomben tragen, um ein ganzes Dorf unterzupflügen. Sie können sich auch verteidigen, jederzeit - aber natürlich, wenn ein Pilot völlig arglos ist ...

Kaum, daß ich die Geräumigkeit des Passagierraumes wahrnehme, kaum einen Blick, den ich zum Fenster hinauswerfe. Diese weißen Berge da draußen, die Sonne, die sich in den Buchten spiegelt, ganz selten und nur für das geübte Auge erkennbar, ein Weg, eine Straße, Häuser oder Hausruinen, dann wieder die dunklen Flecken flacher Lochs, die noch nicht Zeit hatten, zuzufrieren - all das ist auch das letzte gewesen, was Irene in diesem Leben gesehen hatte.

In Balnakeil gibt es wenig zu sehen. Experten der britischen und der europäischen Luftwaffe machen die Gegend unsicher, suchen mit Metallsuchgeräten am Boden und aus der Luft. Vielleicht streiten sie sich auch um die Kompetenzen, aber diese Dinge kriege ich nicht mit. Es sind Trümmer in Balnakeil heruntergekommen, und südlich davon bis zum Keoldale Hotel. Einige hat man auch im Loch Borralaidh gefunden. Das sind fast drei Kilometer, über die die Trümmer verstreut sind. Bei der geringen Flughöhe des Duocopters bedeutet das, daß diese Teile mit enormer Wucht in alle Richtungen weggeschleudert worden sind. Im Laufe des Tages findet man an den Trümmern genügend Hinweise darauf. Man kann heute ermitteln, ob eine Explosion durch Amatol, TNT, Nitroglyzerin, Schwarzpulver oder sonst einem Explosivstoff erzeugt wurde. Diese Explosion war die Explosion eines militärischen Sprengkörpers, wie sie dieser Duocopter selbst routinemäßig an Bord hatte.

Der Duocopter ist also explodiert. Das steht schnell jenseits allen Zweifels fest. Da es aber unwahrscheinlich ist, daß die britische Luftwaffe ihre eigenen Maschinen abschießt, muß einer der mitgeführten Sprengkörper hochgegangen sein. Einfach so. Vielleicht eine der Luft-Luft-Raketen. Ein unglaublich unwahrscheinlicher Vorgang, sagt man mir, aber man werde selbstverständlich alle Maschinen dieses Typs und ihre Bewaffnung überprüfen.

Viele Trümmer müssen ins Meer oder in den Kyle gestürzt sein. Man weiß, welches der Sprengstoff der Explosion war, und man weiß, welchen Typs die Maschine war. Aber schon die Seriennummer des Duocopters kann aus den vorhandenen Resten nicht mehr ermittelt werden - es sind zu wenige. Daraus folgt aber nicht, daß man noch Hoffnung haben kann - es gab in dieser Gegend keinen anderen Flugverkehr. Und die britische Luftwaffe und die Einheiten der Streitkräfte unter EG-Kommando vermissen keine anderen Maschinen.

Ich frage nach, ob es nicht eine militärische Übung gewesen sein kann - von früheren Schottlandreisen weiß ich, daß das Gebiet zwischen dem Kyle of Durness und Cape Wrath als 'DANGER ZONE' auf den Karten markiert ist. Da probiert die britische Marine ihre Artillerie aus.

Das war einmal, wird mir erzählt. Zuviele Proteste. Diese Praxis ist schon seit Jahren eingestellt worden.

Den ganzen Tag treibe ich mich am Kyle rum. Meistens allein. Der asphaltierte Fahrweg vom Keoldale bis dahin, wo er an dem Pier endet und wo der Wohnwagen steht. Immer noch - er stand schon vor zwanzig Jahren da, wie ich mich erinnere. Von da aus kann man sich mit einem Boot übersetzen lassen und dann das Cape Wrath erreichen. Im Sommer jedenfalls - jetzt ist der Betrieb eingestellt. Zuwenig Touristen.

Damals hatte ich es auch nicht gemacht, weil ich mein Fahrrad nicht allein lassen wollte. Ich war schließlich drauf angewiesen. Meine erste große Radtour, allein, vom Harz aus nach Bremerhaven, dann von Harwich aus die ganze Länge der britischen Halbinsel lang nach Norden, an der Ostküste rauf nach Thurso, ein bißchen Orkney-Inseln, dann hier rüber, dann wieder nach Süden. Immer allein, ein Junge auf seinem Fahrrad, ach was, Junge, gerade hatte ich mein Physikdiplom in der Tasche - so jung kann ich da wohl nicht mehr gewesen sein. Zwanzig Jahre ist das her - Da wußte ich noch nichts von Irene, die ich erst vier Jahre und ein paar Monate später kennenlernen sollte, noch nichts von der Welthöhle, noch nichts von Charmion, die zu dem Zeitpunkt noch ein Kind war. Ein Kind, irgendwo in der Welthöhle.

Damals war ich oft in Schottland. Mal nachzählen: 1974, da noch per Anhalter, mit dem Jörg zusammen, dann 1979, 1980, 1981 - dann wieder 1984, mit Irene, auch auf dem Fahrrad. Da sind wir aber nur bis zum Lake District gekommen: War nichts mit Schottland. Irene schaffte das nicht. Dann 1988, die drei sonnigen Wochen. Dann Ende 1995, auf dem Rückweg aus der Welthöhle. Auch mit Irene. Und jetzt. Auch mit Irene - bis gestern.

Am Ufer entlang, zum Meer hin oder in Gegenrichtung. Der flache, steinige Strand. Ein Stolper-Parcours, weil man die Steine unter dem Schnee nicht so genau sieht. Der Sandstrand der Halbinsel Faraid, die Ruinen der alten Early-Warning Horchstation. Auch die Gebäude von Balnakeil selbst waren einmal militärisch genutzt, und man sieht es ihnen noch an, obwohl sie schon viele Jahrzehnte lang von Handwerkern und Künstlern bewohnt werden. Das Ganze ist schon weiter nördlich, als bisher die nördlichsten Fundstellen der Trümmer. Und dann gehe ich wieder zurück, immer wieder dieselben Strecken. Der Wind ist hier im Norden stärker, weil er ungehindert übers Meer heranweht. Manchmal wirft er mich fast um. Kalt ist mir, und ich fühle mich so alt.

Irgendwann tritt jemand auf mich zu und berührt mich an der Schulter. Zeit, zum Duocopter zurückzugehen. Ein paar Experten werden noch ein paar Tage lang hier vor Ort tätig sein, aber niemand verspricht sich noch irgendwelche neuen Erkenntnisse.

Wieder in Ullapool. Mechanisch tue ich das, was nötig ist, und nicht viel mehr. Sonntag - Freizeit für alle. Brütende Gänge für mich, kreuz und quer durch Ullapool. Edwin und Carola finden heraus, daß ich alleine sein will und respektieren das. An der Küste entlang nach Nordwesten, den Geröllstrand entlang und über die Uferfelsen. Morefield. Was für ein ungewöhnlich schöner Tag war das damals, als wir hier entlanggingen und uns auf den Felsen am Ufer des Loch Broom in der Sonne schlafen legen konnten! War es nicht die Zeit des großen Seehundsterbens in der Nordsee? Aber bis hierher war die Krankheit nicht gekommen, wie wir auf einer Rundfahrt zu den Summer Isles feststellten. - Ich merke, daß ich mir keinen Gefallen mit diesen Erinnerungen tue und gehe schnell wieder zurück.

Montag. Meine restlichen Klamotten kommen aufs Boot. Wellington ist schon längst wieder da. Wenigstens hat er es vermieden, mir noch offiziell sein Beileid auszudrücken. Er soll es mir und sich nicht antun.

Der Pater ist in seiner Begleitung. Ein Mann in den frühen Fünfzigern, trotzdem noch jugendliche Figur. Grauhaarig, ein nahezu 'rustikales' Aussehen, in normaler, ziviler Kleidung, nicht in Soutane. Sonst komme ich nicht mit ihm in Berührung und erfahre auch nichts über ihn. Hoffentlich bleibt das auch so: wenn ihm jemand von der Besatzung steckt, daß ich geistlichen Beistand benötigen könnte, dann könnte ich mich vergessen. - Wie wir es verabredet haben, stellt sich heraus, daß zufällig nur noch die Kabine 6 auf der anderen Seite frei ist. Schön, daß jemand dran gedacht hat.

Das Zimmer bei den Peukerts gebe ich für den folgenden Tag, den Dienstag, auf. Da sollte Irene ja während unserer Mission wohnen. Ich packe ihre Sachen und schicke sie an unsere eigene Adresse nach Hause. Ihre Eltern leben nicht mehr, aber ich muß wohl ihrer Schwester Bescheid sagen - Es fällt mir erst jetzt ein, daß das wohl angemessen wäre. Als sie sich meldet, höre ich an ihrer Stimme, daß sie schon längst Bescheid weiß. Das Gespräch ist nur kurz. Was habe ich ihr sonst schon zu sagen? Außerdem ist da der unausgesprochene Vorwurf, daß ich Schuld an Irene's Tod sei, und darauf kann ich verzichten.

Sonst brauche ich nicht viel zu tun. Von dem üblichen Papierkrieg bei einem Todesfall nimmt mein neuer Arbeitgeber mir sehr viel ab - das hätte mein alter Arbeitgeber vermutlich nicht getan, aber ich nehme an, es geht auch darum, die Expedition nicht mehr als notwendig zu verzögern. Ich bin sowieso Alleinerbe, und es gibt nicht viel zu vererben. Und was zu vererben ist, steht in unserer Wohnung in Großhelfendorf. - Es wird noch schlimm genug, wenn ich, wieder zuhause angekommen, die Sachen von Irene umräumen muß. Es wird ein schwerer, posthumer Eingriff in ihr Privatleben sein - wir haben nie gegenseitig unsere Nasen in die persönlichen Sachen des jeweils anderen gesteckt.

Am Montag abend erfahren wir über den Situation Screen endlich die Neuigkeit, auf die wir alle schon lange warten: Das erste Auslaufen ist für Mittwoch früh angesetzt. Punkt acht Uhr. Wir halten uns nicht länger als notwendig an Bord auf.

In dieser Nacht liege ich lange wach und sehe die Decke an. Ich lasse die Fenster auf, so daß die wenigen Straßenlampen von Ullapool und ab und zu draußen vorbeifahrende Autos Muster auf die Decke malen. - Diese Decke ist fast zwei Meter von mir entfernt - welcher Luxus! Morgen werden es weniger als 50 Zentimeter sein.

Mittwoch, der 13. Januar 1999 soll es also sein. Naja, von uns ist ja niemand abergläubisch. Oder will Wellington auf diese Weise herausfinden, wer an Bord es vielleicht doch ist? Glaube ich kaum - er legt den Termin wohl nicht ganz alleine fest.

Am Tag zuvor, dem Dienstag, gibt es wenig zu tun. Edwin schlägt einen gemeinsamen Gang durch Ullapool und Umgebung vor - wo der Zufall uns eben hintreibt. Wer weiß, wie lange wir unter den beengten Verhältnissen der CHARMION werden leben und unseren Bewegungsdrang einschränken müssen - der notorische Hang zum Übergewicht bei den Besatzungen moderner U-Boote ist bekannt. Außerdem haben wir soviel von der Gegend ja noch nicht gesehen, und Edwin hat vor kurzem durchblicken lassen, daß er noch nie Gälisch gehört hat. Ich habe ihm da gesagt, daß ein Blick auf die Karte einen ersten Eindruck von der Sprache liefert - insbesondere unwichtigere Ortsnamen haben keine englische Umschreibung. Und die Straßenschilder in Ullapool sind alle zweisprachig angegeben. - Aber davon weiß man natürlich nichts über die Aussprache. Vielleicht haben wir heute ja Glück, und wir treffen unterwegs jemanden, mit dem wir ein paar Worte wechseln können.

"Ist jetzt mit deiner Teilnahme am Projekt alles gebongt?" frage ich Edwin, als wir vom Kai aus losmarschieren.

"Jaja, alles in Ordnung," lacht er, erleichtert, daß ich nicht das Thema Irene anspreche, "Das war in Brüssel einfacher als in Gonbach."

"Du mußtest deine Frau überzeugen?"

"Jaja. Ich mußte sie überzeugen, daß das ganz ungefährlich ist und daß man dabei nicht zu Schaden ..."

Kurze Pause. Edwin schluckt. Nicht das Thema. Das war doch unsere unausgesprochene Übereinkunft.

"Hast du's ihr gesagt?" fragt Carola ihn, mit einem Wink in meine Richtung. Trampel!

"Nein. Eigentlich nicht."

"Zensur, wohin man sieht." Vielleicht ist mein Lachen gezwungen. "Wißt ihr, wozu ich Lust habe? Mich mal wieder richtig volllaufen zu lassen!"

"Warum hast du's nicht längst getan?" fragt Carola.

"Ich habe nicht dran gedacht. Wirklich nicht. - Ich bin jetzt erst auf die Idee gekommen! - Aber das war nur eine prinzipielle Idee. Heute wollen wir mal ein bißchen marschieren. Es ist immer noch so ein Kaiserwetter - das muß man hier ausnutzen. Außerdem möchte ich unsere Bewacher ärgern. Wir müßten so wandern, daß es nicht möglich ist, sich irgendwo mit einem Feldstecher bequem hinzuhocken und uns zuzusehen, wie wir mühsam einen Berg raufkraxeln."

Unsere Wanderung an diesem Tag wird nicht sehr ausgedehnt. Kaum paßt man ein paar Tage nicht auf, ist schon wieder sehr viel passiert. Das soziale Leben an Bord beginnt - der Alltagshickhack. Als wir den Bergrücken zwischen dem Glen Achall und dem Loch Broom besteigen, wobei wir zunächst denselben Weg wie vor vier Tagen nehmen, wenn auch deutlich langsamer - erfahren wir von Carola, daß sie bereits mit der Natalie Yay aneinander geraten ist. Es war in der Schiffskantine. Carola wollte sich eines der Fertiggerichte warm machen.

Mark Dauphin hatte ja schon darauf hingewiesen, daß dieser Apparat in der Schiffsküche sehr kompliziert zu bedienen ist. Also wollte Carola, als sie sah, daß ihr die Bedienung nicht auf Anhieb klar war, vermeiden, daß sie etwas kaputt macht. Also jemanden fragen.

"Das ist vernünftig." werfe ich ein.

"Das meinst du!" sagt sie und erzählt weiter.

Eine Handvoll Leute saßen in der Kantine, darunter nur eine Frau: Natalie Yay. Sie aß alleine. Carola fragte sie um Hilfe.

"Die hat mich angesehen, als ob ich blöd wäre. Dann hat sie mir die Bedienung der Maschine erklärt - aber wie einem kleinen Kind. Als sie sich wieder hingesetzt hat, hat sie noch eine Bemerkung darüber losgelassen, daß ihr Essen kalt geworden ist. Aber so laut, daß alle es hören konnten!" erzählt sie.

"Sieht so aus, als ob das ein Fehdehandschuh war!" sage ich.

"Aber was habe ich ihr denn getan?"

"Vielleicht war es gar kein Fehdehandschuh. Vielleicht geht sie immer so mit anderen um?" schlägt Edwin vor.

"Ich werde es herausfinden," sage ich, "ich frage sie einfach auch. Und wenn sie das überwunden hat, dann fragt Edwin sie noch einmal. - Vielleicht können wir noch jemanden finden, der sie nach der Bedienung dieses Gerätes fragt!"

"Ja," sagt Edwin, "und dann, wenn sie den ersten Bissen in den Mund steckt, geht Carola noch einmal zu ihr und sagt, sie hat es schon wieder vergessen, wie man das macht, und ob sie es ihr nicht noch einmal zeigen könnte!"

Eine erheiternde Vorstellung. An sich sollte man vermeiden, daß in so einer Gruppe wie in dieser Besatzung jemand zum Sündenbock für alle wird - die Tendenz dazu ist immer da. Aber diese Unterhaltung bleibt unter uns, und außerdem glaube ich nicht, daß es die Yay wird. Zu attraktiv. Ein attraktives Mädchen ist nie lächerlich, egal, was sie Blödes anstellt. Und sie würde sofort einen Verteidiger finden, wenn man über sie lacht.

"Und wenn es Seltsam sein wird!" sagt Edwin, als ich meine Gedanken formuliere.

"Mit großem 'S', nicht wahr! - Aber im Ernst: wer wird es werden? Der allgemeine Sündenbock, meine ich. Wollen wir vorher eine Wette machen?"

Wir sind uns darüber einig, daß niemand so richtig für diese Rolle prädestiniert ist. Außerdem sind die Expeditionsmitglieder ein Heer von Individualisten.

"Ich glaube nicht, daß es sowas geben wird." sagt Carola und bleibt wieder mal stehen, "Seht doch, wie unscheinbar unser Boot ist!"

In der Tat. Wie wir auf der Karte feststellen, haben wir jetzt die Südflanke des Gipfels des Maol Calaisceig erreicht und damit eine Höhe von 302 Meter über dem Meer gewonnen, wie die Karte sagt - fortschrittlicherweise tatsächlich in Metern und nicht in Fuß. Es war ganz schön anstrengend, weil wir uns selbst erst einen Pfad durch den Schnee bahnen mußten - da ist jeder Vorwand, stehenzubleiben, willkommen. Die CHARMION, die als einziges von den Schiffen da unten im Hafen von Ullapool fast vollständig unter Wasser ist, ist kaum zu erkennen. Der Kai, an dem sie liegt, scheint leer.

"Viel mehr als der potentieller Sündenbock interessiert mich ein anderer." sage ich. Die beiden wissen, wer gemeint ist.

"Nehmen wir mal an," sagt Edwin, "wir wüßten in dieser Sekunde, wer es ist. Was machen wir? Gehen wir zum Käptn ..."

"Wenn der's nicht selber ist!" wirft Carola ein.

"Jaja. Auch möglich. Aber was würden wir überhaupt tun können? Wo beschweren wir uns - so ganz ohne Beweise?"

"Das möchte ich auch wissen." murmelt Carola.

Die beiden haben verdammt recht. Diese Dateien sind keine Beweise. Die hätte ich selber schreiben können. Computerspeicher sind geduldig, vielleicht sogar noch geduldiger als Papier, da eine Information in einem Computer mit noch geringerer Wahrscheinlichkeit überhaupt je angesehen wird als vergleichsweise etwas auf Papier gedrucktes, und so die Wahrscheinlichkeit einer nachträglichen Korrektur noch geringer ist. - Bits und Bytes sind geduldig, muß es heute heißen.

Dabei fällt mir ein, daß Irene auch eine 36-64-er Speichereinheit mit diesen Dateien mit sich führte. Die liegen jetzt wahrscheinlich auch auf dem Grunde des Kyle of Durness. Es macht für uns keinen Unterschied.

"Ich glaube," sage ich, "wir können nichts tun. Entweder, man wird uns, ohne richtige Beweise, nicht glauben - also Polizei und Staatsanwaltschaft - oder wir landen mit unseren Eingaben ausgerechnet bei der Dienststelle, in der das alles ausgebrütet wurde. Wissen wir, wer dahinter steht? Und wieviele es sind? In welchen Positionen?"

"Jedenfalls wissen wir, wozu sie in der Lage sind." stellt Edwin fest. Er glaubt also auch nicht an einen Unfall.

"Ja. Genau. Ich glaube nicht, daß wir jetzt etwas tun können. - Die Augen offenhalten - das können wir. Vielleicht fällt uns unterwegs etwas ein."

"Oder dem fällt etwas ein, wie er uns zum Schweigen bringen kann. Ich bin nicht dafür, einfach abzuwarten!" protestiert Carola.

"Ja, was willst du denn tun? Einen Bericht für den SPIEGEL oder FOCUS oder TIME schreiben? Das probiere mal!"

"Willst du dich denn überhaupt nicht wehren?"

"Wir können nicht! Wir wissen nicht, wer der Gegner ist! - Überleg doch mal: Was die Behörden der EG wie die Pest fürchten ist, daß jetzt jemand diese Dinge in die Welt hinausposaunt. Wir reden nicht so schnell unüberlegt daher wie Irene das getan hat, und wir sind demnächst aus der Welt. Für eine ganze Zeit. Vielleicht kommen wir sowieso nicht zurück. Bei uns eilt es nicht mit dem Beseitigen. Aber die Irene sollte die ganze Zeit über hierbleiben! Wer weiß, was ihr alles eingefallen wäre, was sie hätte weiterverbreiten können! Spätestens, wenn wir ihr nicht schnell genug zurückgekommen wären! - Der Unbekannte kannte sie nicht, also mußte er auf Nummer Sicher gehen!"

"Aber es war keiner von unserer Besatzung. Die waren alle im Zelt. Außer Wellington. Der war noch nicht wieder zurück."

"Carola, das wissen wir auch nicht so genau. Mir wäre nicht aufgefallen, wenn einer gefehlt hätte. Und den Pater vergißt du zum Beispiel auch, der war auch noch nicht in Ullapool. Aber ich glaube, daß niemand von der Besatzung seine eigene Hand im Spiel hatte. Daß die Irene sich so verplappert hatte, ist schon eine ganze Weile her. Diese Information, daß da jemand ist, der oder die zuviel weiß, kann durch Dutzende von Dienststellen gelaufen sein. - Vielleicht hat - oder hätte - unser Mann vor Ort gar nicht so drastische Maßnahmen unternommen. Es ist ganz woanders entschlossen worden, und jemand anderes hat es gemacht!"

"Das bestätigt doch, was ich sage! Wir müssen etwas tun, um am Leben zu bleiben!"

"Tun wir ja auch! Ich glaube, wenn wir unterwegs sind, sind wir sicherer. Carola, ich verstehe dich ja. Gestern hätte ich den Adressaten von q78q99q mit eigenen Händen umgebracht, wenn er sich mir zu erkennen gegeben hätte. Aber der ist ein Handlanger, ein kleines Licht wie wir! Das ist mir jetzt aufgegangen. Der macht seine Arbeit, hat vielleicht noch nie darüber so richtig nachgedacht! Oder fast nie. Und es kann sogar sein, daß er selbst diese Direktive gar nicht gutheißt. - Ich glaube, solange wir ihm nicht im Wege sind, sind wir sicher. - Hoffe ich. Ziemlich sicher, weil - der ist ja jetzt Mitwisser einer Straftat und macht sich auch deshalb schon strafbar. Ich weiß wirklich nicht genau, was wir von dem zu erwarten haben. Ich glaube, er hält erst einmal still. - Ja, das glaube ich."

"Und wenn wir wieder zurück sind? Zu Hause?" fragt Edwin, "Dann sind wir ja eigentlich immer noch gefährdet!"

"Vielleicht mehr als jetzt!" sage ich.

"Jetzt wissen wir immer noch nicht, was wir tun." faßt Carola zusammen.

"Beweismittel sammeln. So sicherstellen, daß es nichts nützt, wenn wir umkommen. - Nebenbei, der Unbekannte kann bis jetzt noch gar nicht wissen, wer außer Irene konkret etwas wußte. Er muß nur annehmen, daß ich als ihr Ehemann etwas weiß. Aber ihr beide seid eigentlich noch viel weiter von jedem Verdacht entfernt."

"Wenn wir nicht abgehört worden sind." sagt Carola, "Denk an unsere alte Firma!"

"Wenn wir nicht gerade abgehört werden. Auch in diesem Moment ist das möglich. Hast du noch nie etwas von Richtmikrophonen gehört? - Also, ohne Risiko geht jetzt gar nichts mehr. Aber wir können's minimieren. Augen offenhalten. Informationen sammeln und sicherstellen. Mehrfach sicherstellen. Carola, und du auch, Edwin: Denkt euch Schlüssel aus. Schickt sie zu euch nach Hause. Damit können wir Dinge in den Bordrechnern verschlüsselt aufbewahren, die man auch entschlüsseln kann, wenn wir nicht zurückkommen - sollten."

"Ne, das mach ich nicht," sagt Edwin entschieden, "ich habe Familie. Wenn diese Leute rauskriegen, daß bei uns zu Hause ein Schlüssel oder gar richtiges Belastungsmaterial rumliegt ... und gerade hast du gesagt, genau jetzt könnte jemand ein Richtmikrophon auf uns gerichtet haben!"

Carola hat ähnliche Bedenken. Eigentlich haben sie ja auch recht - in erster Linie wollen wir selbst leben und nicht nur Beweismittel hinterlassen, die sich am Ende niemand ansieht, weil wir nicht mehr dabei sind, um darauf hinweisen.

Weil wir einen wirklich genialen Einfall nicht haben, steigen wir weiter, in Richtung Osten. Vielleicht erreichen wir heute noch den Gipfel des Beinn Eilideach. Das sind bloß 260 Meter mehr.

Dabei fällt mir ein, daß ich seit unserer Ankunft in Ullapool vor einer Woche ziemlich faul war: Keinen einzigen Lauf habe ich gemacht. Dabei bin ich eigentlich ziemlich diszipliniert in diesen Dingen, und kaum ein Monat vergeht, ohne daß ich meine 127 Kilometer laufe. Etwa drei Läufe mit je 10 Kilometer pro Woche, oder drei Marathonstrecken in jedem Monat. Früher, vor 1991, waren es sogar 167 Kilometer in jedem Monat.

Letzten Donnerstag hätte ich Zeit gehabt, aber da war das Wetter so schlecht. Und am gerade vergangenen Sonntag war Irene schon tot, und ich habe überhaupt nicht daran gedacht. Was, wenn nicht das, entschuldigt das Ausfallenlassen eines Laufes?

Laufen. Da tue ich ja nicht nur für mich, weil ich Angst vor der Unfitness habe, die eine Vorstufe zum Siechtum ist. Das tue ich - das tat ich - für Irene, damit sie nie einen kranken Mann zu bemuttern hat. Soweit man das mit einem gesunden Lebensstil in der Hand hat. - Jetzt ist diese Motivation nicht mehr da. Ist der Rest an Motivation tragfähig genug? Ich weiß es nicht. Ich habe 1983 angefangen, zu laufen - dasselbe Jahr, als ich Irene kennenlernte: als Alleinstehender hatte ich noch nie Sport getrieben.

Jetzt wäre das Wetter ideal zum Laufen, aber es wäre natürlich Carola und Edwin gegenüber unhöflich, sie an diesem Tage allein zu lassen, wenn sie ihn besser in Gesellschaft genießen können. Außerdem - wo läuft man in Ullapool wohl hin? Die Hauptstraße entlang, nach Norden oder nach Südosten? - zuviel Verkehr. Der einzig gescheite Weg ist der an den Steinbrüchen vorbei und nach Loch Achall.

Da will ich jetzt aber nicht hin.

Wir erreichen den Gipfel des Beinn Eilideach am frühen Nachmittag, obwohl er nur wenige Kilometer Luftlinie von Ullapool entfernt ist. Von hier aus sieht man von unserem Boot gar nichts mehr, und Ullapool sieht so aus, als sei es auf einer zufälligen, flachen Anschwemmung einer kleinen Sandhalbinsel gebaut - so, als ob ein nur mittelmäßiger Tidenhub es schon wieder hinwegschwemmen könnte.

Und wie so oft denke ich, wie es wäre, gerade hier aufgewachsen zu sein und von diesen komplizierten Dingen nichts zu wissen, seit frühester Kindheit Inverness für den Anfang der großen Welt zu halten und Edinburgh für den Mittelpunkt derselben, von den unbedeutenden Ländern am Rande der Welt schon mal gehört zu haben, etwa von Europa und den USA, und im übrigen mein Leben von Wind und Wetter bestimmen zu lassen und jeden in Ullapool persönlich zu kennen.

Heute aber fällt es mir schwer, diesen Klimmzug der Phantasie zu machen - wir sind mitten in unserer eigenen Existenz drin. Damit haben wir im Moment genug zu tun. Und weil wir das haben, sind wir auf dem Rückweg, den wir bald antreten müssen, weil es früh dunkel wird, ziemlich still.

Diese Nacht werden wir schon an Bord verbringen. Und morgen wird vor dem Frühstück kein Landgang möglich sein. Deshalb entscheiden wir uns, ein Pub aufzusuchen. Wir trinken wenig und reden noch weniger. Trotzdem wird es sehr spät, als wir endlich zum Kai gehen und das Boot betreten. David Aldingborg läßt uns ein und erzählt nebenbei, daß noch lange nicht alle im Boot sind. Das Sicherheitspersonal am Kai wird diese Nacht noch zu tun haben.

Einen Moment noch gehen wir zusammen in die Schiffkantine. Leer. Wer jetzt Gesellschaft sucht und sonst nichts zu tun hat, ist an Land.

Ohne weitere Worte verziehen wir alle uns in unsere Kabinen.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel



Voriges Kapitel Inhaltsverzeichnis Nächstes Kapitel


Zurück zu meiner Hauptseite