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16. Besichtigungstour: Maschinen für die Ewigkeit
Es kam nicht ganz so, wie Wellington sich das vorgestellt hatte. Er wurde nach Brüssel beordert. Das hing wahrscheinlich auch mit Edwin zusammen, aber genaues erfuhren wir nicht. Edwin brauchte jedenfalls nicht mit nach Brüssel zu kommen.
Die Probefahrt am nächsten Tag, dem 7. Januar, würde deshalb natürlich ausfallen.
Edwin entschied sich für die Kabine 24. Er fand es bequemer, die Koje unten zu haben, und damit hätte er die Auswahl unter drei Kabinen gehabt. Kabine 18 war aber direkt vor der Kantine, und der Gang vor dieser war dort schon sehr schmal, und Kabine 6 war auf der anderen Seite, bei den Nautischen.
Der erste Offizier, von Amerlingen, kam auf die Idee, Edwin eine Erklärung unterschreiben zu lassen, in der er sich zum Stillschweigen über alles an Bord gesehene verpflichtete. Auf diese Weise mußte ihm nicht auf Schritt und Tritt jemand folgen, um aufzupassen, was er sehen durfte und was nicht.
Dann gab es weitere, ad-hoc anberaumte Führungen, weil von Amerlingen auffiel, daß, mit Ausnahme von Edwin, die meisten vom Wissenschaftlichen Personal zwar die Pläne der CHARMION weitgehend kannten, aber noch nicht alles mit eigenen Augen gesehen hatten. Außerdem hatte Welington ja selbst so etwas angekündigt.
"Wenn er selber sein Boot vorführen möchte, dann hat er eben Pech gehabt." erklärte von Amerlingen. Als wir losstiefelten, bemerkte er noch, daß man das 'von' in seinem Namen weglassen sollte, wenn man ihn anredete: "Ich habe es mir nicht ausgesucht - ich bin damit geboren worden!" sagte er. Sofort rutscht er in meinem Ansehen ein bißchen höher.
Die Zentrale befand sich im Mitteldeck gleich hinter den Niedergängen unter der Einstiegsschleuse. Sie füllte die gesamte Breite des Bootes aus und war acht Meter lang, wurde also durch eine der Spantenscheiben in eine vordere und eine hintere Hälfte geteilt.
Sie sah überhaupt nicht wie eine U-Boot-Zentrale aus, sondern, auf dem ersten Blick, etwa genauso wie unser Computer- und Auswerteraum im Oberdeck des vorderen Teils des Schiffes. Das heißt, jede Menge Computerkonsolen. Die üblichen hochauflösenden Bildschirme, Tastaturen, Trackballs. Die bequemen, verstellbaren Sitze waren wie in unserem Auswerteraum in Führungsschienen im Boden befestigt, hatten aber zusätzlich Gurte zum Anschnallen. Das macht Sinn, dachte ich - in der Zentrale muß ja noch gearbeitet werden, wenn es um die Existenz des Bootes geht - und dann ganz besonders. Da hat man eventuell keine Hand frei, um sich irgendwo festzuhalten. Als ich Amerlingen darauf ansprach, klärte er mich darüber auf, daß ich die Sitze in unserem Arbeitsraum hätte genauer ansehen müssen - sie haben sehr wohl Anschnallgurte. Nur da es sehr unwahrscheinlich ist, daß man dort tätig ist, wenn das Boot sich in turbulenten Situationen befindet, seien die Gurte hinter den Sitzen verschnallt, so daß sie im Normalfall weder auffallen noch stören.
Was ebenfalls fehlte, war die Säule des Sehrohrs - die CHARMION hatte ja kein Periskop. Druckfeste Außenkameras waren zuverläßiger und benötigten nur Durchführungen für Energie- und Signalleitungen. An sich war diese Designentscheidung leicht verständlich, wenn man sich klarmacht, daß in zehn Kilometer Tiefe auf ein ausfahrbares Rohr von bloß 10 Zentimeter Durchmesser eine Kraft von fast 80 Tonnen wirkt und versucht, dieses Rohr wieder in das Schiff zurück zu rammen. Eine schwere Mechanik müßte die Bedienung eines solchen Periskopes unterstützen, und da wäre eine zusätzliche Schwachstelle im Druckkörper, zusätzliche Hochdruckdichtungsringe, die auch noch gleitfähig sein mußten, und so weiter. Alles technisch praktisch unlösbare Probleme.
Ein weiterer Unterschied zu unserem Arbeitsraum war, daß die meisten Bildschirme ständig in Betrieb waren. Alles, was technisch an Bord vor sich ging, wurde dort in Graphiken und Zahlenangaben dargestellt, zu jeder Zeit. Es gab auch Anzeigen und Meßgeräte, die nicht von Rechnern verwaltet wurden - für den äußersten Notfall, wie uns erklärt wurde. Ein Notfall, der alle Rechner lahmlegte, würde aber praktisch das Ende des Bootes bedeuten.
In der Mitte der Zentrale gab es einen zwei mal drei Meter großen Tisch, der in der Spantenscheibe verankert und in Längsrichtung des Bootes positioniert war. Ich hatte einmal etwas von einem 'Koppeltisch' gehört, der an Bord von Schiffen verwendet wird, um dort die Karten auszubreiten und dem Navigationshandwerk nachzugehen. Ich lag gar nicht so falsch - dieser Tisch konnte als Tisch verwendet werden, und er hatte eine Oberfläche, die stabil genug war, um darauf zu tanzen, wenn das bei der niedrigen Raumhöhe an Bord möglich gewesen wäre. Aber der Tisch war ein Bildschirm - noch höher auflösend als alle anderen an Bord. Natürlich wurden auch der CHARMION auch die gesamten Karten in den Computern gehalten - alle Karten, die jemals von den Vermessungsbehörden der ganzen Welt herausgegeben worden waren, sagte Amerlingen.
"Sie können auf das Kartenmaterial natürlich über jeden Bildschirm zugreifen, aber dieser Tisch hat wesentlich mehr Bildpunkte. Hier, die Tastaturen an den Stirnseiten funktionieren so wie bei allen anderen Terminals an Bord. Das gleiche gilt für jenen Bildschirm dort."
Mit gewissem Stolz in der Stimme wies er auf den raumhohen Bildschirm in Fahrtrichtung, der mit drei Metern Breite und zwei Metern Höhe dieselbe Fläche wie der Tisch hatte und sich etwa einen Meter vor der vorderen Stirnwand der Zentrale befand. Der schmale Raum zwischen Bildschirm und Wand beherbergte noch allerlei Geräte, Schränke, eine Spüle, Kaffeemaschine, einen kleinen Eisschrank, diverse Lebensmittel und Getränke. Eine sehr enge Miniaturküche. Das machte Sinn - wenn wenige oder nur einer Wache hatte, dann sollte derjenige nicht gezwungen sein, einen leeren Magen zu erdulden oder sich in die weit entfernte Kantine zu begeben, oder gar bis zu den Vorratsräumen im Unterdeck.
"Diese beiden Bildschirme haben etwa dieselbe Pixelgröße wie die üblichen Terminals hier an Bord," fügte Amerlingen hinzu, "daraus können Sie ausrechnen, daß es sich um 131072 mal 196608 Pixel handelt. - Sie kriegen sicher raus, wie diese Zahlen zustande kommen!"
Zur Demonstration ließ er auf beiden Bildschirmen Karten der näheren Ugebung auftauchen. Beeindruckend. Der Detailreichtum war besser als der eines Meßtischblattes. Man konnte diese Karten näherzoomen oder wieder verkleinern - stufenlos. Dabei war leicht festzustellen, daß diese Karten nicht etwa pixelweise gespeichert waren, sondern daß man offenbar eine eigene Symbolsprache für Landkarten geschaffen hatte, eine Art maßstabsabhängiges Postscript, und daß man eine immense Menge von Kartenmaterial in diese Sprache überführt hatte. Wenn man auf einen Kartenausschnitt zufuhr, dann tauchten immer mehr Details auf - neue Höhenlinien, genauere Umrisse der Ortschaften, neue Namen, schon vorhandene Namen wechselten kontinuierlich ihre Schriftgröße. Amerlingen zeigte uns noch weitere Kunststücke: Jeder hat es sicher schon einmal erlebt, daß ein großer Buchstabe auf einer Landkarte ein Detail verdeckt. Hier konnte man Ortsnamen verschieben, selbst weitere Dinge in die Karte einfügen, Schriften und Symbole transparent machen, wenn es der Übersichtlichkeit dienlich war, und all diese Differenzinformation mit der Karte zusammen abspeichern. Fortan hatte man dann mehr als eine Version der Karte.
"Es hat noch sehr viel mehr Möglichkeiten, als ich es Ihnen jetzt zeigen kann. Sie können in ihren Kabinen und auf jedem anderen Terminal beliebig mit dem System herumspielen! Nur hier werden wir unterwegs etwas anderes zu tun haben. - Mit dem Kartographie-System kennt sich Herr Makenzie am besten aus. Ihn können Sie über Einzelheiten befragen."
Gedankenlos sagte ich: "Bei Gebirgen wäre eine perspektivische Darstellung interessant!"
"Habe ich gesagt, daß das nicht geht?" fragte Amerlingen, "Da! Jeder Beobachtungsort, jeder Blickwinkel. Ja, und für die, die schon mal einen Flugsimulator auf einem PC kennengelernt haben - sowas haben wir natürlich auch. Über diesen Karten können Sie fliegen üben!"
Ich nahm mir vor, mich damit noch näher zu befassen. Amerlingen hatte uns aber noch mehr zu zeigen.
Das Boot konnte praktisch mit einem Finger gesteuert werden, wenn nötig, von jedem Arbeitsplatz aus, nicht nur in diesem Raum, sondern auch von jedem anderen Terminal. Neben den technischen Darstellungen des Reaktors, der Schiffsmaschinen und der Lage des Bootes und seiner unmittelbaren Umgebung wurden auch ständig Bilder der Außenkameras gezeigt. Ich war überrascht, wie detailreich das dreckige Fundament der Kaimauer zu sehen war. Das lag daran, daß das Boot dicht neben der Kaimauer lag, wir erfuhren aber, daß auch wesentlich verschwommenere Bilder numerisch aufbereitet werden konnten, bis sie unter besten Sichtbedingungen aufgenommen zu sein schienen. Man konnte auch Bilder aus dem Inneren des Bootes einblenden, etwa aus dem Maschinenraum oder aus dem Reaktor oder aus jedem anderen Raum.
Von Amerlingen hielt sich nicht lange mit der Zentrale auf - unterwegs würde das interessanter sein. Wir gingen eine weitere Abteilung nach hinten.
Die nächste Sektion des Bootes im Mitteldeck war zunächst ein zentraler, vier Meter langer Gang. Rechts und links war das Krankenrevier - steuerbord Operationssaal mit Operationstisch und Zahnarztstuhl, backbord ein Raum mit vier Krankenliegen. Verglichen mit unseren Kabinen unheimlich geräumig. Amerlingen bemerkte, daß es gelegentlich vorkam, daß jemand hier nächtigte, solange es keine stationäre Kranken gab. Auch konnte man sich während einer langen Nachtschicht in der Zentrale hier ausruhen und das Luk zur Zentrale offenlassen. Aber jetzt, wo Dr. Morton an Bord war, würde dieses wohl unterbunden werden.
Wenn nötig, sagte Amerlingen, könnte man hier mehr als vier Kranke unterbringen, und in der Zentrale konnte man Lager einrichten, und viele Kranke konnten auch in ihren eigenen Kojen betreut werden, wenn nicht gerade intensivmedizinische Betreuung notwendig war. Aber mit einem solchen Anfall an Krankheitsfällen war unter den 28 Besatzungsmitgliedern nicht so schnell zu rechnen.
"29!" bemerkte ich, und Edwin grinste verschämt.
"Das wissen wir noch nicht. In Brüssel malen die Mühlen langsam." stellte Amerlingen fest, "Übrigens, falls es Sie interessiert - wir haben auch die gesamte medizinische Literatur der Welt an Bord! So, wie jede andere Literatur auch. Wenn der Bordarzt etwas nicht weiß - in unseren Rechnern findet er alles. Sie können ganz beruhigt schwerkrank werden."
Ich hörte, wie Carola etwas zu Edwin flüstert. Vielleicht versichert sie ihm, daß sie seine fachliche Mitarbeit braucht und mit Nachdruck darauf hinweisen wird.
Dann die nächste Sektion. Darauf bin ich am neugierigsten:
Der Fleischmann-Pons-Reaktor!
Dieser vier Meter lange Abschnitt, der in der vollen Höhe und Breite des Bootes den Reaktor und die meisten seiner Nebenaggregate beherbergt, ist das Reich der Reaktoringenieure Sebastian Colbert und Ernst Kufferath. Colbert ist anwesend und gibt die Erklärungen. Er wartet zunächst noch, bis alle sich auf dem zentralen Gang gesammelt haben. Es wird etwas eng auf diesen bloß vier Quadratmetern des Ganges, weil jeder nur ungefähr einen viertel Quadratmeter zum Stehen hat.
Mir direkt gegenüber steht die Gabi Gohlmann. Sie ist in Ansätzen schüchtern und schaut einem nicht in die Augen, es sei denn, man spricht mit ihr. Wenn ich die verschiedenen Mitglieder der Expedition durchgehe, an wen mit welcher Wahrscheinlichkeit die Direktive q78q99q gerichtet sein könnte, dann wäre sie sicher auf dem unteren Ende der Wahrscheinlichkeitsskala. Aber so richtig traue ich das ja niemandem zu: Das obere Ende der Wahrscheinlichkeitsskala ist leer. Und irgend jemand muß es sein.
Und ich muß herausfinden, ob die Direktive echt ist und an wen sie gerichtet ist. Denn derjenige oder diejenige bedroht jeden an Bord, ganz besonders Irene, die vor aller Ohren erkennen ließ, daß sie die Direktive kennt. - Ich behalte Irene deshalb besonders im Auge, auch wenn ich nicht damit rechne, daß gerade jetzt jemand sie über das Geländer stößt, in der Hoffnung, daß sie dabei zwischen den Eingeweiden des Reaktors umkommt. Die Fallhöhe wäre bloß zwei Meter, und man würde auch riskieren, daß sie keine spannungsführenden Teile berührt und daß sie auf keiner scharfen Kante aufschlägt und deshalb gar nicht zu Schaden kommt - nein, hier ist ein Anschlag unwahrscheinlich.
Immerhin - sobald wir erst losgefahren sind, ist die Irene sicherer. Bis dahin sollte ich sie eigentlich dauernd im Auge behalten. Und noch perverser: Ich muß mich selbst in die Situation desjenigen hineinversetzen, der Irene vielleicht aus dem Weg räumen will. Nur dann kann ich zeitgleich mit diesem erkennen, wann die Gelegenheit dazu günstig ist und Gegenmaßnahmen treffen.
Nur hier und jetzt würde ich, als Adressat der Direktive q78q99q, nichts unternehmen. Nicht vor aller Augen.
Dieser Gang ist eine Verlängerung des Ganges, der durch das Krankenrevier führte und genau in der Bootsmitte verläuft. Damit läuft er auch mitten durch den Reaktor hindurch. Die Geländer sorgen dafür, daß niemand herunterfällt. Rund um uns herum ist eine verwirrende Vielfalt von großen Metallgefäßen, Rohren aller Durchmesser, Kabel und Abstandhalter. Kaum, daß man die Bootswand in irgendeiner Richtung sieht.
Manche der Rohre strahlen eine bedrohliche Hitze aus, und in der Luft ist der Duft von 'Volt und Ampere', wie die Physiker und Ingenieure sagen, wenn die den Geruch von betriebswarmen Isolationsmaterialien und sprühentladungserzeugten Stickoxiden und Ozon meinen.
Colbert erzählt zunächst etwas über die Geschichte des FP-Reaktors. Nicht alles, was wir hören, ist in der Öffentlichkeit allgemein bekannt.
Als Fleischmann und Pons mit ihren Experimenten und voreiligen Veröffentlichungen im Jahre 1989 so spektakulär gescheitert waren, wuchs allmählich Gras über die Sache. Aber natürlich blieben Zweifel. So, wie manche unverbesserliche Optimisten bis zum heutigen Tage dem Perpetuum Mobile zweiter Art nachjagen, so reizte der Gedanke an die Kalte Fusion jeden, der mit Fleisch und Blut Physiker war.
War es nicht sehr plausibel, daß in einem Kristallgitter eindiffundierte Deuteriumkerne, ihrer elektrischen Abstoßung durch die Wechselwirkung mit dem Kristallgitter weitgehend beraubt, durch quantenmechanische Effekte, also ganz besonders durch den Tunneleffekt, tatsächlich mit großer Wahrscheinlichkeit fusionieren konnten? Und mehr noch: War es nicht sogar denkbar, daß man mit reinem Deuterium sogar eine Fusion mit Helium als Endprodukt bekommen konnte? Reines, umweltfreundliches Helium, keine Neutronen, keine sonstige Radioaktivität, die Abgabe der erzeugten Energie direkt an das Kristallgitter des Palladiums? Schweres Wasser rein - Wärme und Helium raus. Was kann einfacher sein?
Die Suche ging weiter, in vielen Labors, auf der ganzen Welt. Heute weiß man, daß geringe Fusionsraten sehr leicht zu erzielen sind, sogar mit dem Original-Versuchsaufbau von Fleischmann und Pons. Aber der Nachweis von Wärmemengen im Mikro- und Nanowattbereich ist natürlich schwierig, und der Nachweis von entstandenem Helium, das sich ausgerechnet in jenen Kristallfehlstellen festsetzen möchte, die die Kalte Fusion katalysieren, ist auch nicht einfach. Festkörpergebundenes Helium ist spektroskopisch nicht nachzuweisen. Wenn man jedoch die Elektrodenprobe in einem Lichtbogen verdampft, dann kann man eigentlich immer nachweisen, daß das Helium, das sich durch rudimentäre Spektrallinien verrät, sich noch auf anderem Wege in die Versuchsanordnung geschlichen haben könnte.
Die seit einigen Jahren von der EG geförderte, inzwischen recht hochentwickelte Halbleiterschaltkreistechnologie ermöglicht, Metalle und Metallegierungen sehr gezielt zu manipulieren, und zwar im allerkleinsten, auf der Designebene der Kristallgitter und ihrer Defektstrukturen. Aufbauend auf Arbeiten, die bereits in den Siebziger Jahren in einer kleinen Universität in Deutschland gemacht worden sind, gelang es, in Palladium-Titan-Mischkristallen Kristalldefekte zu erzeugen, die eingedrungene Wasserstoff- und Deuteriumkerne mit immensen, mikroskopisch kleinen Potentialwällen im Kristall komprimierten. Dabei stellte sich ein thermodynamisches Gleichgewicht zwischen dem Partialdruck des Wasserstoffes oder des schweren Wasserstoffes außerhalb des Kristalles und der Konzentration dieser Kerne in den besagten Fehlstellen im Kristall ein. Eine Änderung des Druckes außen bewirkte eine Änderung der Wasserstoff- und Deuteriumkonzentrationen im Kristall, bei höheren Temperaturen schneller, bei tiefen langsamer. Das war schon fast alles, was den Weg zur Konstruktion des F-P-Reaktors ebnete.
Während Colberts Erklärungen sehe ich mich ein paarmal um. Für jemanden ohne physikalische Vorkenntnisse ist jetzt wahrscheinlich nur noch Bahnhof zu verstehen. Aber niemand läßt sich das anmerken.
Es ist tragisch, sagt Colbert, daß weder Fleischmann und Pons noch die Mitarbeiter jener kleinen Universität in Clausthal im Oberharz wegen der von der EG verfügten Geheimhaltung jemals erfuhren und erfahren werden, welche Ergebnisse ihre Arbeiten schon wenige Jahre später zeitigten. Aber welcher Zeitgenosse hätte um 1970 bis 1990 die richtigen der vielen verschiedenen Wege in der Forschung zu jener Zeit zusammenführen können? So hatte man in Clausthal niemals Energieerzeugung im Auge - die Intentionen, die hinter der Forschung in Sachen Kristallfehlstellen standen, bezogen sich ausschließlich auf die Mikroelektronik. Vielleicht aus diesem Grunde hat sich die Bezeichnung Fleischmann-Pons-Sarkowski-Labusch-Doeding-Seuter Reaktor, die eigentlich angemessen gewesen wäre, nie durchgesetzt - aber vielleicht liegt das auch an der Länge dieser Bezeichnung.
Nachdem die ersten Palladium-Titansplitter Leistungsdichten von mehreren Milliwatt pro Gramm erreicht hatten, begann sofort gezielt die Entwicklung der F-P-Reaktoren. Zunächst wurde die Anzahl der geeigneten Kristalldefekte stark erhöht, bis man bei achtzehn bis fünfundzwanzig Watt pro Gramm Palladium-Titan-Legierung anlangte. Es zeigte sich allerdings, daß die mögliche Dichte der Defekte mit steigender Temperatur wieder abnahm. Bei den für eine Energieerzeugung interessanten Temperaturen konnten pro Gramm aktives Material höchstens drei Watt erzeugt werden. Diese maximale Leistung nahm dann nur noch langsam im Laufe der Zeit ab - nach vielen Jahren kontinuierlicher Energieproduktion waren es noch zwei Watt, nach vielen Jahrzehnten nur noch ein Watt pro Gramm.
Kurzfristig sinkt die Energieproduktion allerdings aus einem anderen Grunde: Das erzeugte Helium besetzt die aktiven Kristalldefekte. Unternimmt man nichts, dann fällt die Leistung eines F-P-Reaktors nach wenigen Stunden auf unmeßbar geringe Werte. Die Deuteriumkerne gelangen nicht mehr dahin, wo sie fusionieren können, weil ihnen die Heliumkerne im Wege stehen.
Das Helium treibt man genauso aus den Kristalldefekten heraus wie man das Deuterium hineingetrieben hat: Man hält einfach die Außenkonzentration des Heliums so niedrig wie möglich. Um die Ausdiffusion von Helium aber noch zu beschleunigen, läßt man einen F-P-Reaktor in regelmäßigem Rhytmus etwas heißer arbeiten. Dieses geht allerdings nur sehr kurzzeitig, da bei zu hoher Temperatur auch die Dichte der aktiven Kristalldefekte weiter abnimmt - die Kristalldefekte 'heilen aus'. Daraus folgt, daß die ideale Konstruktion des aktiven Palladium-Titan-Materials eine sehr dünne Folie ist, die das Ausdiffundieren des Heliums auch bei kurzzeitigster Temperaturerhöhung in den Ausheizungszyklen erleichtert. Deshalb besteht bei modernen F-P-Reaktoren das aktive Material, das bei großen Leistungsreaktoren ja einige hundert Tonnen umfassen kann, aus einem Gewebe feinster Palladium-Titan-Folien, die von schwerem Wasser mit hoher Strömungsgeschwindigkeit umspült werden. Dadurch ist die Temperatur über den gesamten Reaktorkern sehr konstant und läßt sich präzise und schnell regeln. Ein F-P-Reaktor verträgt schon wenige Grad Übertemperatur sehr schlecht, weil dann die Qualität des aktiven Materials schnell abnimmt. Deshalb kann man ihn auch nicht ohne leistungsfähige Computer bauen, insbesondere auch dann, wenn die Lastanforderungen häufig wechseln.
Auch das, sagt Colbert, ist einer der Gründe, warum die CHARMION ohne Computersteuerung nicht auskommt. In jeder Sekunde werden Milliarden und Abermilliarden Rechneroperationen nur für den Reaktor verbraten, und noch vor wenigen Jahren hätte die benötigte Rechenleistung nur von einem Computerkomplex erbracht werden können, der mehr Strom verbrauchte als der Reaktor erzeugte!
Die Notwendigkeit einer effektiven Regelung ist auch durch die starke Druckabhängigkeit eines F-P-Reaktors bedingt. Eine Erhöhung der Leistung führt zu einer Temperaturerhöhung, die, wenn man sonst nichts weiter unternimmt, auch den Druck ansteigen läßt. Das bedeutet aber, daß die Leistung sofort weiter steigt. Man hat blitzartig die Temperaturen erreicht, bei denen das aktive Material durch Ausheilung der Kristalldefekte seine Aktivität verliert. Praktisch von einer Sekunde zur anderen hat man nur noch ein Druckgefäß mit heißem Wasser drin, das langsam abkühlt. Schon dieser Effekt alleine bewirkt, daß man einen F-P-Reaktor ohne computergesteuerte Druckregelung gar nicht in Betrieb nehmen kann, ohne ihn sogleich kaputtzumachen.
Es gibt aber noch mehr konstruktiven Schwierigkeiten. Wegen der Heliumvergiftung des aktiven Materials muß das Helium sehr effektiv aus dem Primärkreislauf entfernt werden. Und nicht nur das Helium. Es muß auch peinlich genau darauf geachtet werden, daß sich kein normalschwerer Wasserstoff in den Primärkreislauf verirrt. Der diffundiert nämlich auch sehr gerne in das aktive Material und geht mit Deuteriumkernen Fusionen ein. Es entsteht dann entweder Helium-3, ein Isotop des Heliums, oder Tritium unter Erzeugung eines Positrons. Das Positron reagiert mit irgendeinem Elektron und erzeugt dabei harte Gammastrahlen. Und der Tritiumkern verliert auch seine Unschuld: Unter den Bedingungen der Kristalldefekte fusioniert er auch mit einem anderen Deuteron. Dabei entsteht ein freies Neutron. Und das treibt in dem aktiven Material allerhand Unfug. Unter anderem können die Palladium- und die Titan-Atomkerne selbst dieses Neutron einfangen und dabei Kernreaktionen auslösen, die eine ganze Reihe neuer Stoffe erzeugt, die meisten davon radioaktiv. Auch das Helium-3, das bei der Anwesenheit von normalschwerem Wasserstoff entsteht, ist noch bei einer ganzen Reihe ungewollter und störender Nachfolgereaktionen beteiligt.
Unter dem Strich bewirkt also die Anwesenheit geringster Spuren normalschweren Wasserstoffs eine radioaktive Verseuchung des aktiven Materials, das außerdem seine Eigenschaft als aktives Material verliert - die Kristalldefekte werden zerstört. Fremdatome haben in dem aktiven Material überhaupt nichts zu suchen. Das ist der Grund, warum der Primärkreislauf eines F-P-Reaktors reinstes Schweres Wasser - oder in einigen früheren Bauformen reinstes Deuteriumgas - enthalten muß und auch dauernd von allen neuentstandenen Fremdstoffen gereinigt werden muß. Auch die Anlage, die die Abscheidung von Fremdatomen macht, ist rechnergesteuert - sie ist nämlich noch viel komplizierter als der eigentliche Reaktor.
Nichtdestoweniger hat ein F-P-Reaktor auch sehr viele angenehme Eigenschaften. In früheren Modellen wurde die Deuteriumkonzentration im aktiven Material noch durch Elektrolyse künstlich erhöht. Das hatte den Vorteil, insbesondere bei kleinen Elektrodenabmessungen, daß die Leistung sehr rasch verändert und damit auch schnellstens abgeschaltet werden konnte. So eine Eigenschaft ist der Sicherheit durchaus förderlich.
Allerdings stellte sich dann heraus, daß Stromkonzentrationen an manchmal nur mikroskopisch kleinen scharfen Kanten des aktiven Materials die lokale Temperatur zu stark ansteigen ließen und auf diese Weise die Kristalldefekte ausheilten. Das aktive Material wurde gerade da inaktiv, wo durch hohe Stromdichten die höchsten Deuteriumkonzentrationen erreicht worden waren - auch dieses war in den frühen Experimenten ein Grund gewesen, daß viele im Prinzip funktionsfähige Versuchsaufbauten schon kurz nach Inbetriebnahme nicht mehr funktionieren konnten.
Außerdem mußte die Leitfähigkeit des schweren Wassers durch Zugabe von chemisch reinster Kalilauge oder einem anderen Elektrolyt erhöht werden. Das machte die Schwerwasserreinigung viel schwieriger und führte zu unübersehbar vielen chemischen Nebenreaktionen im Reaktor. Dazu kam, daß sich lokal doch immer wieder echte Elektrolyse-Reaktionen abspielten, so daß man auch dauernd freien Sauerstoff und freien Schweren Wasserstoff im System hatte. Das wiederum machte die Druckregelung aufwendig und den gesamten Betrieb bei größeren Anlagen gefährlich.
Deshalb ist man in modernen F-P-Reaktoren dazu übergegangen, die Eindiffusion von Deuterium in das aktive Material allein durch hohen Druck zu bewerkstelligen. Es hat sich herausgestellt, daß das die sauberste Lösung ist. Es ist immer noch möglich, die Energieerzeugung im Reaktor in Sekunden runterzufahren, indem man den Druck von weit über 2000 Bar auf etwa 300 Bar zurücknimmt.
Eine andere - die teuerste - Möglichkeit der Schnellabschaltung ist einfach die, den Reaktor heißlaufen zu lassen. Wenn das aktive Material nur für Minuten um fünfzig Grad heißer ist als die normale Betriebstemperatur, oder nur für Sekunden um achtzig Grad heißer, dann sind alle Kristalldefekte kaputt. Es wird keine Energie mehr erzeugt. Der Reaktor kühlt aus - einfach so. Dann kann man das Schwere Wasser wieder in Vorratsbehälter umfüllen, das nicht mehr aktive Material ausbauen und als Rohstoff verwenden, für dieselbe Menge neuen aktiven Materials.
Das ist der Grund, warum man keine Angst vor einer Explosion eines F-P-Reaktors haben muß. Ein F-P-Reaktor geht unauffällig kaputt. Eine Leistungsexkursion kann er nur haben, wenn diese vermehrte Leistung auch sofort abgeführt wird. Das hieße aber, daß alle beteiligten Regelsysteme völlig in Ordnung sind.
Es gibt allerdings eine Methode, einen F-P-Reaktor zu demolieren, indem man nämlich die Druckabhängigkeit der Reaktion ausnutzt: Man fängt mit einem kalten Reaktor an und setzt den Primärkreislauf unter den höchsten Druck, den die Zuführungspumpen aufbringen können. Das sind etwa 3500 Bar. Dann schließt man alle Ventile und legt auf diese Weise die Druckregelung lahm.
Der Reaktor wird schnell seine Betriebstemperatur und etwas darüber erreichen. Dann geht das aktive Material zwar kaputt, aber der Druck steigt weiter auf über viertausendfünfhundert Bar. Und da liegt irgendwo die Grenze dessen, was der Primäre Druckbehälter aushalten kann. Bei einer gesunden Reaktorkonstruktion würden jetzt schon eine Vielzahl von Sicherheitsventilen den heißen, aber sonst harmlosen Schwerwasserdampf ins Freie gelassen haben. Wenn das aber nicht geht, dann bricht der Druckbehälter auseinander. Dann allerdings wird das überhitzte Schwerwasser explosionsartig verdampfen und alles in der unmittelbaren Umgebung zertrümmern - eine ganz normale Kesselexplosion eben. Wie bei einer Dampfmaschine.
Colbert faßt zusammen:
"Das also sind die Schwierigkeiten beim Betrieb eines FP-Reaktors: Erstens braucht man einen höheren Druck im aktiven Medium als der Außendruck, für den dieses Boot gebaut ist, zweitens die immense Reinheit des Schwerwasserkreislaufes und drittens der hohe Bedarf an Rechenleistung. Richtige Gefahren gehen von ihm nicht aus."
"Und was passiert, wenn die Schwerwasserreinigung nicht so hundertprozentig ist?" Das war Dr. Cohausz. Die naheliegende Frage eines Chemikers, denke ich.
"Dann wird das Schiff in Neutronen gebadet. - Wenn das jetzt passierte, etwa wenn jetzt einige Liter Leichtwasser in den Primärkreislauf gelangten, dann kämen wir alle nicht schnell genug aus dem Raum heraus. In ein paar Tagen wären wir alle tot. Wer in diesem Raum drinbliebe, hätte es nach 10 Minuten hinter sich."
"Und das nennen Sie 'keine richtigen Gefahren'?"
"Der Reaktor wird dauernd überwacht. Beim kleinsten Anzeichen einer Fremdmaterialverseuchung wird er abgeschaltet. Aber es dürfte sehr schwer sein, Fremdmaterial in einen Flüssigkeitskreislauf zu bringen, der unter einem Druck von mehr als 2000 Bar steht."
Ich möchte auch etwas wissen: "Dieses Überhitzen, das die Kristallfehlstellen ausheilen lassen kann, wie kann man das rückgängig machen?"
"Mit Bordmitteln gar nicht. Diese Palladium-Titanfolien müssen in spezialisierten Labors hergestellt oder re-aktiviert werden."
"Und wenn einem dieses Mißgeschick doch passiert ist?"
"Es passiert nicht - die Rechner lassen es nicht zu!"
"Und wenn doch?"
"Ist der Reaktor hin."
"Und das Boot muß mit Batterien betrieben werden."
"Soviel Batterien hat das Boot nicht, daß damit ein längeres Betreiben möglich ist. Schon aus Gewichtsgründen kann die CHARMION nicht solche Batterien an Bord haben, wie dies bei den alten, nichtnuklearen U-Booten nötig und üblich war. Der Reaktor MUSS funktionieren! - Und er wird funktionieren. Ist das beste Stück Technologie in Europa."
Eingebildet ist dieser Sebastian Colbert gar nicht. Aber ich habe den Eindruck, daß man sich hier etwas zu sehr auf das Funktionieren vieler ineinander greifender technischer Systeme verlassen hat.
"Dieser Reaktor," sagt Colbert, "ist nur das zweitschwerste Stück Ausrüstung an Bord. Das schwerste ist der Druckkörper selber, der den größten Teil der Bootsmasse bildet."
Dann redet er noch etwas über die verwendete Hochdrucktechnologie. Ich verstehe, daß man Druckbehälter mit einer Herstellergarantie von über 3000 Bar gar nicht gescheit bauen kann. Druckleitungen bis ein paar hundert Bar - da kennt man sich aus. Jede Stahlflasche für technische Gase ist für diese Drucke gebaut. Also bleibt man konstruktiv bei Druckdifferenzen in dieser Größenordnung.
Und so ist es auch im wesentlichen gemacht: Das aktive Material befindet sich in konzentrischen Druckrohren, wobei jedes Druckrohr maximal weitere 360 Bar zum Gesamtdruck hinzufügt. Auf diese Weise hat man eine ganze Reihe von Kühlmittelkreisläufen, die sorgsam druckgeregelt werden müssen, damit keine Druckdifferenz größer als 300 Bar wird, und die alle variable Anteile an der erzeugten Wärme abführen. Auch das ist alles ohne Rechnersteuerung nicht zu schaffen.
Dann gibt es noch ein Problem. Der FP-Reaktor arbeitet bei nicht allzuhohen Temperaturen. Das heißt, wie jeder Physikstudent weiß, daß der thermodynamische Wirkungsgrad bei der Herstellung elektrischer Energie nicht besonders groß ist. Für jedes Kilowatt Strom entstehen noch einmal drei Kilowatt Wärme. Und die müssen abgeführt werden.
Dazu, sagt Amerlingen, gibt es nur die Möglichkeit, Wärmetauscher außerhalb des Druckkörpers zu verwenden. Diese Wärmeaustauscher, für den Raktor und für die Klimaanlage, die wir noch kennenlernen werden, bilden den umfangreichsten Teil der Maschinerie außerhalb des Druckkörpers, neben den Schwimmtanks, oder genauer, den äußeren Tauchtanks. Ihre Konstruktion ist sehr einfach - da draußen seien hunderte von Kilometern Rohrleitungen in dicken Batterien angebracht, um rechts und links des Schiffes einen intensiven Wärmeaustausch des Kühlmittels mit dem Meerwasser zu ermöglichen. Diese Rohre haben einen geringen Durchmesser und sind deshalb sehr druckfest. Für die maximalen Tauchtiefen reicht es jedenfalls. Auch die Durchführungen machen wenig Probleme.
"Was ist das für ein Kühlmittel?" frage ich.
"Wasser. Reinstes Wasser. Purissimum. Ist immer noch das beste, wegen der hohen Wärmekapazität. Und wenn das Wasser rein und de-ionisiert ist, dann hat man keine Probleme mit Korrosion. Schon gar nicht bei den Werkstoffen, die wir verwenden."
"Und das Meerwasser? Bei den Austauscherrohren draußen?""
"Ich zahle Ihnen ein Jahresgehalt, wenn Sie einen technischen Gegenstand an Bord finden, den Sie mit Meerwasser zum Rosten bringen können!"
"Auf das Angebot komme ich zurück!" sage ich, und die meisten lachen.
"Einen Gegenstand, der zum U-Boot gehört!" detailiiert Colbert seine Aussage.
Er versucht uns noch, einige Dinge im Reaktor zu identifizieren. Wir stellen nur mit Bewunderung fest, daß er sich auskennt - Einzelheiten kann ich mir nicht merken. Wir alle nicht, und als wir diese Sektion verlassen und die nächste betreten, werden die meisten schon vergessen haben, wo die Reaktionsrohre liegen, und wo die Zuleitungen zu den Kompaktturbinen und Stirlingmaschinen.
Auch diese Abteilung nimmt noch die ganze Höhe des Bootes ein, und die Zwischenböden der Decks existieren nur als Gänge mit Geländern, die quer durch die ganze Maschinerie führen.
Auch noch Aggregate für den Reaktor. Und Pumpen, jede Menge Pumpen. Wasser, Druckwasser, und Druckschwerwasser für den Reaktor. Heiß-, Kalt- und Warmwasser aus der Klimaanlage, für das gesamte Boot. Ionenaustauscher.
"Die großen Aggregate da unten, die wie Transformatoren aussehen, das sind unsere vier Vortriebsenergiewandler. Vier mal ein Megawatt. Das reicht ja. Es sind auch Transformatoren, im Prinzip, und sehr schnell schaltende Leistungshalbleiter."
"Wo sind denn die Schraubenwellen?" Das war wieder der Cohausz. Gerade hatte ich auch begonnen, mich das zu fragen.
"Haben wir nicht. Für Schraubenachsen hätte man große Bohrungen im Druckkörper gebraucht. Dichtungsringe. Schwere Achsenlager. Und die andere Möglichkeit, über Druckrohre Wasser von außen an Turbinen heranzuführen und wieder über Druckrohre auszuwerfen, wurde von den Konstrukteuren auch für unsicher gehalten. Nicht geeignet für diese Tauchtiefen. Da wären auch wieder zu große Rohrdurchmesser notwendig gewesen."
Ich erinnere mich an ein Konzept, ein U-Boot dadurch lautlos zu machen, indem man die Vortriebsschrauben in Tunneln, die das Boot längs durchzogen, unterbrachte. Die Schraubengeräusche - Kavitationsgeräusche und dergleichen - wurden dann abgeschirmt. Aber es zeigte sich, daß andere Geräuschquellen entstanden, etwa Flüssigkeitsschwingungen in diesen Rohren, die dann von einem gegnerischen U-Boot genauso gut geortet werden konnten. Das, der geringere Wirkungsgrad und die konstruktiven Schwierigkeiten hatten dafür gesorgt, daß sich das Konzept bei militärischen U-Booten doch nicht durchsetzte. Immerhin war die Idee gut genug, in einem Roman verwendet zu werden, der vor etwa acht oder neun Jahren erschienen war. Als ich Clancy's 'The Hunt for Red October' das erste Mal las, gab es die große Ost-West-Konfrontation gar nicht mehr, und das ganze laß sich deshalb schon wie ein Geschichtsbuch.
"Nein, die CHARMION hat etwas besseres." fährt Colbert fort und lenkt meine Aufmerksamkeit wieder auf die Wirklichkeit.
Was er erklärt, dürfte für viele Laien wieder schwer verständlich sein, oder wenigstens nur halbverständlich. Die Schrauben befinden sich außerhalb des Druckkörpers, und das Achsenstück, auf dem sie sitzen, auch. Immer zwei Schrauben auf einer Achse. Dazwischen Versteifungsstreben, die ein Flügelprofil haben. Das ganze ist gleichzeitig der Käfig eines Asynchron-Drehstrom-Käfigläufermotors. Rundherum sind die monolithischen Magneten des Ständers. Absolut druckfest und absolut wartungsfrei. Die 'Doppelschraubenkäfigläuferwelle', oder wie immer man dieses Bauteil korrekt bezeichnet, natürlich auch.
Was in früheren Zeiten Schwierigkeiten gemacht hätte, wären die Lager gewesen. Auch das ist nicht mehr so. Die Achsenenden sind ferromagnetisch und werden durch weitere Elektromagneten in einer Position gehalten, in der sie gar nichts berühren. Einige Millimeter Wasserschicht ist immer zwischen dem rotierenden Metall und den Polschuhen. Und hier erfolgt auch die Übertragung der Vortriebskräfte.
"Auch das geht nicht ohne elektronische Regelung. Aber die Vorteile sind enorm," sagt Colbert, "Es gibt nur ein mechanisch bewegtes Bauteil: Die Achse-Propeller-Käfigläufereinheit. Und die berührt im Betrieb Wasser und sonst gar nichts. Die Elektromagneten sind monolithisch, ebenso die Abstandssensoren - die könnten Tausende von Atmosphären aushalten, also weit mehr als nötig ist. Und alles ist im Wasser und wird so optimal gekühlt."
"Und alles aus korrosionsfestem Material, vermute ich?" frage ich dazwischen.
"Natürlich." sagt Colbert. Er hält einen Moment ein, weil er sich nicht ganz sicher ist, ob ich ihn auf den Arm nehme. Vielleicht vermeidet er es auch deshalb, weitergehende Erläuterungen abzugeben, etwa über den Grad der Lautlosigkeit, den man mit diesem Vortriebsystem erreichen kann, sofern das überhaupt ein wesentliches Design-Ziel war, und über die Bewältigung der Materialerrosionsprobleme an den Schrauben durch Kavitation. Schade - hätte mich eigentlich interessiert.
Die Aggregate unter uns, so kommt er jetzt auf diese zurück, erzeugen den Drehstrom für diese Propeller da draußen, in der richtigen Stärke und der richtigen Frequenz. Es wird natürlich einiges an Energie gebraucht, was dazu führt, daß noch mehr Energie über die Wärmeaustauscher an das Meer abgegeben werden muß. Aber der Wirkungsgrad der Wärmeaustauscher da draußen wird besser, wenn die Propeller laufen und das Boot sich bewegt. Außerdem kommt die Abwärme nur aus dem Reaktor - wenn man den Strom erst einmal hat, so Colbert, dann kann man ihn mit der modernen Leistungselektronik fast verlustlos umwandeln. Er meint, diese Aggregate da unten wären in der Lage, aus sinusförmigen Wechselstrom von 50 Hertz einen Drehstrom von 7.1299874 Hertz herzustellen, und das Resultat wäre in allen drei Phasen mindestens genauso sinusförmig. Und selbstverständlich gibt es in diesen Wandlern keine mechanisch bewegten Teile.
"Es sind natürlich genügend Propellereinheiten vorhanden, daß ein paar davon ausfallen können. - Aber es werden keine ausfallen!"
Dann erläutert er noch, daß eigentlich ständig ein paar Lagekorrekturschrauben in Betrieb sind. Wie wir bemerkt haben werden, hat das Boot keine Fender - es hält aktiv ständig den gleichen Abstand zur Kaimauer.
Colbert erläutert nicht, was ein Fender ist. Ich weiß es zufällig, weil ich den Buchheim gelesen habe: Ein Fender ist irgendetwas, was man draußen an der Bordwand hängen hat, um zu verhindern, daß Schiff und Kaimauer sich gegenseitig etwas tun. Meistens sind es alte Autoreifen. Aber einigen dieser Landraten hier dürfte der Begriff Fender sicher fremd sein - und keiner fragt nach!
"Wie schnell ist das Boot eigentlich?" will Gabi Gohlmann wissen.
"19 bis maximal 20 Knoten. Wir könnten vielleicht schneller sein, aber die Wärmeaustauscher haben einen hohen Strömungswiderstand. Im Trockendock sieht das Boot deshalb auch nicht sehr schnittig aus. Mit 20 Knoten fahren wir aber den meisten anderen nichtnuklearen Booten unter Wasser davon."
"19 bis 20 was?" fragt Gabi. Wie kann jemand nicht wissen, was ein Knoten ist, denke ich - wir haben in München doch auch darüber genügend erfahren - oder hatten wir etwa keine U-Boot-Betriebskunde und elementare Navigation?
"Ein Knoten ist 1.851851851851851851 und so weiter Kilometer pro Stunde." erklärt Colbert geduldig, "Kann man sich ganz leicht merken. 20000 Kilometer geteilt durch 180 mal 60 Längenminuten. Kann man sich auch ganz leicht merken. 19 bis 20 Knoten sind also 35 bis 37 Stundenkilometer. Das ist aber keine Dauerleistung, weil dann die gesamte Energie des Reaktors in den Vortrieb geht. 4 Megawatt elektrischer Leistung bei 16 Megawatt thermischer Leistung. Mehr gibt der Reaktor nicht her. Klimaanlage und Rechner brauchen ja auch etwas."
"Gibt es nicht ein Boot, das 49 Knoten kann?" frage ich.
"Ja. Das waren die Boote der Alfa-Class der ehemaligen Sowjetunion. Die hatten eine Wasserverdrängung von 2760 t und konnten auch leidlich tief tauchen, wenn auch nicht so tief wie wir. Die Qualitäten dieses Bootes liegen nicht so sehr im Rennsport als in der Tauchtiefe und der elektronischen Ausrüstung. Außerdem - wenn wir einen Fissionsreaktor an Bord hätten, dann wären noch ein paar Megawatt mehr möglich. Aber die EG hat soviel Geld in die Entwicklung des FP-Reaktors gesteckt, daß sie das Ding wenigstens irgendwo einsetzen mußten. Eine Aufgabe der CHARMION ist ja auch, mit Reaktoren dieses Types Erfahrungen zu sammeln."
"Wieviele FP-Reaktoren sind denn schon im produktiven Einsatz?" frage ich mißtrauisch.
"Dieses ist der einzige. Soweit ich weiß."
"Ach du liebe Zeit! Ein Prototyp!"
"Das ganze Boot ist ein Prototyp!"
"Mit Einzelanfertigungen in meinem alten Job als Softwareingenieur habe ich schlimme Erfahrungen."
"Nana," wiegelt Colbert ab, "diese Werft versteht ihr Handwerk!"
"Wieso ausgerechnet diese? Was macht sie so sicher? Haben Sie schon mal ein Großunternehmen gesehen, daß herausragende Produkte herstellt, wenn diese Produkte sich nicht einem Wettbewerb unterziehen müssen?"
Vielleicht sollte ich nicht gerade jetzt anfangen, mich über die planwirtschaftliche Ineffektivität von Großunternehmen auszulassen. Colbert nimmt das persönlich, als meine ich speziell die Werft in Greenock, die dieses Boot gebaut hat, und ganz speziell dieses Boot selbst und diesen FP-Reaktor.
"Die besten Leute der EG haben an diesem Boot gearbeitet!" Er sagt das mit einem Tonfall, als ob er mir deutlich machen will, daß ich nicht zu diesen Leuten gehöre. "Dieser Reaktortyp wird eines Tages DAS energiepolitische Standbein der ganzen Welt sein!"
Wir verfolgen das Thema nicht weiter. Colbert kennt sich in der Reaktortechnik aus, und für ihn ist dieser Reaktor eine Ideallösung. Ist er auf den ersten Blick ja auch. Wenn er trotz des hohen Komplexitätsgrades eines Tages die Welt problemlos mit Energie versorgen kann, dann werden wir eine Menge Probleme nicht mehr haben, die uns heute noch bedrängen. Treibhauseffekt und nukleare Endlagerung. Diese Gespenster der bisherigen konventionellen und der bisherigen nuklearen Energieerzeugung wird es nicht mehr geben.
Aber es werden andere Probleme kommen, weil man sich dann eine Zeitlang wirtschaftliches und bevölkerungspolitisches Wachstum leisten kann, bis andere Grenzen deutlich werden. Bis vielleicht die bloße Menge dieser ach so sauber erzeugten Energie das Klima dieses Planeten vollständig verändert, bis die großen Menschenmengen an anderen ihrer hausgemachten Probleme ersticken, Probleme, die sie mit der bisherigen gefährlichen Reaktor- und Energietechnologie gar nicht erreichen konnten. Das stabilisierende Ökoreservoir Erde wird es dann nicht einmal mehr in Spuren geben.
Muß man nicht auf dem ersten Blick sehen, daß die Illusion, das wir Menschen vermöge unserer Technik zu einer Lebensform werden, der die Bewältigung der Existenz zunehmend leicht fällt, nicht stimmen kann? Keine andere Lebensform auf diesem Planeten hat das erreicht. Alle haben ihre ökologischen Nischen, in denen sie gerade eben existieren können. Solche Nischen ändern sich, und die Bedingungen für jede Lebensform ändern sich auch. Wenn sie schlechter werden, dann kann das zu lokalen oder globalem Aussterben einer Lebensform führen, und es ist dazu nur nötig, daß die Bedingungen nur ein bißchen schlechter werden.
Werden sie besser, dann beobachtet man in der Natur ein Einpendeln der Populationsdichten einer Lebensform auf etwas höherem Niveau. Wenn sie ein bißchen besser werden. Das geht genau soweit, bis die Verbesserung der ökologischen Nische durch die Folgen der höheren Bevölkerungsdichte gerade wieder kompensiert wird.
Werden jedoch die Lebensbedingungen zu gut, dann gibt es kein stabiles Populationsniveau mehr. Chaotisches Schwanken der Bevölkerungsdichten ist die Folge, weil sie durch ihre eigene effektive Fruchtbarkeit übersteuerte Regelkreise geschaffen haben. Jeder Schüler kann das mit seinem Computer nachprogrammieren. Das allereinfachste Modell erhält man schon mit der einfachen Annahme, daß der Zuwachs der Population proportional zur Populationsdichte ist, und daß noch ein Verlust entsteht, der proportional zum Quadrat der Populationsdichte ist. Wenn der erste Koeffizient zu groß wird, dann wird dieses einfache System unstabil und entwickelt ein völlig unvorhersehbares Verhalten. Für die an einem solchen System Beteiligten ist das katastrophal, auch wenn die mathematische Darstellung der Gebiete stabilen und unstabilen Verhaltens einiger Parameter solcher Systeme Grundlage von graphisch sehr ansprechenden Graphiken sind, etwa der bekannten Mandelbrotmenge.
Bei so einer starken Schwankung eines solchen unstabilen Systems kann die Bevölkerungsdichte auch einmal auf Null schwanken. Dann ist es passiert. Die Art ist ganz plötzlich ausgestorben. - Vielleicht ist das auch eine Hypothese für das Aussterben der Saurier auf der Erdoberfläche: Irgendwann waren sie tatsächlich die unüberwindlichen Herrscher aller anderen Lebensformen. Und dann sind sie in diese Chaos-Falle getappt. Weil sie eine zu erfolgreiche Lebensform waren. Und nicht obwohl.
Und nun sind die Menschen dran. Seit Jahrhunderten bewältigen sie mit ihrer Technologie ein Problem nach dem anderen. Und jedesmal wird es schwerer, wenn danach doch wieder neue Probleme auftauchen. Jetzt ist es die Umwelt. Wohin mit der Nuklearentsorgung? Was tun gegen den Treibhauseffekt? Der FP-Reaktor könnte die absolute Lösung bedeuten. Eine Zeitlang. Vielleicht ermöglicht erst er, daß tatsächlich die gesamte Weltbevölkerung in Wohlstand leben kann. Dutzende von Milliarden von Menschen. Und in jeder Generation eine Zunahme von ein paar weiteren Dutzend Milliarden. Bloß, weil es ein Energieversorgungsproblem nicht mehr gibt. So ähnlich muß Colbert denken. Denke ich.
Aber sicher ist nur der Wandel. Es werden andere Probleme kommen, an die wir noch gar nicht denken. Irgendwann wird eines dieser Probleme nicht mehr rechtzeitig gelöst werden können. Und dann erlebt der Mensch seine letzte Fluktuation der Bevölkerungsdichte. Ab unter die Nulllinie. Ab zu den Fossilien.
Vielleicht bin ich zu pessimistisch. Diese Denkweise hieße, daß letztlich das Lösen eines Problems doch immer wieder neue Probleme auftischt. Natürlich machen wir trotzdem weiter, weil wir dieses vernünftige Vorurteil haben, daß Leben an sich und Überleben ein erstrebenswertes Ziel ist.
Ich habe dieses Vorurteil auch. Ohne dieses gäbe es diese wahnsinnig interessanten Maschinen wie die ganze CHARMION gar nicht.
Aber vielleicht hatten die Erbauer der Toten Städte dieses Vorurteil auch. Irgendwelche Probleme werden sie mit ihren hängenden Burgen, ihren Städten und ihren phantastischen Klettersteiganlagen gelöst haben. Und was hat es ihnen genützt? Gerade, daß sie für die Granitbeißerinnen noch eine vergangene Legende sind. Obwohl sie ihnen vielleicht in mehr als einer Hinsicht überlegen waren.
Und wieder überlege ich: Was tun: Wo mitmischen, zu welchem Ziele? Welches Ziel ist es wert? Soll ich diese Expedition zum Scheitern bringen, damit wenigstens die Welthöhle die sicherlich kommenden Zeitalter des Chaos der menschlichen Zivilisation unbeschadet überlebt? Soll ich also echte Sabotage üben? Oder soll ich kooperieren, und sogar nichts gegen den Unbekannten unternehmen, der im Rahmen eines größerern, offenbar schon laufenden genetischen Krieges der EG gegen die Dritte Welt diese provirulenten Keime aus der Welthöhle beschaffen soll? Wäre das nicht etwas, was die Menschheit braucht, um zu überleben? Bei genetischen Kriegen freigesetzte Seuchen, deren man sich erwehren muß und die die Weltbevölkerung auf ein vernünftiges Maß zurückführen? Ist dieses geplante Verbrechen vielleicht die unbedingt notwendige Therapie?
Und auf welcher Seite stehe ich?
In der Vergangenheit war schon gemutmaßt worden, daß auch AIDS, als es etwa 1985 immer mehr öffentliche Aufmerksamkeit erregte, eine künstliche Seuche war. Das ist nie bestätigt worden, und ich glaube auch nicht daran, weil dieses Virus schon zu einem Zeitpunkt generiert worden sein muß, als man von Gentechnologie noch keine Ahnung hatte. Aber ich habe schon häufiger gemutmaßt, daß AIDS das im Moment dringenste Problem der Menschheit lösen könnte, nachdem der 'Abrüstungswahnsinn' der Neunziger den globalen Krieg immer unwahrscheinlicher machte. AIDS war das ideale Mittel dazu: Die Seuche schritt und schreitet rascher voran als das Bevölkerungswachstum, wird dieses also irgendwann umkehren. Aber sie schreitet auch langsam genug voran, um aus dem neuigkeitsorientierten Bewußtsein der Öffentlichkeit immer wieder herauszurutschen, genau wie die Bevölkerungsexplosion selbst. Aus diesem Grunde wurde und wird mit nur wenig Nachdruck an AIDS geforscht.
AIDS ist ein strenger Selektionsmechanismus. Menschen, die rational die Ausbreitungsmechanismen einer Seuche und die Relevanz des eigenen Verhaltens zur eigenen Infektionswahrscheinlichkeit kennen, haben eine viel größere Chance, am Leben zu bleiben. Insofern ist es eine gerechte Seuche - wer die medizinischen Grundlagen nicht kennt und nichts darüber lernen will, der wird mit größerer Wahrscheinlichkeit abserviert als andere.
Immer, wenn ich diese Gedanken geäußert habe, habe ich natürlich starken Widerspruch geerntet. Sogar intelligente Menschen haben mir vorgeworfen, daß meine Besorgnis wegen der Überbevölkerung dem Wunsch entspringe, die Menschheit aussterben zu lassen. Daß das genaue Gegenteil der Fall ist, können nur wenige nachvollziehen. AIDS könnte langsfristig die Existenz der Menschheit sichern helfen. Das gleiche gilt für die Dinge, die mit den provirulenten Keimen, die aus der Welthöhle beschafft werden sollen, vielleicht gemacht werden können. Vielleicht sind die kommenden, demographisch korrigierenden Kriege unbedingt notwendig. Das humanste für diesen Planeten, sein Ökosystem und tatsächlich auch das humanste für die Menschheit. Damit es in tausend und zehntausend Jahren noch Menschen gibt, in einer lebenswerten Umwelt und in Wohlstand.
Am allersinnvollsten wäre natürlich eine verantwortungsbewußte Politik des Nullwachstums der Bevölkerung und des langsamen Zurückführens der Menschenzahlen. Jedem einzelnen Bürger auf der ganzen Welt müßte klar sein, daß es keinen entschuldbaren Grund gibt, mehr als zwei Kinder zu zeugen oder zu gebären. Dann wäre es möglich, auf Kriege und auf AIDS und auf vieles andere zu verzichten. Aber an absolute Utopien glaube ich nicht mehr.
Überhaupt: Utopien. Jeder Ansatz, jeder Versuch, Utopien wahrzumachen, hat bis jetzt einen Holocaust verursacht. Was war denn die Idee des Kommunismus anderes als eine Utopie? Eine auf den ersten Blick bestechende Utopie. Und siebzig Jahre lang wurde das Leben jedes zweiten Menschen auf der Erde negativ beeinflußt. Hunderte von Millionen vertaner, individueller Entwicklungschancen. Viele andere Ideen von Weltverbesserern tragen ebenfalls den Keim des Fehlschlagens oder des Holocausts in sich. - Manchmal provoziere ich mit der Behauptung, daß, wenn schon jede Utopie bei zahllosen Menschen Leid verursacht, man vielleicht einmal versuchen sollte, mit dem Leid anzufangen, um dann zur Verwirklichung einer Utopie zu gelangen. Erst der Holocaust, dann die bessere Welt. Zweifellos wäre die gewaltsame Reduktion der Menschenzahlen auf diesem Planeten ein Weg dazu. Das ist natürlich Zynismus in Reinkultur. Wirkt immer, wenn man Lebhaftigkeit in Gesprächsrunden bringen möchte. Und keinen Wert auf weitere Einladungen legt. Besonders, wenn die Gastgeber mehr als zwei Kinder haben.
Aber wo stehe ich, wenn ich die Frage ernsthaft angehe? Ich weiß es nicht. Es gibt keine eindeutigen Antworten, selbst, wenn ich mal voraussetze, daß ich mich in meinen Erkenntnissen nicht irre. Was ja auch möglich ist. Wenn unsere Welthöhlenexpedition erfolgreich sein wird, dann kann es zum Nutzen der Menschheit sein, weil das Verbrechen an der Welthöhle, das ich befürchte, möglich wird. Für die Welthöhle und die Biosphäre in ihr wird es sicher ein Nachteil, auf jeden Fall.
Wahrscheinlich gibt es nur eine Loyalität, der man beständig mit Überzeugung folgen kann: Das eigene Wohlergehen und das eigene Leben, und die Menschen, die einem nahestehen. Wieso sollte gerade ich den Lauf der Menschheitsgeschichte beeinflußen? - Ich bin jetzt 48. Sollte ich meine restlichen 20 bis 30 Jahre hinter Idealen herrennen, die sich dann vielleicht doch nicht als der Mühe wert erweisen könnten?
Die Evolution entscheidet doch, auch ohne mein Eingreifen, welche Zeit unserer Spezies noch beschieden ist. Wenn wir uns selbst ausrotten, egal, ob mit unserer Fruchtbarkeit oder mit Waffengewalt, dann waren wir es einfach nicht wert. Punktum.
Also gehört meine Loyalität Irene und mir. Und deshalb muß ich mir Gedanken machen, an wen diese Direktive gerichtet sein könnte. Um Irene zu schützen, und vielleicht auch mich selbst. Andere, größere, 'übergeordnete' Überlegungen sind für mich nicht wichtig. Ich bin nicht dazu berufen, das große, in sich widerspruchsfreie Ethiksystem aufzustellen und daraus alle Patentrezepte abzuleiten.
Ich war eine Zeitlang unaufmerksam. Wir sind Colbert in den nächsten Raum gefolgt. Wir kommen allmählich zum Ende des Bootes: Die Wände rücken einander näher und krümmen sich stärker.
Hier gibt es noch einige periphere Einrichtungen und eine Wartungsbühne für schwere Maschinenteile. Es kann zwar nicht alles mit Bordmitteln repariert werden, sagt Colbert, aber viel. Und so zuverlässig, wie die Bootssysteme sind, wird kaum etwas repariert werden müssen.
In dieser Sektion sind auch die Pumpen, um Wasser an Bord und von Bord zu bringen, was ja eventuell gegen hohen Außendruck geschehen muß. Das ist technisch auch nicht einfach, weil auch das Dreckwasser, das zum Beispiel die organischen Reste des Bordbetriebes in durch Ultraschall fein verteilter Suspension enthält, so von Bord kommt.
'Organische Reste des Bordbetriebes' - schöne Umschreibung für 'Scheiße', denke ich. Kann man das als Interjektion benutzen? 'Schöne organische Reste des Bordbetriebes'. Da sträubt sich die Feder oder der Computer des Schreibers. Aber ich frage nach:
"Dadurch ist doch eine biologische Verseuchung der Umgebung möglich, wenn man in ein fremdes Biotop einfährt!"
"Nicht, wenn man diese Suppe leidlich gut verdünnt und in optisch dünnen Schichten immens hohen Dosen von Ultraviolettstrahlung aussetzt. Das, und die nebenbei durch diesen Prozeß erzeugte Hitze bauen alle organischen Stoffe so gründlich ab wie Feuer."
Colbert hängt an diesem Thema Betrachtungen über 'Maschinen für die Ewigkeit' auf. Er sagt, daß dieses ein grundlegendes Design-Prinzip für die CHARMION war, um unterwegs wenig oder nichts warten zu müssen - da hat man keine Kosten gescheut. Naja, denke ich, warum auch nicht - sind ja unsere Steuergelder.
Die Lebensdauer zu maximieren geht leider nicht bei allen Arten von technischen Einrichtungen gleich gut. Pumpen jeder Art gehören da noch zu den problematischsten Geräten. Ebenso Ventile, die man in jeder Pumpeinrichtung braucht. Ganz besonders bei den hier vorkommenden Drucken. Aber auch die gewöhnlichen Alltagsinstallationen, wie man sie in allen sanitären Einrichtungen findet, sind für den Konstrukteur eine technische Herausforderung, wenn man auf langen, störungsfreien Betrieb Wert legt.
Das ist auf der CHARMION aber weitgehend erreicht, sagt Colbert. Die Installationen hier darf man auf keinen Fall etwa mit den Toiletten auf dem amerikanischen Space-Shuttle vergleichen, bei denen es in fast zwanzig Jahren nicht gelungen ist, einen einwandfreien Betrieb zu gewährleisten. - Ich denke mir im stillen, daß er da den amerikanischen Shuttle-Konstrukteuren Unrecht tut: Auf diesem Schiff ist es nicht notwendig, Toiletten für den Gebrauch unter den Bedingungen der Schwerelosikeit zu entwerfen. Aber ich sage nichts.
Bei manchen technischen Dingen ist man in Sachen Dauerhaftigkeit ja enorm weit gekommen. Halbleiter zum Beispiel, ob ein Einzeltransistor oder ein Prozessor, und die Technologie in den Computern, die wir an Bord haben. Die altern nicht, egal, ob sie in Betrieb sind oder nicht. Genauso wenig wie ein Klingeldraht, durch den ein schwacher Strom fließt. Vorausgesetzt natürlich immer, da die Betriebstemperaturen nicht zu hoch werden. Transformatoren können uralt werden, ohne ihre elektrischen Eigenschaften zu ändern, und unsere Vortriebskäfigläuferdoppelschrauben da draußen nutzen sich auch nicht ab, wenn wir nicht gerade mit voller Kraft durch aufgelösten Schleifsand fahren. Aha, denke ich: Die Materialerrosion durch Kavitation gibt es bei diesem Schiff also offenbar nicht.
Auch bei der Beleuchtung ist man in Sachen Dauerhaftigkeit weit gekommen. War die alte Glühbirne schon nach 1000 Stunden hin, so war man mit der Halogenlampe schon bei 2000 bis 3000 Stunden. Und wegen der besonders bei Niederspannungslampen höheren Leuchtfadentemperatur stieg der Wirkungsgrad von müden 10 Prozent auf bis zu 30 Prozent. Dann gibt es die Leuchtstoffröhre, inzwischen schon seit mehr als 50 Jahren. Mit all ihren verschiedensten Spielarten hatte man bis Ende der Achtziger Jahre diese auf eine Lebensdauer von 9000 Stunden gebracht, einen Wirkungsgrad von ungefähr 50 Prozent erreicht und man konnte jeden gewünschten Farbton erzeugen. - Ich weiß, daß er recht hat: Einige unserer Energiesparlampen, die wir für die Beleuchtung unseres Flurs zuhause gebraucht haben, haben über drei Jahre ununterbrochenen Betrieb geschafft - über 25_000 Stunden!
Trotzdem, sagt Colbert, kann man von Langlebigkeit eines Produktes erst reden, wenn seine Lebensdauer die Lebensdauer eines Menschen deutlich überschreitet. 9000 Stunden sind etwa ein Jahr. Alle Ingenieure waren sich darüber klar, daß man da noch mehr herausholen kann.
Das, was eine Leuchtstofflampe altern läßt, sind ganz besonders die abgesputterten Elektrodenmaterialien - an alten Leuchtstoffröhren sieht man die dunklen Flecken an den Enden. Da hat man noch einiges an Materialforschung reingesteckt. Außerdem erfolgt die Zündung moderner Leuchtstoffröhren schon lange nicht mehr mit einem kurzen Anheizen der Elektroden, sondern durch noch kürzere Hochspannungsimpulse. Die seit einigen Jahren auf dem Markt erhältlichen Leuchtstofflampen haben eine Lebensdauer von 50000 bis 150000 Stunden - das sind 6 bis 17 Jahre. Mit ein bißchen mehr Elektronik und bei etwas höheren Frequenzen braucht man keine Elektroden mehr, sondern kann die elektrische Energie kapazitiv in das Röhrenplasma einkoppeln - man muß bloß die Hochfrequenz gut abschirmen, damit sie nicht andere Geräte stört. Mit dieser Technologie erreicht man zur Zeit die besten Wirkungsgrade, und die Alterung dieser Lampen ist unter die Meßbarkeit gesunken. Das ist der Stand der Beleuchtungstechnologie an Bord. Allerdings, sagt Colbert, ist das keine Technologie, die geheimgehalten wird wie etwa unsere Rechnertechnologie. Es sind nur die Kosten dieser Lampen, die die Markteinführung bisher verhinderten.
Allmählich frage ich mich, ob wir eine Führung durch ein U-Boot machen oder eine Vorlesung über Beleuchtungskörper hören. Aber Colbert macht es sehr interessant und sieht Zusammenhänge, die andere vielleicht nicht so sehen. Und das Thema 'Maschinen für die Ewigkeit' muß mich wohl auch einmal fasziniert haben - bin ich nicht auch deshalb seinerzeit in die Softwaretechnologie gegangen, weil ein Programm eigentlich eine 'Maschine' war, die sich nicht abnutzte? Das man deshalb nie warten mußte?
Leider, sagt Colbert, sind es mehr die elektrischen Geräte, die die großen Fortschritte in Richtung von Geräten 'für die Ewigkeit' ermöglichten. Bei der Mechanik tut man sich nach wie vor schwer. Unsere Kabinentüren seien zum Beispiel so konstruiert, daß man sie zwanzig mal häufiger zuschlagen kann als eine gewöhnliche Wohnungstür. Danach schließt sie nicht mehr dicht. - Das, sagt er, entspricht einem Ehekrach, dessen Länge die Lebensdauer der beiden Ehepartner deutlich übertrifft. Dabei grinst er diabolisch. Ich nehme an, daß er verheiratet ist und weiß, wovon er spricht.
Colbert geht dann noch ein bißchen auf Pumpentechnologie ein, aber ich höre nicht genau zu, weil ich versuche, herauszukriegen, wer an den Ausführungen nicht interessiert ist und wer nur interessiert tut.
Dr. Reinhardt sieht Irene an. Irene sieht Carola an. Carola sieht Edwin an. Edwin sieht den Boden an. Weniger als die Hälfte der dichtgedrängt stehenden Anwesenden folgen mit den Blicken Colbert's Erklärungen. Ich versuche, zu erraten, wer was denkt.
Irene: Ihr sind zuviele Frauen an Bord. Denkt sie ernsthaft, daß ich unterwegs streune? Warum sieht sie dann die Carola an und nicht die Yay? Andererseits grenzt ihr Gesichtsausdruck an Gleichgültigkeit, und Carola steht eben in ihrer Blickrichtung.
Das gilt auch für Dr. Reinhardt. Irene steht zufällig in seiner Blickrichtung. Glänzende Augen, das habe ich schon bemerkt, kriegt er bei der Gabi Gohlmann und bei Vivian Grail. Er steht offenbar auf zerbrechliche und schüchterne Frauen. Der manchmal zu selbstbewußten Esther Peterson begegnet er mit betonter Distanz, und bei Carola ist es dasselbe. Irene ist ihm gleichgültig. Ist er es, an den die Direktive gerichtet ist? Mustert er sie unter dem Gesichtspunkt, wie er sie beseitigen kann?
Ich glaube es nicht. Dr. Reinhardt hat das Problem, daß nicht gleich jeder einsieht, daß er der beste Paläontologe aller Zeiten ist. Wenn er einen persönlichen Feind hat, dann ist es Alfred Seltsam, der nach seiner Meinung nicht einmal qualifiziert ist, das Wort 'Paläontologie' auszusprechen. Nein, Dr. Reinhardt will Weltruhm. Er will der bekannteste Paläontologe der Welt werden, und er will, daß die Öffentlichkeit nicht den Namen 'Seltsam' erfährt. Jedenfalls nicht im Kontext Paläontologie.
Nein. Reinhardt kann es auch nicht sein. Oder?
Seltsam betrachtet Natalie Yay, die vor ihm steht. Seinen Blicken ist anzusehen, was er denkt: Er sähe sich jetzt lieber zwischen ihren weit gespreizten Beinen in ihr steckend und glücklich ihren Busen küssend. Kann man ihm ja nachfühlen. Im Moment jedenfalls hat er, wenn sie an ihn gerichtet sein sollte, die Direktive q78q99q nicht im Sinn. Und wenn er sich nicht gerade mal in die Yay hineinwünscht, dann kümmert er sich um seine Evolutionsmathematik.
Die Yay folgt Colberts Erklärungen. Aber ich denke, daß sie das nur tut, weil ihr nichts einfällt, was man sonst tun oder sich durch den Kopf gehen lassen sollte. Sicher versteht sie fast nichts. Diese Technik ist jenseits ihres fachlichen Horizontes. Und wenn ihre Blicke die hungrigen Augen von Seltsam kreuzen, dann reagiert sie in keinster Weise. Uninteressiertheit auf allen Ebenen. Was muß man eigentlich tun, damit es ihr mal geziemend feucht zwischen den Beinen wird?
Edwin hat sein Interesse wieder vom Boden auf Colbert's Erklärungen gelenkt. Er interessiert sich wirklich, und wenn er die Wand und den Boden anstarrt, dann folgt er den Erklärungen akustisch. Edwin und Carola kenne ich so lange und so gut - sie kann ich natürlich aus meinem Kreis der Verdächtigen streichen, genauso wie Irene und mich selbst.
Mario Wondrachek. Er erinnert mich immer wieder an einen Pizzaverkäufer. Ist auch einer der Stillen im Lande, und ich weiß wenig über ihn. Verdächtig? Ich weiß nicht. Im Moment folgt er aufmerksam Colbert's Erklärungen, auch, wenn es sich nicht um sein ureigenstes Fachgebiet handelt.
Ebenso Dr. Solzbach. Er wird durch jede Tätigkeit von den Erinnerungen an seine Familie abgelenkt. Vielleicht hat er Rachegedanken an dieser Zivilisation, die vermöge ihres Individualverkehrskonzeptes an der Schlachtung seiner Familie schuld ist? Welche persönlichen Konsequenzen zieht jemand aus einem solchen Schicksalsschlag? Verdächtig? Keine Ahnung.
Dr. Günther Cohausz. Nein. Er macht aus seinen Weltanschauungen keine Geheimnisse. Wenn er der Meinung wäre, daß man in großem Maßstab Babies vergiften sollte, dann hätte er das schon längst jedem klargemacht. Bis zum Überdruß. Ich glaube, Dr. Cohausz, oder 'Cohäuszchen', wie ihn schon viele nennen, ist über jeden Verdacht erhaben.
Vivian Grail. Zu jung für die große, schurkische Tat. Wenn sie nicht dazu gezwungen wird. Warum ist sie überhaupt hier, als Mitglied des nautischen Personals sollte sie das Boot doch schon länger kennen?
Gabi Gohlmann. Mmh. Die Ausbildung hätte sie. Sie ist ja vielseitig. Aber ihre finanziellen Belastungen werden bei diesen Gehältern auch so überwunden. Bestechung ist also kaum denkbar. Ihre Ehescheidung liegt schon eine Zeitlang zurück, und ich habe nicht den Eindruck, daß das eine sehr traumatische Erfahrung für sie war. Sie spricht kaum drüber. Eigentlich spricht sie kaum über etwas. Ich habe bei ihr nie Fanatismus in irgendeiner Richtung bemerkt.
Dr. Gerald Amurdarjew. Echtes wissenschaftliches Interesse, an seiner Geologie und an vielem anderen. Auch jetzt, an Colbert's Erklärungen. Kann ich jemanden verdächtigen, der auf eine so kauzige Idee gekommen ist, einen wissenschaftlichen Artikel als Aprilscherz zu veröffentlichen, nur damit er überhaupt gedruckt wird? Ich glaube nicht. Vielleicht mein Vorurteil: Ich mag diese Haltung. Deshalb hat mir Richard Feynman auch immer imponiert.
Eugen Serpinski. Lebt auch für seine Wissenschaft, wenn er nicht schwere Hantel leichtaussehende Bewegungen machen läßt. Unkomplizierte Persönlichkeit. Er ist alleine, wenn er alleine sein will, und er ist es nicht, wenn er Gesellschaft sucht. Er soll schon unter den Töchtern von Ullapool einige Treffer gelandet haben, heißt es. Es dürfte ihm nicht schwergefallen sein, jedenfalls nicht von seinem Aussehen her. Es gibt immer Mädchen, die auf Muskelberge fliegen. Wenn man ihn selbst nach den Erfahrungen mit den lokalen Stadtschönheiten fragt, wiegelt er so ab, daß das Gerücht eigentlich stimmen muß. Ich glaube nicht, daß er es ist.
Stephen Spaliter. Jemand, der Zahnarzt ist, muß deshalb nicht grausam sein. Außerdem ist die Zahnmedizin heute keine Folterwissenschaft mehr - wir haben die modernsten Ausrüstungen an Bord, die ein Zahnarzt sich wünschen kann. In seiner Eigenschaft als Zahnarzt hatte ich noch nicht mit ihm zu tun. Eine Zeitlang dachte ich mal, er trinkt, aber es ist wohl im Rahmen des Üblichen. Asket ist er in dieser Beziehung nicht, und auch in keiner anderen.
Sein Beruf bedeutet ihm nicht viel - er hat Zahnmedizin studiert, weil man damit viel Geld verdienen kann. Vielleicht nicht soviel wie man sich wünschen kann - ich erinnere mich, daß er mal darüber gesprochen hat, daß es tatsächlich Zahnärzte geben soll, die Schwierigkeiten haben, ihre dritte Villa im Tessin zu finanzieren, und wir hatten das Gefühl, er war echt besorgt um die Zukunft seines darbenden Berufsstandes. Fast hätten wir ihm ein Taschentuch gereicht. - Jedenfalls war der Gehaltsaspekt für ihn eine wichtige Motivation, sich dem Projekt anzuschließen. Außerdem würde er hier nicht jeden Tag zehn Stunden am Behandlungsstuhl sitzen, so wie ein niedergelassener Zahnarzt das tun müßte. - Ein aufrichtiger Egoist. Nicht sehr sympathisch, aber Egoismus ist eigentlich immer vertrauenswürdig. Würde er das Risiko und die nervliche Belastung eines Spezialauftrages auf sich nehmen?
Dr. med. Mary Morton war im Moment nicht bei uns, weil sie zu tun hatte. Dabei war ihr das Schiff ja auch noch unbekannt.
Mit ihr stand ich mich inzwischen recht gut, obwohl wir immer noch nicht beim 'du' angekommen waren. Solange wir uns aber auf englisch unterhielten, spielte das keine Rolle.
Ich hatte schon sehr zu Anfang in München gemutmaßt, daß sie mal stark getrunken hat. Inzwischen wußte ich, daß das tatsächlich so war. Mit ihrer Scheidung hatte es wohl nichts zu tun, aber genaues wußte ich nicht. Sie hatte dunkle Flecken in ihrer Vergangenheit, und sie erläuterte diese nicht. Es müssen sehr persönliche Dinge gewesen sein. Ihre Motivationsstruktur schien in etwa darauf hinauszulaufen, auf anständige Weise weiterzuleben, niemandem zur Last zu fallen, keine Bindungen einzugehen, nicht zuzulassen, daß man sie ausnutzt, ausschlafen zu können und ihre Arbeit gut, aber schnell und effektiv hinter sich zu bringen. An den großen Probleme in der Welt war sie entweder nicht interessiert, oder sie hatte längst resigniert. Da es keinen Hinweis gab, daß sie unter irgendeinem Zwang stand, hielt ich sie auch über jeden Verdacht erhaben. Sie war es auch nicht.
Nun gab es noch die andere Hälfte der Expeditionsteilnehmer, die 'Nautischen'. Die hatten wir aber zum größten Teil erst jetzt kennengelernt, so daß ich mir kaum eine Meinung bilden konnte. Allerdings war ich geneigt, David Aldingborg, Mark Dauphin und Esther Petersen aus jedem Verdacht herauszunehmen. Von den anderen wußte ich nichts, bis auf - naja, ein Expeditionsleiter ist schon im besonderem Maße prädestiniert, nebenher weitere Spezialaufträge verfolgen zu müssen. Dr. Wellington war deshalb nicht über jeden Verdacht erhaben. Aber war es nicht gerade deshalb wieder unwahrscheinlich?
Die Besichtigungstour endete nun, nicht weil wir schon alles gesehen hatten - das war bei weitem noch nicht der Fall - sondern weil der Dienstschluß drohte. Die Zeit war schnell vergangen - Colbert hatte sehr viel zu erzählen gewußt, und ich denke, daß ich gar nicht alles memorieren kann. Als wir von Bord gingen, war es tatsächlich schon dunkel.
Aber eine Überraschung sollte es an diesem Abend doch noch geben. Carola, Irene, Edwin und ich standen noch am Kai zusammen und hatten gerade entschieden, daß wir das Einräumen unserer Kabinen auf morgen verschieben würden, da es ja doch den ganzen Tag schneien würde. Diesen Abend wollten wir zusammen essen gehen - vielleicht wieder in das Restaurant 'Far Isles', das früher den Peukerts gehört hat.
Da hörten wir plötzlich aus dem Südosten, vom Ende des Loch Brooms her, ein dumpfes, anschwellendes Dröhnen.
"Hubschrauber?" fragte Edwin. Es hörte sich ganz so an.
"Mitten in der Nacht?" fragte ich.
Sekunden später waren sie über uns, donnerten im Tiefflug über den Hafen und Ullapool hinweg und nahmen Kurs auf das offene Meer. In der Dunkelheit und den Nebelfetzen konnten wir kaum etwas erkennen, aber das, was wir zu erkennen glaubten, bevor sie wieder verschwunden waren, war phantastisch genug:
Es waren schwere Maschinen - waffenstarrende Ungeheuer. So etwas hatten wir noch nie gesehen. Ein gedrungener Rumpf, rechts und links statt Flügeln ausladende Tragearme, an denen jeweils ein Rotor und ein großer Motorblock montiert war, darunter Batterien von Raketen und Bomben. Es mußte sich um eine ganz neue Form von Kampfhubschraubern handeln.
"Ist ja klar," sage ich, "die sind nicht zufällig hier: Sie passen auf das teure Boot auf. - Ich wette, mit ihrer Aufklärungselektronik an Bord haben sie uns besser gesehen als wir sie!"
"Ist das ein Grund, ganz Ullapool aus dem Schlaf zu scheuchen?" fragt Edwin.
"So spät ist es noch nicht. Und im Winter sind kaum Touristen da, die man verscheuchen kann!"
"Da irrst du dich. Ski-fahren im Winter in Schottland ist ein Massensport!"
"Wo will man hier Ski-Fahren? Siehst du hier irgendwo Schnee?"
"Morgen soll doch welcher fallen. Und übermorgen ist Freitag - da fängt das Wochenende an! Es sind Touristen da."
"Stimmt auch wieder," überlege ich, "sonst wären ja auch nicht soviele B&B's offen."
Über den Bergen liegt noch immer das Donnern dieser schweren Kampfmaschinen. Eine ambivalente Drohung liegt in der Luft. Dieses waren die Zeugen einer kriegerischen Vergangenheit - oder einer kriegerischen Zukunft? Eine zahlenmäßig überbrodelnde Menschheit, die sich anschickt, um die letzten schönen Plätze auf ihrem Planeten zu kämpfen. Und die noch nicht weiß, daß sie kämpfen wird. Die meisten Menschen wissen es jedenfalls noch nicht. Die Illusion, daß sich nach dem Ende des Kalten Krieges vor zehn Jahren ein Zeitalter des Friedens und des weltweiten Wohlstandes anschickt, über die Menschheit herzufallen, ist noch in vielen Köpfen drin - trotz Jugoslawien und Kaukasus und Südafrika und wie all diese ständigen Bürgerkriegsherde heißen.
Es werden mehr solche Maschinen fliegen, und sie werden Angst und Schrecken verbreiten. Nicht Bomben, nein, mehr die Nebel mit potenten Erregern, die sie abwerfen werden. Und deren Prototypen einer von uns in der Welthöhle beschaffen soll. Es ist nicht mehr lange hin. Ob der Krieg auch nach Ullapool kommen wird? In dieses entlegene Nest? Und wer hier gegen wen kämpfen wird?
Auf dem Wege zum Restaurant sind wir alle schweigsam, aber ich weiß nicht, ob die anderen von ähnlichen düsteren Vorahnungen geplagt werden wie wir.
An diesem Abend weihen wir Edwin in das, was wir an Bord gefunden haben, ein: Die Direktive q78q99q. Damit er nicht etwa denkt, an einer Vergnügungsfahrt teilzunehmen.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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