Voriges Kapitel
Inhaltsverzeichnis
Nächstes Kapitel
******** ********
17. Wandertag
Dieser Freitag, der 8. Januar, sieht genauso aus, wie die Meteorologen es vorausgesagt haben. Gestern noch haben wir unsere Sachen durch das Schneetreiben zum Kai geschleppt und uns in das Boot helfen lassen. Bis auf die Knochen sind wir durchgeregnet. Und es wurde immer kälter. Letzte Nacht hat sich dann die arktische Hochdruckwetterlage festgesetzt und eine letzte Schicht aus feinkörnigem Pulverschnee gebracht. Es soll sogar noch kälter werden, in den nächsten Tagen.
Heute ist die Temperatur bei minus sechs Grad, und der Himmel ist makellos blau. In der Tat, ein idealer Wandertag. Um zehn Uhr morgens soll es losgehen. Treffpunkt ist der Kai vor dem Boot. Aber erst um fast elf sind alle zusammen.
Wellington ist noch nicht dabei. Er wird immer noch von Bürokraten in Brüssel festgehalten. Aber die restliche Bootsbesatzung ist vollständig. Die meisten tragen die Bordkluft mit ordentlich was darunter - vielleicht, weil ein Overall den besten Schutz gegen Schneebälle verspricht. Bei einer so großen Gruppe kommt immer jemand auf die Idee, eine Schneeballschlacht einzulegen. Allerdings wird wohl nur Serpinski aus Pulverschnee Bälle kneten können, und vielleicht nicht einmal der.
Ich und Irene gehen in 'Zivil', Edwin auch, aber Carola hat sich für das kleidsame Grün entschieden. Irgendwie sieht sie enorm militärisch aus, streitbar, energisch und stark, trotz ihres auch schon merkbaren Hangs zum Übergewicht. Trotz letzterem würde man ihr die Kompanieführerin abkaufen, wenn sie sich dafür ausgäbe. Ein ganz neuer Aspekt an ihr - als sie vor 15 Jahren in unser Compiler-Projekt kam, hatte sie das Stadium der mädchenhaften Niedlichkeit noch gar nicht abgelegt. Daran merkt man, daß man selber auch älter wird.
Die Straßen von Ullapool sehen wie in einem Wintersportort aus. In den Nebenstraßen ist der Boden noch weiß, und unter dem Schnee ist es glatt. Unsere Gruppe ist vielleicht ein bißchen auffällig, als wir uns in Marsch setzen und das Boot in der Obhut anderer Mitarbeiter der EG zurücklassen.
Hinter Ullapool erhebt sich ein kahler Berg - die Ginsterbüsche sind im Winter nicht als solche zu erkennen - und von einer bergseitigen Nebenstraße der Hauptstraße kommt man durch ein Gatter, und dahinter geht ein Weg diesen Berg hinauf. In leidlich regelmäßigen Abständen ist dieser durch dicke Pfähle markiert, deren Zweck ich nicht erraten kann - als wir vor zehn Jahren hier waren, gab es die auch schon. Als Wegemarkierung für Schnee sind sie übertrieben dick, außerdem dürfte der Schnee in diesem Gebiet selten so hoch liegen, daß man sie tatsächlich braucht - glaube ich. Genau weiß ich es nicht, denn dieses ist ja unser erster Schottlandaufenthalt im Winter.
Je höher wir kommen, desto weiter können wir in der klaren Luft sehen. Schottland bietet nicht die Großartigkeit der Alpen im Winter, sondern, unter diesen Wetterbedingungen, den öden Charm der Antarktis. Kahle Berge, soweit das Auge reicht. Im Süden, hinter dem Loch Broom, steht der trapezförmige Beinn Ghobhlach unter einem gleißenden Himmel - diesen charakteristischen Berg kann man noch von weit hinten im Glen Achall sehen, wie ich mich erinnere.
Der Schnee knirscht unter unseren Füßen. Ein Geräusch, das frühe Kindheitserinnerungen von winterlichen Harzwanderungen heraufbeschwört - schöne Erinnerungen, meistenteils.
Damals war der Harz noch ein unendlich großes Gebirge, am Rande der Welt gelegen, denn da war die Grenze, und von da an bis Kamtschatka reichte der mächtige und unheimliche Einfluß der Sowjetunion. Eine Terra inkognita. Als kleiner Junge glaubte ich, daß man durch die Schneeverwehungen in Clausthal und St. Andreasberg in die Wälder gehen kann, und von dort immer weiter nach Osten, bis in das unbekannte und weite Sibirien.
Die Träume von unbekannten Ländern gibt es nicht mehr - oder fast nicht mehr. Mir ist schon lange klargeworden, daß ich sie den Menschen - wenigstens manchen Menschen - zurückgegeben habe: Die Welthöhle. Wer weiß, wie viele in der Organisation dieses Unternehmens von unbewußtem Entdeckerdrang getrieben werden. Von dem Wunsch, große und neue und fremdartige Länder zu erschließen. Wie in alten Zeiten. Die Suche nach dem Eldorado.
Fast romantisch. Wenn dabei doch nicht soviel Blut geflossen wäre. Und wenn das doch nur nicht dauernd totgeschwiegen würde.
Ich betrachte meine Mitwanderer. Wer von diesen genießt die Gelegenheit, die vielleicht eine der letzten für lange Zeit ist, die eigenen Muskeln zu bewegen, und wer ist der körperlichen Anstrengung abhold? Irene tut sich bei unseren Steigtempo schwer, aber sie bemüht sich - in langen Ehejahren hat sie von mir genug über Trainingsphysiologie erfahren, um zu wissen, daß jede Anstrengung letzten Endes ein Bonus für den Körper ist, und daß Schweiß nicht unweiblich ist. Carola scheint etwas besser durchtrainiert zu sein und läßt sich nichts anmerken, vermeidet aber wie Irene das Reden, solange es steil bergauf geht.
Serpinski zeigt, wie kraftvoll und stark er ist und steigt mit bloßem Oberkörper. Das wird ihm noch vergehen, wenn der Weg erst wieder flacher wird und der Berg den seichten, aber stetigen Nordost nicht mehr abschirmt. Ob er einer der Frauen imponieren will oder nur sich selbst? Dr. Reinhardt, obwohl einer der älteren Mitarbeiter, ist die häufige Arbeit im Freien anzumerken. Er steigt problemlos und mit unauffällig kraftvollen Schritten. Alfred Seltsam scheint da eher Probleme zu haben. Untrainiert. In mittlerem Alter müßte eigentlich jeder Mensch merken, daß man etwas für sich tun muß - vor 50 ist der Verfall der Kräfte noch lange nicht gottgegeben. Vielen kommt diese Erkenntnis etwa um die 30. Noch mehr Menschen kommt die Erkenntnis nie.
Die anderen steigen stetig und meistens schweigend. Wegen unseres flotten Marschtempos bin ich aber im Moment auch nicht zu sehr eingehender Bewertung der Steigleistungen meiner Mitwanderer in der Lage.
Oben, als es flacher wird, passieren wir eine Hütte. Drinnen stehen die Gerippe von Metall-Geräteschränken, Gehäuse elektronischer Geräte liegen herum, manche auch außerhalb der Hütte. Dicke Drähte in unförmig großen Gehäusen, Abschirmungen für Elektronenröhren, runde Spannungsmessgeräte, vielleicht Dreheiseninstrumente - dieser Krempel muß bald fünfzig Jahre alt sein. Aufgegebene Seefunkstelle, oder Einrichtungen aus dem Krieg? Wenn es so ist, wird kaum jemand unten im Ort jetzt noch wissen, was dieses mal gewesen ist. Auf dem Boden im Eingang liegt ein Kurzschlußstecker, und verwundert stelle ich fest, daß es sich um den genormten Abstand der Schukosteckerstifte handelt - die britischen sehen anders aus. Ich kann mir keinen Reim darauf machen.
Während die meisten einen Moment neugierig stehenbleiben und durch die Fensterhöhlen in die Hütte gucken, höre ich wieder das Dröhnen dieser zweischraubigen Hubschrauber. Inzwischen weiß ich, daß man sie 'Duocopter' nennt, oder auch 'Stratocopter', wenn sie besonders hoch fliegen können. Wieviele Maschinen es sind, weiß ich nicht, weil sie so tief fliegen, daß wir sie nicht mehr sehen können, also tiefer als wir. Sie fliegen offenbar denselben Kurs wie vorgestern abend, von Südosten längs des Loch Brooms nach Nordwesten, auf das Meer hinaus. Erst, als sie Ullapool passiert haben und weiter auf dem Weg in Richtung Äußere Hebriden sind, können wir sie im Westen von uns sehen. Es sind zwei Maschinen, und sie fliegen keine hundert Meter hoch.
"Heute morgen war auch schon eine da!" sagt Irene.
"Tatsächlich? Ich habe nicht darauf geachtet. - Das werden die Touristen nicht mögen!" antworte ich.
"Das hast du gestern abend auch schon gesagt!"
"So? - Stimmt's vielleicht nicht?"
Irene verfolgt das Thema nicht weiter.
Weil ich inzwischen auch erfahren habe, daß dieses Gebiet, solange die CHARMION hier liegt, mit allen militärischen Mitteln, die der EG zur Verfügung stehen, aufgeklärt wird, suche ich den Himmel nach den Kondensstreifen hochfliegender Jäger ab. Aber im Moment sind keine da. Was und wieviel aus dem Weltraum observiert wird, das erfährt unsereiner ja nicht. Allerdings wird die Weltraumaufklärung gemeinsam von der EG, den USA und den Staaten der ehemaligen Sowjetunion betrieben, und ich habe schon begriffen, daß die EG die Existenz der CHARMION und ihrer Möglichkeiten nicht in die Welt hinausposaunt hat. Also wird die Aufklärung durch militärische Satelliten in diese Aufgabe nicht mit eingebunden sein. Andererseits läßt sich ein U-Boot wie die CHARMION kaum geheimhalten, weder der Bau noch der Aufenthalt am Kai in Ullapool. Jeder Einwohner von Ullapool wird wissen, daß da etwas besonderes vor sich geht. Was werden die EG-Behörden nach außen verlautbart haben, damit niemand zuviel Interesse zeigt? Und wer, von den Touristen in Ullapool, ist hier, weil man diesen Verlautbarungen nicht vollständig glaubt?
Der zweite Offizier, Ralf Fahlenbeek, steht plötzlich neben mir. Ich hatte bisher kaum mit ihm zu tun. Ohne Einleitung sagt er:
"Herr Homberg, ich habe heute morgen Nachricht von Herrn Wellington erhalten. Wir bekommen noch einen Mitreisenden. Ich soll ihm eine Kabine aussuchen. Welche würden Sie vorschlagen?"
"Es sind doch noch drei Stück frei! Bisher hat sich doch jeder von uns seine Kabinen unter den Freien beliebig aussuchen können!"
"Ja, das ist schon richtig. Aber Wellington mein, daß Sie sich mit dem Neuen nicht vertragen werden."
"Wieso das denn?"
"Es handelt sich um einen Herrn Dr. Jeremias Palmer."
"Noch ein Doktor. Hat er vielleicht Angst, daß ich ihn nicht mit seinem Titel anrede? - Das könnte mir wohl gelegentlich passieren, das ist wohl wahr."
"Unwahrscheinlich, daß er darauf Wert legt. Wenn überhaupt, dann läßt er sich wohl mit 'Hochwürden' anreden. Oder auch 'Pater'. Vielleicht auch einfach 'Herr Pfarrer'. Ich weiß es nicht."
"Was?" Einige der anderen drehen sich nach uns um, so laut war ich.
"Tja." sagt Fahlenbeek, "Wellington sagt, er kanns nicht ändern. Man hat es ihm - und uns - in Brüssel aufs Auge gedrückt."
"Ein Priester? Was soll denn ein Priester auf der CHARMION?"
"Ich weiß es nicht. Aber wir wissen ja mehr oder weniger, wie Sie zu diesen Dingen stehen. Sie haben in Ihrem Buch keinen Hehl daraus gemacht. Wellington will keinen Streit an Bord haben."
"Man wird doch noch kontrovers diskutieren dürfen!"
"Schon. Aber ich glaube, er hat diesen Jeremias Palmer - dieser Vorname, der zwingt einen ja schon in diesen Beruf hinein! - schon kennengelernt und schätzt die Verträglichkeit von Ihnen beiden gering ein. Vielleicht."
"Ja, aber - ich versteh nicht! Was soll ein Priester auf einer wissenschaftlichen Mission?"
"Bitte, Herr Homberg! Es war doch nicht meine Idee!"
Vielleicht war ich im Tonfall Fahlenbeek gegenüber jetzt fast grob. "Ich verstehe es nur nicht!" sage ich noch einmal, in neutralem Tonfall.
"Ich auch nicht. Wellington wohl auch nicht. Ich kenne ihn nicht gut, aber ich glaube kaum, daß er fanatisch religiös oder bigott ist. Was er angedeutet hat ist, daß sich die Kirchen irgendwie massiv an der Finanzierung dieser Mission beteiligen und dafür Bedingungen gestellt haben."
"Und uns so einen Pfaffen mitschicken!"
"Genau diese Wortwahl bittet Herr Wellington Sie, unterwegs zu vermeiden. Beide kommen übrigens gleichzeitig hier an. Sagt Wellington."
Wir sind inzwischen weitergegangen, und es ist still in der Gruppe: Die meisten haben mitbekommen, worüber wir reden. Allgemeines Kopfschütteln und Unverständnis.
"Wieviel haben die Kirchen denn zugeschossen?"
"Ich weiß es nicht. Wellington weiß es auch nicht."
In mir kocht alles. Einen Umstand, ein einziger Umstand, der die Geschichte der Kolonisationen in den vielen vergangenen Jahrhunderten charakterisiert hat, einen einzigen Umstand glaubte ich bisher bei unserer Welthöhlenexpedition nicht mehr im Spiel: Die Kirchen halten sich raus. Und nun das! Und, so, wie ich mich in den 'Granitbeißerinnen' geäußert habe, muß jeder meine diesbezügliche Einstellung kennen. Es ist, als ob ich überfahren werde. Spielt alles keine Rolle, was ich darüber denke.
Wer hat denn die ganze Sache ins Rollen gebracht, wenn nicht ich?
"Ich kann mich, laut Vertrag, immer noch dazu entscheiden, nicht mitzufahren."
"Sicher können Sie das." sagt Fahlenbeek, "Aber wollen Sie denn diesen Priester mitfahren lassen, und Sie bleiben hier? Diese Expedition findet auch ohne Sie statt, das wissen Sie."
"Ja, das weiß ich."
Nun kommt das Loch Achall in Sicht, und das lange, nach Osten führende Tal. Ich hatte mich so auf dieses Wiedersehen mit diesem Stück Landschaft gefreut - jetzt nagt in mir der Ärger.
"Wollen Sie wirklich ganz kampflos das Feld räumen? - Es ist wirklich nur unser Bemühen, die Häufigkeit, daß sie sich über den Weg laufen, zu minimieren!"
"Auf der Steuerbordseite, bei den Nautischen, ist noch eine Kabine frei!"
"Der Mann zählt zum Wissenschaftlichen Personal. Hat Wellington gesagt."
"Was hat denn Theologie mit Wissenschaft zu tun? - Oder hat er eine Zweitqualifikation?"
"Ich weiß es nicht. - Da war doch vor einigen Jahren in Deutschland der Fall dieses Priesters, der erst die Lehrerlaubnis verlor, danach alles andere, bis er exkommuniziert wurde. Vielleicht ist es so einer!"
"Da hätte ich nichts dagegen. Aber wenn die Kirchen uns jemanden mitschicken, der sie repräsentieren soll, dann wird es ein Dogmatiker sein, wie er im Buche steht."
"Mag sein. Also welche Kabine?"
"Auf unserer Seite sind nur noch die beiden am Gangende, vor der Kantine, frei. Es ist eigentlich egal. - Aber das wissen Sie doch."
"Natürlich weiß ich das. Jeder weiß das. Aber der Herr Palmer weiß das noch nicht."
Es dauert einen Moment, bis ich begreife. Fahlenbeek präzisiert:
"Ich meine, wenn in diesen beiden Kabinen zufällig ein paar persönliche Gegenstände lägen, und wenn zufällig da vorübergehend Namensschilder an den Türen wären, dann brauchte ich doch nichts davon zu wissen, oder?"
Dieser Fahlenbeek ist doch ein Kumpel. Das schafft uns zwar nicht den Priester von Bord, aber diese 'Waffenbrüderschaft' macht es leichter.
"War das Wellington's Idee?" frage ich lachend.
"Naja, nun - so ungefähr."
"Wissen Sie, was ich am liebsten ganz zufällig in diesen Kabinen auf den Kojen liegen lassen würde? Ich habe da so ein paar prachtvolle Bände über die Kriminalgeschichte des Christentums. Leider habe ich sie nicht mitgenommen. - Vielleicht gib's in Ullapool einen gut sortierten Buchladen!"
"Genau das wollen wir vermeiden. Waffenstillstand. Keine Provokation. Ist das ein Angebot?"
"Es hat ja noch keine Auseinandersetzung angefangen!"
"Wir wollen auch keine haben. - Überlegen Sie doch mal - was kann er schon machen? Stellen Sie sich mal vor, er geriete in einen Hinterhalt von Granitbeißerinnen!"
Ich stelle es mir vor. Ob so eine hypothetische Situation mehr peinlich oder mehr köstlich ist, kann ich nicht sagen. Aber Fahlenbeek hat recht: Was kann ein einzelner Priester schon ausrichten - vielleicht wird das von seinen Auftraggebern völlig falsch eingeschätzt. Er ist ja auf uns angewiesen. Nicht einmal Xonchen wird er können, und unterwegs werden wir genug zu tun haben - ich fürchte, es wird ihm niemand beibringen können.
"Wie alt ist der denn?"
"Über fünfzig, sagt Wellington."
"Prima. Dann wird er keine Feldgottesdienste halten wollen. Nicht draußen in der Welthöhle. Das wäre für manchen jüngeren zuviel."
"Er soll in den Tropen gewesen sein."
"Das ist schlecht."
"In seinen jungen Jahren."
"Das ist gut."
"Warten wir es doch erst einmal ab. Vielleicht ist er ja ganz umgänglich." beendet Fahlenbeek das Gespräch. Auch er möchte sich lieber der Landschaft widmen. "Am Ende des Sees, ein paar Kilometer weiter, ist eines der Geologen-Teams an der Arbeit. Sie sind in den letzten Tagen etwas näher auf Ullapool zugerückt. Wir werden heute Abend noch gerade eben im Hellen zurückkommen."
Ich geselle mich zu Irene, um über etwas anderes zu sprechen und Erinnerungen auszutauschen. Damals, als wir hier das erste Mal gingen, war es Juni, und das Tal lag im Sonnenschein und sah völlig menschenleer aus. Daß sich in dem Wäldchen auf seiner Nordseite ein offenbar feudales Landhaus versteckte, wußten wir noch nicht - erst wenn man vorbeikommt, kann man es sehen. Es ist das Rhidorroch House, und irgendjemand hat damals behauptet, daß da ein MP wohnt.
Aber die Straße, auf die wir jetzt bald kommen werden, ist asphaltiert, war es damals schon, also wußten wir schon von da an, daß da doch häufiger irgendein Verkehr ist. Wenn ich mich recht erinnere, war damals ein Surfer auf dem Wasser, der den ganzen See für sich hatte.
Manchmal gibt es hier auch Rinder, von einer Art, wie man sie in Deutschland nicht kennt: Geduckt, langes braunes zottiges Fell, vielleicht agressiv - letzteres herauszufinden habe ich damals vermieden, indem ich bei einer Begegnung eine Zeitlang mehr im Wasser als auf dieser Straße gegangen bin.
Über einen flachen Berghang nähern wir uns dem westlichen Seeende, wo über dessen Abfluß eine alte, halbzerstörte Bohlenbrücke führt. Die war schon damals für Fahrzeuge unpassierbar.
"Erinnerst du dich? Vor der Brücke auf dem linken Böschungshang lag ein kleines, rotes Taschenmesser, das jemand verloren hatte. Ob es jetzt noch da liegt?"
"Nach mehr als zehn Jahren?" fragt Irene. Es ist auch eine rein akademische Frage - bei dem Schnee könnten wir es nicht finden, wenn es noch da wäre.
"Und hinter der Brücke lag ein Boot am Wegesrand. Glaube ich."
"Ja. Es ist auf unseren Photos zu sehen!"
"Siehst du! Meine Erinnerung."
Die Brücke ist zu Fuß immer noch passierbar, wenn man aufpaßt, wo man seinen Fuß hinsetzt, allerdings gibt es jetzt auf beiden Seiten ein Schild, das unmißverständlich 'CLOSED' sagt. Außerdem müssen wir einen Zaun übersteigen, da das Südende der Brücke von einer Art Gehege versperrt wird - das war vor zehn Jahren noch nicht da.
Alfred Seltsam reicht Natalie Yay völlig überflüssigerweise die Hand, und ehe sie begriffen hat, daß das eigentlich nicht nötig ist, sind sie mit vorsichtigen Schritten hinüberbalanciert - was eigentlich auch nicht nötig ist. Sie bedankt sich mit einem flüchtigen Lächeln - was erst recht nicht nötig ist - und entläßt ihn - was er für unnötig hält. Ein Gespräch mit ihr anzufangen gelingt ihm auch hier nicht - aber das ist ja auch nicht nötig.
Dr. Cohausz marschiert jetzt neben Dr. Reinhardt, und beide reden miteinander. Ich kann nicht verstehen, was sie sagen. Sowie sie geringfügig verschiedener Meinung sein werden, werden wir alle verstehen können, was sie sagen - dann wird man im ganzen Tal hören können, worum es geht.
Vivian Grail unterhält sich mit Gabi Gohlmann. Trotz des Altersunterschiedes verstehen sie sich gut. Es geht um Rezepte, den wenigen, verständlichen Wortfetzen nach. Sie stehen vor dem Abenteuer ihres Lebens und tratschen über Rezepte!
Esther Petersen marschiert ganz vorne und alleine, den Blick direkt vor die eigenen Füße gerichtet. So wird sie von der Landschaft nicht viel sehen. Woran denkt sie? Direktive q78q99q? Dazu hat sie doch gar nicht die Ausbildung. Ich tendiere immer noch dazu, den Adressaten dieser Direktive unter den 'Wissenschaftlichen' zu suchen.
Neue Idee: Der Priester, der kommen soll? Ist es der? Eigentlich kaum nachzuvollziehen, daß Kleriker heute solche Pläne schmieden sollten. Wenn diese Direktive echt ist, dann ist sie auch eher in mehreren technisch orientierten Köpfen gewachsen. Außerdem haben die Kirchen in der bisherigen Geschichte auch ohne Genetik viel Unheil anrichten können. Andererseits - in der Direktive war auch von dem bedrohlichen Einfluß von Fremdreligionen die Rede. Und der laienhafte Schutz der Dateien mit der Direktive wies auch auf Beteiligte hin, deren technische Ausbildung unvollständig ist. Was soll ich nun glauben?
Fahlenbeek redet jetzt mit Amerlingen. Dinge, die das Schiff betreffen. Auch sonst überall Cliquenbildung: Die beiden Reaktoringenieure, Kufferath und Colbert, reden miteinander, und ebenso bilden Priest, Chapman und Makenzie eine Palavergruppe. Ebenso die Gruppe der Bootsleute.
Carola, Edwin und Irene bilden auch eine Gruppe für sich. Wahrscheinlich helfen sie Edwin auf diese Weise sehr effektiv über seinen Wissensrückstand von Monaten versäumter Lehrgänge in München hinweg.
Alles unauffällige, unverdächtige Leute. Meistens nette Leute.
Wir marschieren weiter. Als wir das östlichen Ende des Sees passiert haben, steigen wir über ein 'cattle grid', eine Einrichtung, die einige der Mitarbeiter noch nicht kennen. Man findet diese über einer Grube im Boden eingelassene Gitter auf Schottlands Straßen häufig - Huftiere könne da nicht hinüber, ohne sich die Haxen zu brechen, Menschen schon eher, wenn man den Fuß nicht gerade parallel zu den Gitterschienen aufsetzt - aber wozu haben wir unser Großhirn, - und PKW's können es problemlos.
"Eigentlich," bemerke ich zu Carola, Edwin und Irene, "ist es unlogisch. Da machen die so einen Aufwand, um in jeder Sekunde unseres Seins auf uns aufzupassen, damit uns ja nichts passiert, aber an der alten Brücke da hinten und jetzt hier, auf diesem Gitter, da dürfen wir uns ungehindert unsere Füße brechen."
Keiner kommentiert das, auch nicht, als die nächste Gelegenheit kommt, sich die Füße zu brechen, wenn man sich Mühe gibt: Eine kleine Straßenbrücke über einen ausgetrockneten Bach - soweit man von 'ausgetrocknet' bei einem Bach reden kann, in dem zwar kein Wasser fließt, der aber voll Schnee liegt.
"Jetzt haben wir es nicht mehr weit bis zum Geologencamp!" sage ich, "Irene, erinnerst du dich? Bis hierhin sind wir vor zehn Jahren gekommen - ungefähr. Dann sind wir umgekehrt." Sie erinnert sich. Aber sie sagt es nicht. Und die anderen interessiert es nicht.
Ein paar hundert Meter weiter kommt hinter einem flachen Hügel im Talgrund das Camp in Sicht. Es liegt rechts neben der Straße, und schon von weitem sehe ich, daß da, nicht weit von den Zelten, zwei Duocopter stehen. Kurz hinter dem Camp sind auf der linken Seite der Straße zwei kleine Cottages.
"Ich hätte wohl Lust, damit zu fliegen!" sagt Irene, die wieder neben mir geht, "Jetzt kommen doch bloß wieder technische Vorträge für euch!"
"Ich werde sehen, was sich machen läßt." verspreche ich, "Wir wissen noch gar nicht, ob Piloten im Camp sind."
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
Zurück zu meiner Hauptseite