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15. Betriebsversammlung

Wir bekommen nicht wesentlich mehr vom Boot zu sehen als gestern, weil Esther uns gleich bis in die Kantine bringt. Unterwegs stellt sich heraus, daß ihr Tonfall nicht immer so aggressiv ist, wie es zunächst den Anschein hatte. Sie hilft Irene sogar über die Gangway - das heißt, daß ich irgendwann wieder auf die Nase gebunden bekommen werde, daß ich es nicht getan habe.

Die Kantine ist brechend voll. Übervoll, denn es sind mehr Menschen da, als mitfahren werden. Irene zum Beispiel. Einen Platz zum Sitzen kriegen wir nicht mehr. Also stellen wir uns vor den Toilettentüren auf. Das führt dazu, daß ich gleich eine der Toilettentüren in den Rücken kriege, weil jemand herauskommt.

Alle, die wir in München kennengelernt habe, scheinen jetzt da zu sein. Von dem nautischen Personal kennen wir ja erst Dauphin und Aldingborg und jetzt auch Esther.

Ich stelle mit einem Blick fest, daß es bereits eine Cliquenbildung gegeben hat. Das nautische Personal ist schon länger an Bord, während das wissenschaftliche Personal in den letzten Monaten in München war. Eine deutliche Zweiteilung. Wenn man es nicht wüßte, würde man es bemerken, wenn man diese Versammlung einige Minuten unvoreingenommen beobachtete.

Das nautische Personal sitzt im vorderen Teil der Kantine, also näher an der Küche. Ob da eine Absicht hintersteckt, oder ob sie einfach zuerst da waren, kann ich nicht erkennen. Sie tragen auch zum größten Teil die Bordoveralls, während das wissenschaftliche Personal sich bis jetzt mehrheitlich nicht dazu durchringen konnte, sowenig wie wir selbst.

Einer vom nautischen Personal ist dabei, mit einem VICOMP Aufnahmen von der Besatzung zu machen. Was für die Geschichtsbücher, denke ich, aber bevor ich mir überlegt habe, welchen Gesichtsausdruck ich mir selber für diese Gelegenheit leisten sollte, ist die Kamera, die für acht Sekunden auf mir geruht hat, weitergeschwenkt. Sie wird die gelangweilt dreinblickende Yay genauso dokumentieren wie Stephen Spaliter und Eugen Serpinski, die sich leise über irgendetwas sehr Lustiges unterhalten, den vor sich hinbrütenden Ulrich Solzbach genauso wie Günther Cohausz, der bereits mit einigen vom nautischen Personal Bekanntschaft gemacht hat und 'leise' auf diese einredet - wie üblich.

Ich habe nicht den Eindruck, daß diese Versammlung schon länger hier sitzt, wie Esther behauptet hat, und nur noch auf uns gewartet hat.

Mit dem Rücken an der Küche sitzen die Herren der Schiffsführung, auch alle in den Schiffsoveralls. Ein weißhaariger Mann in den Fünfzigern steht auf. Es ist Wellington, vermute ich. Ich habe ja auch schon Photos von ihm gesehen, aber für Gesichter habe ich eben kaum ein Gedächtnis. Es wird still.

Wellington sieht sich um. Man hat den Eindruck, daß er in wenigen Sekunden jeden ansieht. Seine ersten Worte scheinen das zu bestätigen.

"Ich darf Sie alle im Namen der Europäischen Gemeinschaft und der Projektleitung an Bord der CHARMION begrüßen. Sie alle wissen, warum wir hier sind und was wir vorhaben. Ich verliere darüber deshalb keine weiteren Worte. Gehen wir gleich zur Tagesordnung über."

Er sieht auf einige Papiere vor sich.

"Es ist das erste Mal, daß alle, die mitfahren werden, zusammen sind. Die meisten kennen sich schon. Fangen wir trotzdem an, eine kurze Rundum-Vorstellung zu machen. Als Kapitän darf ich anfangen. Mein Name ist Irvin Wellington. Ich habe das U-Boot Handwerk bei der britischen Marine gelernt. Danach zog es mich zur Physik. Metallphysik und Festkörperphysik. Nach einigen Jahren auf der Hochschule ging ich in die Industrie zurück. Werftindustrie. U-Boote. Es hat mich offenbar nicht losgelassen. In den letzten Jahren, als die EG eine gemeinsame Verteidigungspolitik definierte, hatte ich viele Kontakte mit EG-Behörden. Außerdem war ich zu diesem Zeitpunkt mit dem Bau von U-Booten dieses Types beschäftigt. So muß es wohl gekommen sein, daß man mich eines Tages fragte, ob ich Interesse an der Leitung dieser Expedition habe."

Wellington macht noch einen Moment Pause. Ich kann mir denken, warum: Manchmal ist es bei solchen Vorstellungen üblich, daß man noch etwas über Familie, soweit vorhanden, und Hobbies sagt. Glücklicherweise entscheidet sich Wellington dagegen.

"Es heißt zwar, der Kapitän führt ein Schiff. In unserem Falle jedoch haben wir, gewissermaßen, einen Scout. Damit sind wir bei dem nächsten."

Wellington, der mich zuvor noch nie persönlich gesehen hat, sieht mich jetzt auffordernd an. Es ist kein Zweifel, daß ich dran bin.

"Ja," sage ich und komme mir sehr albern vor, "ich glaube, der Scout bin ich. Ich heiße Herwig Homberg und nicht Josella Playton. Aber das wissen ja schon alle. Und alle wissen, daß eigentlich ich es bin, der uns dieses Unternehmen eingebrockt hat. - Eigentlich - ich habe ja gehört, daß jeder im Projekt mein Buch hat lesen müssen - eigentlich gibt es deshalb kaum noch etwas, was ich über mich sagen könnte, was neu für irgendjemanden wäre. Außer, daß ich - äh - Kabine 31 haben möchte. Wenn das noch geht!"

Ein leichtes Lachen verebbt gleich wieder. Ich sehe kurz Irene an - ich bin ja noch nicht fertig.

"Dies ist die Irene. Sie ist auch 'Scout' in der Welthöhle gewesen - das wissen ja auch alle. Aber sie will nicht mit uns fahren. Sie bleibt in Ullapool. Ich verstehe das. Bitte - es soll niemand versuchen, sie umzustimmen. Die Zeit in der Welthöhle war schwer, und es sollte niemand gegen seinen Willen dorthin müssen."

Ein paar nicken. "Würden Sie mein Exemplar des Buches signieren?" fragt Wellington, vielleicht nur aus Höflichkeit.

"Ja, natürlich. Und alle anderen Exemplare auch, wenn es gewünscht wird. - Ich nehme an, es sind mindestens 32 Stück an Bord."

"Weniger," sagt Wellington, "wie so vieles andere haben wir natürlich den Gesamttext Ihres Buches in unseren Rechnern. Manche haben deshalb darauf verzichtet, ein eigenes Exemplar mitzunehmen, da unser Platz ja beschränkt ist. Und außerdem sind wir keine 32, sondern bloß 28. Ich bin sicher, wir werden etwas für ihre Präferenz bezüglich der Kabine tun können, Herr Homberg."

Er blickt noch einmal in die Runde: "Vielleicht haben einige schon gemerkt, daß sich bereits eine Kabinenverteilung herausgebildet hat: Das nautische und technische Personal interessiert sich mehr für die Steuerbordseite, und das wissenschaftliche Personal für die Backbordseite - das ist die linke Seite. Ich möchte bekanntgeben, daß wir da kein vorgegebenes Schema haben. Wer eine freie Kabine beziehen möchte, kann dieses auf jeder Seite tun. Auch ist es unterwegs immer noch möglich, umzuziehen oder Kabinen zu tauschen. - Ja. Der nächste - machen wir mal mit dem nautischen Personal weiter. Herr Amerlingen. Bitte."

Nun lerne ich endlich das ganze nautische Personal kennen. Wolf von Amerlingen ist der erste, Ralf Fahlenbeek der zweite Offizier. Der Leitende Ingenieur heißt Jeffrey Garner, ihm zur Seite stehen die Schiffsingenieure Eduard Chapman, Joseph Priest und Ronald Makenzie. Bis auf Garner, der Mitte dreißig ist, sind alle in den Zwanzigern, auch die Offiziere.

Dann ist da Ernst Kufferath und Sebastian Colbert, die sich als Reaktoringenieure vorstellen. Colbert ist von der Ausbildung her Physiker, Kufferath Maschinenbauingenieur und dem Aussehen nach über fünfzig. Die Bootsmänner Aldinborg, Dauphin und Petersen kennen wir schon. Insgesamt sind es sechs: Peer Elderman und Rolf Sydekum, beide knapp über zwanzig, und Vivian Grail, die mit 19 die jüngste an Bord sein wird. Unscheinbar, blaßblond und niedlich zugleich, wie ich feststelle. Aber sehr viel Einzelheiten erfahren wir über keinen. Ob die Mitglieder des nautischen Personals gegenüber den vielen jetzt anwesenden Wissenschaftlern gehemmt sind? Diese Haltung sollte doch jetzt eigentlich nicht mehr üblich sein, denke ich.

Dann kommen die 'wissenschaftlichen' dran, die sich mit Einzelheiten über sich selbst auch zurückhalten. Mit der gesamten Vorstellung sind wir deshalb ziemlich schnell fertig.

"Gut." sagt Wellington und steht wieder auf, "Jetzt kennen wir schon unsere Nasenspitzen. Der nächste Tagesordnungspunkt."

Er macht eine umfassende Geste:

"Meine Damen und Herren. Dieses ist ein U-Boot. Jeder von Ihnen weiß, daß es kein militärisches U-Boot mehr ist. Es wurde ursprünglich als militärisches Fahrzeug entworfen, aber bei der derzeitigen politischen Lage sind gelegentlich andere Anwendungen dringender. Wir werden auf einer rein wissenschaftlichen Expedition fahren. Ich möchte Sie jedoch bitten, daraus nicht den Schluß zu ziehen, daß unser Vorhaben ungefährlich ist.

"Wir werden uns dort aufhalten, wo sich aufzuhalten von seiten der Evolution für uns keine Absicht bestand. Wasser ist nicht giftig, es ist kein Sondermüll, wir selbst bestehen zu 60 Prozent aus Wasser. Und doch ist eine Umgebung von hundert Prozent Wasser für uns absolut tödlich.

"Ein U-Boot ist eine Art Behälter, der die Umgebung für uns schafft und erhält, die für uns zuträglich ist. Man könnte darüber philosophieren, daß wir unser ganzes Leben in Behältern verbringen. Wohnhäuser wie Raumstationen, Schnellbahnen wie PKW, ja sogar unsere eigene Kleidung, vom Bikini bis zum Raumanzug. All das sind spezielle Behälter. Behälter, deren Versagen manchmal bloß den momentanen Verlust gesellschaftlichen Ansehens zur Folge hat, in anderen Fällen jedoch wesentlich ernster ist. Manchmal tödliche Folgen.

"Bei einem U-Boot sind die Folgen des Versagens dieses Behälters immer tödlich.

"Um damit so gut wie möglich fertig zu werden, gibt es bewährte Spielregeln, die sich in der Seefahrt, und ganz besonders in der Unterwasserseefahrt, im Laufe der Geschichte entwickelt haben. Diese Spielregeln müssen alle an Bord kennen und befolgen. Erlauben Sie mir, diese kurz zu umreißen, da noch nicht alle hier an Bord eines U-Bootes gefahren sind.

"Erster Maßstab des Handelns für jeden einzelnen von uns ist die Sicherheit aller. Das rangiert vor jedem wissenschaftlichen Resultat, vor jeder Beobachtung und vor jeder Messung. Was das Boot und damit alle an Bord in Gefahr bringt, das darf nicht gemacht werden. Auf dieser Expedition sind der Kapitän und seine Offiziere eingesetzt, um genau das sicherzustellen. Wenn es um Belange der Schiffssicherheit geht, gilt an Bord ein militärisch strenges Reglement. Der Kapitän oder seine Stellvertreter haben in solchen Dingen immer das letzte Wort. Und dieses Wort ist Gesetz.

"Das betrifft natürlich nicht die generelle Zielsetzung. Die ist uns vorgegeben und wird von den Wissenschaftlern an Bord immer wieder überprüft und neudefiniert, so, wie diesen letzten Endes von unseren Auftraggebern eine generelle Richtlinie erteilt worden ist. Wohin wir fahren, was wir untersuchen, wo wir uns wie lange aufhalten - solange das nicht mit der Schiffssicherheit in Konflikt kommt, solange ist der Kapitän nur ausführendes Organ des Auftrages. Mit anderen Worten: Ich fahre Sie, wohin sie wollen! Ich bin ihr Chauffeur. - Nur Trinkgelder zu nehmen ist mir nicht erlaubt."

Wieder ein kurzes, allgemeines Lachen. Ich sehe aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Die Irene meldet sich. Was will die denn?

"Ja bitte?"

"Und was ist mit der Direktive q78q99q? Wie verhälte es sich da mit der Sicherheit?" fragt die Irene.

Mir läuft es heiß und kalt den Rücken hinunter. Ist sie denn wahnsinnig geworden?

"Was ist das?" fragt Wellington ungerührt und mit nur gemessener Neugier. Irene sieht mich an und muß den Schrecken in meinen Augen lesen.

"Ach nichts, ich - äh - dachte, ich hätte da etwas gefunden, was sich auf die Mission bezog, auf die Mission als Ganzes. Ist wohl doch nicht so wichtig. Glaube ich. Ich seh noch mal nach."

"Tun Sie das," sagt Wellington höflich, "natürlich, das muß ich wohl hier sagen, stehen alle Unterlagen jedem Teilnehmer der Expedition offen. Nur nach außen haben wir, aus verständlichen Gründen, Geheimhaltung wahren müssen. Intern haben wir untereinander keine Geheimnisse."

Er fährt ungerührt fort. Was jetzt kommt, sind Details des Bordbetriebes, soweit sie jeden betreffen. Wacheinteilungen, Prozedere der Müllentsorgung, Reinigung gemeinsamer Einrichtungen und der eigenen Kabine und so weiter. Ich kann mich kaum konzentrieren: Die Irene hat vor aller Augen und Ohren zu erkennen gegeben, daß sie um die Direktive q78q99q weiß! - Ich muß ihr so schnell wie möglich ins Gewissen reden, sowie sich die Gelegenheit dazu ergibt.

Außerdem sehe ich in die Runde: Wer hat Irene's Bemerkung mit mehr Aufmerksamkeit als die anderen zur Kenntnis genommen? Ich kann nichts Signifikantes erkennen - alle scheinen den weiteren Ausführungen Wellington's zu lauschen und Irene's Einwurf vergessen zu haben.

Ich selbst höre erst wieder genauer hin, als Wellingten anfängt, einige technische Eigenschaften des Schiffes zu erläutern. Druckfestigkeit zum Beispiel, obwohl wir das alle wissen sollten, und die Nautischen erst recht. Dann geht er noch etwas auf die Ausstattung des Schiffes mit Messinstrumenten und Computern ein. Dann jedoch kommt das Thema Reaktor.

"Während fast alle von Ihnen wissen, daß unsere EDV-Ausrüstung auf einem technischen Stand ist, der weit über das hinausgeht, was heute auf dem Markt allgemein erhältlich ist, ist es noch nicht allgemein bekannt, welches Herz unser Schiff mit Leben erfüllt. Das gilt ganz besonders für unsere wissenschaftlichen Mitarbeiter, die erst in den letzten Tagen in Ullapool angekommen sind. Man hielt es aus bestimmten Gründen nicht für sinnvoll, Ihnen schon in München bestimmte technische Details mitzuteilen, und ich muß Ihnen auch sagen, daß Sie gehalten sind, nichts von dem, was ich Ihnen jetzt gleich erzählen werde, nach außen dringen zu lassen."

Er macht es spannend, denke ich. Ein Sinn für Rhetorik und Dramatik.

"Sie alle wissen, oder glauben, zu wissen, daß es sich um einen Kernreaktor handelt. In dieser allgemeinen Form ist die Aussage auch richtig. Aber es ist keine Kernspaltung, die in diesem Moment alles hier an Bord mit Energie versorgt."

Er macht eine verhaltene Pause. Dann läßt er die Bombe platzen:

"Wir haben einen Fusionsreaktor an Bord."

Es gibt einige im Raum, die jetzt ungläubig gucken, darunter auch ich. Wenn man jetzt ein Photo von der Versammlung schießen würde - der mit dem VICOMP macht zwar Aufnahmen, aber im Moment macht er eine formatfüllende Großaufnahme nach der anderen, und im Moment hat er die Kamera auf die Yay gerichtet, der man wahrscheinlich sogar erzählen könnte, daß das Schiff schwanger ist, ohne daß auf ihrem Gesicht sich so etwas wie Erstaunen zeigte - wenn man jetzt ein Photo von der gesamten Versammlung schießen würde, dann brauchte man sich nur die mit den dümmsten Gesichtern herauszusuchen, und man wüßte, wer Physiker ist.

Jeder Physiker weiß, daß die Energiegewinnung in Fusionsreaktoren erstens noch weit von jeder Wirtschaftlichkeit entfernt ist, und zweitens sind die experimentellen Fusionsreaktoren große technische Anlagen, die man nicht an Bord dieses Bootes unterbringen kann.

"Sie glauben mir nicht. Ich sehe es Ihnen an. Einigen von Ihnen." fährt Wellington fort, "Aber es ist so. Es handelt sich um einen FP-Reaktor."

Ich überlege, was 'FP' heißen könnte: Irgend etwas mit 'Fusion': Fusions-Partikel ... Fusions-Proto-Irgendwas ... Fusions-Power ... Ich weiß es nicht.

"Um einen Fleischmann-Pons-Reaktor." fährt Wellington fort.

"Nein!" sage ich unwillkürlich. Jeder hat es gehört, aber keiner nimmt daran Anstoß. Die Nautischen, die schon etwas länger Bescheid wissen, schielen amüsiert zu den Wissenschaftlichen rüber.

Natürlich fällt mir bei dem Stichwort 'Fleischmann-Pons' etwas ein. Eine der größten, physikalischen Zeitungsenten, die je auf die Fachwelt losgelassen wurden. Ich erinnere mich noch, wie ich vor dem Fernseher saß, vor vielleicht zehn Jahren, und der Nachrichtensprecher ungerührt verkündete, daß jemandem die Kernfusion mit einem kleinen, experimentellen Aufbau gelungen sei. Genauso gut hätte er sagen können, daß eine Methode gefunden worden wäre, Geld auf Bäumen wachsen zu lassen. In den Tagen darauf versuchte ich, alles an Informationen über diesen angeblichen Durchbruch zu bekommen - so wie vermutlich die meisten Physiker auf der Welt. Es war unglaublich: Jemand steckt Palladium-Elektroden in schweres Wasser, schickt einen Strom hindurch und mißt Exzesswärme und Neutronen, die durch Fusion erzeugt sein müssen. Konnte das sein?

Ja, es war so um 1989, im März, glaube ich, als der sogenannte Fleischmann-Pons-Effekt gefunden wurde. Den beiden Entdeckern, Fleischmann und Pons, ist es jedoch nicht gelungen, ihre Versuchsbedingungen so präzise anzugeben, daß andere Autoren und später sie selbst die kalte Fusion von Deuteronen im Kristallgitter des Palladiums nachweisen geschweige denn die hohen behaupteten Leistungsdichten nachvollziehen konnten. Was man nachweisen konnte waren einige - für Physiker und Chemiker unverzeihliche - Schlampereien im experimentellen Aufbau und in der Meßmethodik. In demselben Jahr, in dem die Schlagzeilen von der Kalten Fusion um die Welt rasten, ernüchterte sich die physikalische Fachwelt wieder gründlich. Die einhellige Meinung war: Den Effekt gibt es nicht. Alles Plunder. Zu frühe Veröffentlichung. Unwissenschaftlich. So schafften es Fleischmann und Pons, einerseits bekannt zu werden und andererseits ihren wissenschaftlichen Ruf so gründlich zu ruinieren, daß man ihnen sogar eine Veröffentlichung einer Tabelle mit dem kleinen Einmaleins nicht mehr geglaubt hätte. Später hat man nie wieder etwas von ihnen gehört, geschweige denn, daß sie den Effekt, den sie zu sehen geglaubt hatten, ansatzweise ein zweites Mal reproduzierten. Und auch sonst hat es nie jemand getan. Dachte ich.

Und nun steht dieser Wellington da und behauptet, daß dieses Schiff durch einen Reaktor, der auf diesem Effekt beruht, angetrieben wird.

Wellington spricht noch weiter, erläutert nur in groben Zügen, warum es diesen Effekt doch gibt, und verweist auf Einzelheiten in der Bordliteratur. Für die Situation wesentlich ist, daß für Energie in hinreichender Menge für beliebige Zeit gesorgt ist, und daß dieser Reaktor keine Strahlung abgibt.

Dann geht er zum nächsten Tagesordnungspunkt über.

"Ich weiß, daß die meisten von Ihnen wissen möchten, wann es nun endlich losgeht. Das kann ich verstehen. Ich möchte es auch wissen. Aber Sie werden verstehen, daß wir mit den bestmöglichen Vorbereitungen losfahren sollten. Das Boot ist zwar schon voll ausgerüstet, verproviantiert und in bestem technischen Zustand, aber wir warten noch auf die Ergebnisse einiger Prospektorenteams, die in den umliegenden Bergen tätig sind. Die Ergebnisse seismischer Messungen an Land, die wir vom Boot aus natürlich nicht unternehmen können, sollten verfügbar sein, sowie wir selbst mit unseren Meßfahrten beginnen. - Wir sind ja nicht direkt in Eile.

"Um das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, werden wir einem solchen Team bei seiner Arbeit zuschauen - in Form eines Wandertages. Übermorgen."

"Bei dem Wetter?" Das war die Gabi Gohlmann. Ich kann mir vorstellen, daß für klein und zierlich gebaute Menschen, die leicht frieren, dieser schottische Winter wenig Reize hat. Vor siebzehn Jahren hatte ich auch mal eine solche Kollegin, die schon beim Anblick eines offenen Fensters im Sommer Frostschäden bekam.

"Morgen ist eine Kaltfront fällig, die den Regen durch Schnee ablösen wird - das Wetter wird noch etwas feuchter als es jetzt schon ist. Und für übermorgen ist Zwischenhocheinfluß vorausgesagt. Klarer Himmel und Frost. Pulverschnee in der Nacht davor. Ideales Wanderwetter. Wir alle können sicher die Bewegung gebrauchen."

Der Gohlmann ist es anzusehen, daß ihre Vorstellungen von idealem Wanderwetter anders sind, aber sie sagt nichts mehr.

"Den Rest von heute" fährt Wellington fort, "verbringen wir damit, für die Neuangekommenen eine Führung durch alle Sektionen des Bootes zu veranstalten. Das tun wir am Nachmittag. Außerdem werden alle Kabinen verteilt, damit Sie anfangen können, ihre Sachen hier unterzubringen. Das kann sofort losgehen. Und morgen, wo sowieso ein so ungemütliches Wetter sein wird, werden wir unseren ersten Ausflug unternehmen, um das Boot in Betrieb kennenzulernen. Eine kleine Probefahrt. Dabei dürfen auch Projektmitarbeiter mitfahren, die nicht im eigentlichen Einsatzteam sind." Bei den letzten Worten schaut er Irene an.

"Noch etwas. Da dieses kein militärisches Schiff ist, und da alle Mitarbeiter ja überdurchschnittlich qualifiziert sind, können wir auf den üblichen Kommandotonfall an Bord verzichten - ganz abgesehen davon, das dieser unter den Spezialisten auf militärischen Einrichtungen ja auch nicht üblich ist. Reden Sie sich untereinander oder mich so an, wie sie wollen und wie Sie es für richtig halten. Auch was diesen kleidsamen Overall betrifft - den können Sie tragen oder auch nicht. Es liegt an Ihnen, ob Sie ihre Privatklamotten abnutzen wollen. Machen Sie es so, wie Sie sich am wohlsten fühlen. - So. Das wär's eigentlich. Hat noch jemand Fragen?"

Das ist nicht der Fall.

"Jeder kann fast jederzeit sich mit allen dienstlichen und privaten Problemen an mich wenden. Ich weiß, daß das eine übliche Floskel ist, aber ich meine es so und es verhält sich so. - Wenden Sie sich wegen der Kabinen an Herrn Chapman oder Herrn Fahlenbeek. Die machen alles, was nach Papierkram riechen könnte. Also allgemeine Verwaltung. Alles, was dem Schiffskommandanten zu lästig ist. - Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen!"

Die beiden letztgenannten finden sich sofort von den meisten, die noch keine Kabine bekommen haben, umringt. Da spielt wahrscheinlich die Befürchtung eine Rolle, daß alle anderen ähnliche Präferenzen haben könnten wie man selbst. Dabei sind die Präferenzen durchaus unterschiedlich - ich erinnere mich an einen der wenigen innerdeutschen Flüge von München nach Hannover, die ich gemacht habe, etwa um 1984. Da gab es keine Platzreservierungen, und ich war spät dran und bestieg die Maschine so ziemlich unter den letzten Passagieren. Auf einen Fensterplatz wagte ich unter diesen Umständen nicht mehr zu hoffen. Es waren noch wenige Plätze frei - und es waren nur Fensterplätze!

So auch hier. Die Präferenzen für Koje hoch - Koje niedrig sind etwa gleich verteilt. Und wer Wand an Wand mit wem wohnen wird, spielt auch eine zweitrangige Rolle - die Wände sind ja absolut schalldicht, wenn man sich nicht entscheidet, die Zwischenöffnungen aufzumontieren.

Ich bekomme meine Kabine 31. Carola wird 29 haben, Yay und Gohlmann wohnen übereinander, Yay oben in 27 und Gohlmann unten in 28. Soweit ich weiß, wohnen auch die beiden Damen vom nautischen Personal, Vivian Grail und Esther Petersen, übereinander in 7 und 8 auf der anderen Seite, Grail oben, Esther unten.

Die Kabine 32 mit der Koje unter mir bezieht Dr. Morton, weil sie eventuell schnell zum Krankenrevier muß, das sich hinter der Zentrale befindet. Spaliter und Serpinski beziehen 19 und 20, Dr. Solzbach und Dr. Cohausz 21 und 22, Dr. Amurdarjew und Seltsam in 25 und 26, gleich neben den beiden Mädchen in 27 und 28, Wondrachek zieht unter Carola in 30 ein, und zum Schluß entscheidet sich Dr. Reinhardt für 23. Auf unserer Seite bleiben 17, 18 und 24 frei.

Auf der anderen Seite müßten demnach alle Kabinen bis auf eine belegt sein, aber da weiß ich noch nicht, wer wo untergekommen ist, außer daß Wellington Kabine 1 hat. Ich frage Fahlenbeek, und er zeigt mir die Kabinenliste:


     1 IW   Dr. Wellington    32 MM   Dr. Morton
     2 WA   von Amerlingen    31 HH   Herwig
     3 RF   Fahlenbeek        30 MW   Wondrachek
     4 JG   Garner            29 CR   Carola
     5 EC   Chapman           28 GG   Gohlmann
     6                        27 NY   Yay
     7 VG   Grail             26 AS   Seltsam
     8 EP   Petersen          25 GA   Dr. Amurdarjew
     9 MD   Dauphin           24
    10 DA   Aldingborg        23 TR   Dr. Reinhardt
    11 EK   Kufferath         22 GC   Dr. Cohausz
    12 SC   Colbert           21 US   Dr. Solzbach
    13 JP   Priest            20 ES   Serpinski
    14 RM   Makenzie          19 SS   Spaliter
    15 PE   Elderman          18
    16 RS   Sydekum           17

"Ist noch nicht endgültig, vielleicht will noch jemand tauschen!" sagt er.

"Was sind das für Buchstabenkombinationen?"

"Ihre Namenskürzel!"

"Ach ja, natürlich."

Nachdem sich der Trubel mit der Kabinenverteilung gelegt hat und die ersten wieder zur Schleuse streben, um damit anzufangen, ihre Sachen aus den Unterkünften an Land hierherzuholen, taucht Esther Petersen auf. Nacheinander sagt sie Carola und mir Bescheid, daß wir in die Zentrale kommen möchten. Wellington möchte noch ein paar Worte mit uns wechseln. Wir folgen ihr - endlich bekomme ich auch einmal die Zentrale zu sehen!

Es ist mir kaum möglich, die Zentrale mit einem Blick zu erfassen, als wir sie hinter Esther betreten. Denn das, was in der Mitte der Zentrale steht und da eigentlich überhaupt nicht hingehört, hat sofort unsere ganze Aufmerksamkeit.

Es ist Edwin Daum. Und er sieht gar nicht glücklich aus.

Wellington, von Amerlingen und Fahlenbeek sind da, außerdem sitzt Ronald Mackenzie vor einer Computerkonsole. Wellington sieht Carola an:

"Wie, Frau Rau, würden Sie sich die Anwesenheit dieses Herrn erklären?"

Es ist interessant, Carola von der Seite zu beobachten. Es fällt mir jetzt ein, daß ich eigentlich noch nie erlebt habe, daß sie etwas Grundsätzliches falsch gemacht hat und dann ertappt worden ist. Das, was sie jetzt aufsetzt, muß ihre Version von 'Pokergesicht' sein.

"Sie werden diesen Herrn an Bord geholt haben."

"Kennen Sie ihn?" Wellington's Tonfall ist sachlich und untersuchend. Kein Vorwurf, keine Anklage.

"Natürlich. Wir waren langjährige Kollegen. - Wir haben uns auch schon in Ullapool getroffen. Er macht hier Urlaub."

"Zufällig."

"Nein," sagt Carola, "nicht zufällig. Ich habe ihn von diesem Projekt erzählt."

"Und ihn herbeordert?"

"Nein, das war seine eigene Idee."

"Das stimmt." wirft Edwin ein.

Tapfere Carola. Versucht gar nicht erst, zu leugnen.

"Sie kennen natürlich unsere Geheimhaltungsbestimmungen, denen Sie mit Unterzeichnung des Vertrages zugestimmt haben."

"Ja."

"Gut." Mehr sagt Wellington nicht dazu. Warum soll er sich über das Unvermeidliche aufregen? Außerdem wird er längst einige Fakten überprüft haben oder durch die Behörden der EG überprüft haben lassen. Vielleicht kennt er schon Edwin's Lebenslauf von seiner Geburt an.

"Es gibt jetzt verschiedene Möglichkeiten. Herr Daum sichert uns Stillschweigen für die Dauer des Projektes zu. Und damit hat es sich."

Edwin nickt.

"Andererseits - jeder im Projekt ist vertraglich zum Stillschweigen verpflichtet - im Prinzip drohen empfindliche Konventionalstrafen, wenn man dagegen verstößt."

Er sagt dies nicht speziell zu Carola, aber sie weiß schon, wie es gemeint ist. Sie kommt diesmal noch davon. Wahrscheinlich.

"Herr Daum ist aber nicht unter Vertrag. Er ist kaum daran zu hindern, etwas weiterzuerzählen - jedenfalls nicht mit legalen Möglichkeiten."

Er macht eine längere Pause und geht ein paar Schritt auf uns ab.

"Frau Rau, wie beurteilen Sie eigentlich Ihre Aufgabe - die Wartung aller Software an Bord?"

"Ich habe bis jetzt nur einen sehr flüchtigen Blick auf die Systeme werfen können. Die ganze Prozeß-Steuerung der CHARMION selbst habe ich noch überhaupt nicht gesehen."

"Ordentlicher Brocken, was?"

"Ich glaube, ja."

"Mit Herrn Daum können Sie zusammenarbeiten?"

"Das habe ich jahrelang getan."

"Was meinen Sie dazu, Herr Homberg?"

"Ich meine," sage ich, "ich habe selten jemanden gesehen, der so verbissen ein Problem verfolgen kann, bis es endgültig zur Strecke gebracht worden ist. - Schade, daß viele Probleme seiner Aufmerksamkeit einfach nicht wert waren."

"Mmh." Wellington denkt nach. "Die Projektleitung hat nach unseren ersten Erfahrungsberichten Bedenken geäußert, daß wir die umfangreiche Software an Bord wirklich in den Griff kriegen. Man überlegt, uns für das Unternehmen eine weitere Fachkraft zur Verfügung zu stellen. - Das ist natürlich ein bißchen spät. Die ganze Einarbeitung müßte nachgeholt werden, und es haben ja auch nur die Xonchen gelernt, die für den aktiven Teil des Projektes von Anfang an vorgesehen waren."

"Die 'Bibel' wird er aber gelesen haben, nicht wahr?" wirft von Amerlingen ein.

"Die Bibel?" fragt Edwin verwundert.

"Das Buch. Die 'Granitbeißerinnen'!" sage ich, "Das heißt hier so."

"Ach so. Natürlich." Allmählich begreift Edwin: "Meinen Sie, daß ich - hier?"

"Es wäre doch zumindestens eine Überlegung wert, nicht wahr?"

"Daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht."

"Sie haben Familie, nicht wahr? Und Probleme mit dem Gehör?" Wellington weiß wirklich schon eine ganze Menge.

"Dafür ist er praktisch kein Brillenträger!" sag Carola, "Wenn ich hier als halbblinde mit vier Minus-Dioptrien mitmachen kann ..."

"Das ist es weniger. Gehörprobleme können große Probleme machen, wenn man sich schnell an andere Druckverhältnisse anpassen muß. Gerade an Bord eines U-Bootes ist man häufiger kurzfristigen Druckschwankungen ausgesetzt. Wir haben kein genaues medizinisches Dossier über Sie. Eigentlich steht eine eingehende Eignungsuntersuchung noch aus. - Andererseits - so richtig gesund ist niemand an Bord. Wenn man hochqualifizierte Leute haben will, muß man anderes eben in Kauf nehmen. Das ist nicht mehr so wie seinerzeit in den Sechziger Jahren, als die amerikanische NASA für ihr Raumfahrtprogramm ganz gewöhnliche Supermänner suchte. - Was würde denn Ihre Familie sagen, wenn Sie sich für dieses Projekt verpflichteten?"

Edwin will sich darauf noch nicht festlegen. Es kam alles etwas überraschend für ihn - der Fremde, der ihn angesprochen hat, wenige Minuten, nachdem er unseren Bed & Breakfast verlassen hatte, dessen bohrende Fragen, ein Dienstausweis, der weitgehende Vollmachten rechtzufertigen schien, dann weitere Fragen. Eigentlich hatte er gedacht, diesem Projekt, von dem er nur durch Carola's Indiskretion etwas wußte, als entfernter Zaungast zu folgen. Er war nach Ullapool gekommen, um das Boot zu sehen, zu wissen, daß diese phantastischen Dinge, die Carola behauptet hatte, Wirklichkeit waren, dazu ein paar Tage Ruhe. Jetzt stand er in der Zentrale genau dieses U-Bootes, und ihm war eine Teilnahme vorgeschlagen worden.

Die Entscheidung mußte ja nicht gleich fallen. Er sollte auch die Probefahrt am morgigen Tage mitmachen, die Wanderung am Tage drauf, und dann war immer noch Zeit, sich zu entscheiden und die nötigen Formalitäten in die Wege zu leiten.

"Herr Homberg, am besten, Sie zeigen Herrn Daum die Kabinen, die noch frei sind. Damit er schon ganz genau weiß, was ihn erwartet. - Ja, und - wir sollten schon die Spielregeln befolgen: Rechner und Reaktorraum sind für Außenstehende natürlich tabu!"


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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