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19. Let my cry come upon to thee ...

Ich weiß nicht mehr, wie ich an jenem Tag nach Hause gekommen bin. Edwin's Gesicht, wie er mir das mit den Trümmern erzählte, ist das letzte, woran ich mich erinnere. Dann nichts mehr.

Ich glaube, ich bin gelaufen, und niemand hat mich aufgehalten. Niemand hat es mir nachher erzählt. Ich bin wohl gelaufen, am See entlang, auf der vereisten Straße, bis nach Ullapool, und habe die beiden, Carola und Edwin, einfach stehenlassen. Aber ich erinnere mich nicht mehr. Oder doch: Da war ich auf dem Berg, von wo man gerade wieder Ullapool sieht, und es war noch zu früh für den Sonnenuntergang. Und immer, die ganze Strecke lang, habe ich mich, glaube ich, erinnert, wie ich vor zehn Jahren und dann wieder vor einigen Stunden diesen Weg am See entlang mit Irene gegangen bin, und dann bin ich schneller gelaufen, um mich nicht zu erinnern.

In unserem B&B. Irene's Sachen. Unaufgeräumt. Als ob sie noch selbst da wäre. Nur einen Moment rausgegangen wäre. Gleich wiederkommen würde. Ich räume auf, damit sie nicht so viel zu tun hat, wenn sie wiederkommt. Hätte ich das nicht öfter tun sollen? - Oder ist es der Versuch, das Schicksal zu bestechen - ihre Sachen aufräumen, damit ich es nicht hätte tun müssen, wenn wie doch wiederkommt. Weil auf Murphy's Gesetz ja Verlaß ist.

Aber Murphy's Gesetz bedeutet auch, daß es gerade dann nicht funktioniert, wenn man es braucht.

Hat sie sich nicht so oft beschwert, daß wir viel zuwenig zusammen unternehmen? Gewiß, nach den Erlebnissen in der Welthöhle hat sie mir das nicht mehr zum Vorwurf gemacht, aber sicher wäre sie mit mir gerne häufiger zum Essen gegangen. Oder Kino. Museum. In eine Ausstellung. Gleich gehe ich runter, zu der Frau Peukert, und bestelle ein Tisch in dem 'Far Isles Restaurant'. Sie sieht mich an, als ob ich bekloppt wäre. Sie weiß es, Herrgott, sie weiß es! - Dann erst fällt mir wieder ein, daß die Peukerts das Restaurant ja gar nicht mehr besitzen - ich bringe alles durcheinander.

Die Sonne ist untergegangen. Niemand kommt. Niemand kommt, und niemand sagt, es ist so oder es ist anders. Was denn auch. Ich weiß ja schon alles. Trümmer in Balnakeil. Die wachsen nicht auf Bäumen. Und nichts macht mitten in der Luft Rauchwolken.

Ich würde gerne mit jemandem reden, aber wenn soll ich belästigen, und was wird es helfen? Sie lebt oder sie lebt nicht, und nichts, aber auch gar nichts, was ich tue, kann daran noch irgendetwas ändern.

Ich bin wieder draußen, auf den kalten Straßen von Ullapool. Es ist saukalt geworden. Minus 12 Grad mindestens. Wer jetzt noch durch die Nacht irrt, nach einer Notlandung - wenn es doch nur eine Notlandung wäre, auch bei minus zwölf Grad hat man Chancen! - Trotzdem, ich kann nicht drinnen im Warmen sitzen, wenn sie sich da draußen irgendwo durchkämpft. Sollte klare Nachtluft nicht die Gedanken genauso klar halten? Ich habe das Gefühl, daß ich keine logischen Gedankengänge verfolgen kann, daß ich keine formalen Ereignis- und Wahrscheinlichkeitsbäume im Geiste aufmalen kann, weil ich Angst vor dem habe, was dabei rauskommt, und das blockiert das Denken. - Was denken! - Nur denken können, und nichts tun. Aus was bist du gemacht, Herwig, daß du nichts tust?

Wer aus anderem Holz wäre als ich, der würde über Berge und Täler wandern und sie suchen, wie ein Geist unter kaltem Mondlicht, von dem niemand in den schlafenden Hütten merkt, wenn er vorbeikommt und weiterzieht, getrieben und ruhelos, auf Graten und Zinnen und über zugefrorene Moore, wie ein Wolf seine Beute jagt, aber dieser Wolf bringt nicht den Tod sondern das Leben, wer aus anderem Holz geschnitzt wäre, ja, aber dieser hier nimmt nur zur Kenntnis, und er hört, daß er keine Hilfe bringen kann, niemandem, denn sie ist zu Stücken zerrissen, und du würdest doch nur in der Nacht stehen und frieren und dich selbst bedauern, also laß es an dich herankommen, damit du begreifst und trauern lernst denn wenigstens das bist du ihr schuldig ja das ist es du hättest sie zurückhalten müssen deshalb bist du schuldig schuldig schuldig.

Oder war es nicht zu verhindern? Doch ein Mord, wegen dieser Direktive? Es müssen noch mehr davon wissen. Dann mußt du sie rächen. Herrgott, ja, das werde ich, sie rächen. Charmion hast du nicht gerächt, jedenfalls nicht so richtig, denn dieser Osont lag sowieso schon im Sterben und es war doch nur eine Wohltat für ihn, ihm die Luft zum Atmen wegzunehmen - aber Irene ist doch deine Frau! Herwig! Hast du nicht gelernt, in der Welthöhle, wie man, und womit, zahlt? Wenn jemand schuld ist, echt schuld, ein Mord, wegen dieser Direktive, dann jammer nicht! Tu was! Willst du nicht Vergeltung üben? Ach was, willst - es ist ein 'muß'.

Stehe auf und töte.

Das ist es. Halt dich daran fest. Finde es heraus. Sie ist noch nicht ganz tot, solange du dich erinnerst. Und solange du machst, daß sich jemand anders noch einmal an sie erinnert. Stehe auf und töte. Halte dich daran fest. Glaube. Dieses und nichts anderes. Der Feinde sind viele. Die ganze Organisation der EG. Irgendwo sitzen die Leute, die sich die Direktive q78q99q ausgedacht haben. Kommst du an sie ran? Oder nur an die Handlanger an Bord? Egal. Alte Tradition der Granitbeißer. Du auch, Herwig. Wer das Schwert nimmt, soll durch das Schwert umkommen. Tu es: Stehe auf und töte.

Ich werde dich ausfindig machen, und ich werde nicht eher ruhen als bis du längseits liegst und die rote Flagge zeigst! Du wirst dich verraten - niemand geht mit einem solchen Auftrag in die Welthöhle und verrät sich nicht irgendwie. Wenn wir überhaupt dahin gelangen. Aber wenn - sie haben Schwerter dort und Bögen - hast du nicht selber sie benutzt, Herwig? Du weißt doch, wie man einen Kopf abschlägt, und ein Vollstreckungskreuz herrichten, das kannst du wohl auch. Für deine Frau kannst du das.

Ihr da unten, in der Welthöhle. Ihr sollt an uns nicht leiden. Ich bringe einen Schurken. Er ist eben bei uns - ich kann es im Moment nicht ändern. Ich brauche eure Hilfe. Einmal nur. Aber mehr soll nicht sein. Wir werden sehen. Irgendwie. Aber das betest du jetzt, und es sei dein letzter Gedanke am Abend und dein erster am Morgen: Stehe auf und töte.

Theatralischer Gedanke. Pathos. Aber schön. Er wärmt mich, und ich möchte mir einbilden, daß Irene etwas davon hat, von dem Feuer in mir. - Aber vielleicht bilde ich mir sogar das Feuer ein. Wie kann denn jemand echt trauern, der immer noch beherrscht genug ist, beim Überqueren der Straße erst nach rechts und dann nach links zu gucken, sogar in der richtigen Reihenfolge, was nicht einfach ist, weil hier noch immer Linksverkehr ist?

Sie wären jetzt schon zu mir gekommen, wenn Irene doch noch am Leben wäre. Sie hätten mich gefunden, um es mir zu sagen - so groß ist Ullapool nicht, als daß man nicht einen nächtlichen Spaziergänger in seinen Straßen ausfindig machen könnte, wenn man es nur will. - Also ist es wahr. Es wird immer wahrer. Die weiße Wahrheit. Die Wahrheit, so klar und kalt wie diese Winternacht. Alle müssen sterben. Der eine stirbt bei Flut, der andere bei Niedrigwasser, dann wieder einer, wenn das Wasser steigt. Auch ich, eines Tages. Aber vorher will ich noch etwas tun. Einen Schnitt führen. Mehr bedarf es nicht. Ist das zuviel verlangt? Für meine Frau?

Ich bin müde. Ich gehe nach Hause. Schlafen und vergessen. Mir ist kalt. Aber Irene ist kälter. Dort, wo sie jetzt ist - wenn sie irgendwo ist. Warum, Bursche, hast du zugelassen, daß sie mitfliegt? Warum hast du nicht die Spur einer Ahnung gehabt? Du bist doch sonst so mißtrauisch, vermeidest jede PKW-Fahrt, wo es irgend geht. Du bist mißtrauisch, was den FP-Reaktor betrifft, hast andere vor den Kopf gestoßen mit deinen vorschnellen Äußerungen. Nur den Duocopter - Hergott, du hast das Ding doch nie zuvor gesehen, vor zwei Tagen zum ersten Male. Die Öffentlichkeit weiß kaum etwas über diese neue Helicopter-Bauform. Und dann läßt du deine Irene da einsteigen.

Du hast dich nicht einmal verabschiedet.

Jetzt muß ich am Leben bleiben. Zu Kräften kommen. Schlafen. Ich habe einen Auftrag. Wenn ich doch mein Schwert hier hätte. - Oder Irene's Schwert. Ich weiß doch noch, wo wir unsere Waffen zurückgelassen haben, da unten, auf unserem Aufstieg aus der Welthöhle. Welcher Trost wäre jetzt in dieser Waffe, in ihrer Schärfe, die ich liebkosend schleifen würde. Immer wieder. Für ihren Mörder.

Ich werde euch alle prüfen. Jeden einzelnen. Ich werde ihn finden.

Und dann werde ich töten.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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