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14. Edwin
Wenn wir gedacht haben, daß wir in Ullapool etwas Zeit für uns haben, dann haben wir uns getäuscht, wie wir bald erfahren sollten. Am nächsten Tag sitzen wir unten im Frühstücksraum und genießen unser 'beacon and egg' - ernährungswissenschaftliche Erkenntnisse sind in der britischen Gastronomie noch nicht sehr verbreitet - und überlegen uns, während wir unseren heißen Tee schlürfen und in den Nebel hinaussehen, was wir mit dem Tag anfangen können. Vielleicht braucht uns ja keiner.
Weil sich der Tourismus in Ullapool im Winter in Grenzen hält, sind wir die einzigen im Frühstücksraum, der versuchsweise von einem elektrischen Kamin erwärmt wird. Vielleicht gelingt diesem das, bis wir mit dem Frühstück fertig sind.
Trotzdem reden wir nicht viel. Ich sage einmal "Ich glaube, ich nehme Kabine 31. Was meinst du? Die steht mir doch zu! Die ist an der Backbordseite dem Ausgang am nächsten."
"Ich denke, 32?" fragt Irene.
"31 hat die Koje oben. Du hast doch gesehen: Die ungraden haben alle die Kojen oben."
"Ach so."
"Ich hätte es schon gestern in die Wege leiten sollen. Am Ende kommt mir noch jemand zuvor."
"Dann nimmst du eben eine andere ungerade!" sagt Irene mit vollem Mund.
Wir schweigen wieder. Es ist ja nicht nur die Kabinenwahl, die mir - oder uns - durch den Kopf geht. Beunruhigender ist die Direktive q78q99q, die wir gelesen haben. Es heißt zwar, daß ein Morgen die Gespenster der Nacht vertreibt - wie oft habe ich mir schon vor dem Einschlafen die Symptome schwerer Krankheiten eingebildet, die dann am anderen Morgen völlig vergessen waren, oder über die ungelösten Probleme unserer Zeit gebrütet - aber die Direktive q78q99q können wir ja jederzeit erneut einsehen. Das war kein Gespenst. Und wir haben die Kopien dieser Dateien ja sichergestellt.
Es ist jetzt nur noch eine Sache der Interpretation. Glauben wir das, was wir da gelesen haben? Computerdateien sind geduldig - da kann alles mögliche drinstehen. Vielleicht schreibt jemand einen tollen SF-Roman, und wir haben Bruchstücke davon gesehen? Ist das nicht plausibel, daß jemand seine literarischen Gehversuche mit cryptographischen Methoden vor neugierigen Blicken zu schützen versucht? Und das einfach gewählte Paßwort, spricht das nicht auch dafür?
Und überhaupt, was für eine aberwitzige Idee? Ein genetischer Krieg gegen die Dritte Welt, um dieser bei der Bewältigung der Überbevölkerung zu 'helfen'! Erstens ist die Einsicht in dieses Problem nicht sehr verbreitet, so daß auch legale und legitime Maßnahmen für die Bevölkerungskontrolle in unserer Entwicklungshilfe keine sehr hohe Priorität haben. Und zweitens ist AIDS bereits dabei, in vielen Ländern das Bevölkerungswachstum umzukehren. Man braucht ja gar nicht mehr einzugreifen - allerdings hängt das wieder mehr davon ab, wer solche Hochrechnungen durchführt und was dabei herausbekommen möchte. Wie immer.
Ich weiß nicht, was wir davon halten sollen.
"Erinnerst du dich noch," frage ich, aus einer Eingebung heraus, Irene, "als wir vor zehn Jahren in genau diesem Raum gesessen haben, und einer der anderen Gäste uns gefragt hat, wie wir die Wahrscheinlichkeit für die deutsche Wiedervereinigung einschätzen? Und wie ich dann erklärt habe, daß der Unterschied zwischen Westdeutschen und Briten zum Beispiel viel geringer sei als etwa der zwischen Westdeutschen und DDR-Deutschen, und daß deshalb eine Wiedervereinigung absolut unwahrscheinlich sei und wenigstens für viele Jahrzehnte nicht eintreten werde? Erinnerst du dich noch an dieses Gespräch?"
"Nein." sagt Irene, mit vollem Mund. Nun gut. So weiß ich wenigstens, daß ich damals nichts Dummes gesagt habe, und nichts, was Irene völlig anders sieht. Sonst würde sie sich daran erinnern. Mit Sicherheit. - Vielleicht hat sie aber auch keine Lust zum Reden.
Weil das Gespräch am Frühstückstisch nicht so sehr in Gang kommt, starren wir beide zum Fenster hinaus. Der Nebel ist im Moment dünner und könnte es ermöglichen, daß wir einen Blick auf das Linienschiff nach Stornoway auf den äußeren Hebriden erhaschen. Sie heißt jetzt, glaube ich 'FORTRESS OF CALEDONIA'. Das klingt nach schottischem Nationalstolz. Wie hießen noch die Vorgängerinnen dieser Fähre? War es nicht die 'SUILVEN', oder war es die 'CALEDONIAN'? Ich weiß es nicht mehr. Als ich Irene frage, ist sie sich erstaunlich sicher:
"1988 war es jedenfalls die CALEDONIAN MACBRAYNE - SUILVEN - aber 'SUILVEN' stand ganz klein weiter vorne dran."
"Woher weißt du das jetzt noch so genau?"
"Wir haben doch damals Photos gemacht, auf diesem Urlaub!"
"Wann hast du die denn zum letzten Male angesehen?"
"Vor ein paar Tagen! Wir wissen doch schon länger, daß wir hierher fahren!"
"Ach so. Komisch. Ich hatte es auch vor. Aber ich bin nie dazu gekommen. - Dann war das 'SUILVEN' wahrscheinlich der Schiffsname, und das andere die Reederei."
Ich vermute das, weil es, glaube ich, hier irgendwo einen Berg mit diesem Namen gibt. Muß mal auf der Karte nachsehen. Wieder erstickt das Gespräch.
"Die fährt jeden Tag, nicht?" fragt Irene nach einer Weile, als sie so ziemlich mit ihrem Frühstück ferig ist und mit beiden Händen die Kaffeetasse vor den Mund hält, "Wohin eigentlich?"
"Nach Stornoway, auf den Äußeren Hebriden. Und deshalb glaube ich nicht, daß sie jeden Tag fährt. Dieses Eiland ist fest in der Hand der Presbyterianischen Kirche. Die halten den Sonntag militant heilig. Da kriegst du am Sonntag nicht einmal ein B&B."
"Woher weißt du das?"
"Ich war doch da! 1974, mit dem Jörg. Den ganzen Tag sind wir durch den Ort gewetzt. Am Vortag waren noch jede Menge B&B-Schilder draußen. Am Sonntag waren alle weg. Wir haben nichts gekriegt!"
"Und was habt ihr gemacht?" fragt Irene. Hatte ich ihr das wirklich noch nie erzählt?
"Wir sind auf das Schiff gegangen und konnten in der Lounge schlafen."
"So." kommentiert Irene. Sie leert den Rest der Kaffeetasse aus. Ich überlege, ob wir für die Zeit unseres Hierseins einen Abstecher nach Stornoway einplanen sollten.
"Vielleicht ist es heute auch schon anders." sage ich. Keine Reaktion. Irene sieht in den Nebel raus. "Ich muß meiner Schwester eine Karte schicken." stellt sie fest, mehr mit sich selber redend, "Was ist heute anders?"
"Früher haben sie auf den Äußeren Hebriden die Ehefrauen, die beim Frühstück dem Mann nicht zuhören, bei Ebbe und Westwind immer im Uferschlick vergraben, um herauszufinden, ob sie sich bis zum Eintreffen der Flut selbst befreien konnten. Das war so eine Art Gottesurteil. Vielleicht ist das heute anders."
"Ach du!" sagt Irene und strahlt mich an. Genausogut hätte sie jetzt sauer sein können.
Draußen geht ein Mann vorbei - langsam schlendernd, sich die Gegend betrachtend. Hände in den Taschen, Kragen hochgeschlagen. Ein Tourist. Das sieht man richtig an der Haltung. Grauhaarig, aber noch überraschend jung. Irgendwie zu jung. Wenn er nur etwas mehr in Richtung dieses Hauses sehen würde - aber der nebelverhangene Meeresarm ist natürlich interessanter. Als wir ihn im Profil sehen, bleibt mir die Luft weg:
"Irene - das ist doch der - Nein, das kann doch nicht sein!"
"Wer?" fragt Irene verwundert, "Kennst du den?"
Statt einer Antwort springe ich auf, renne aus dem Frühstücksraum heraus, über den Flur und raus in den nieselnden Nebel. Der Mann ist schon einige Meter weitergegangen und wendet mir seinen Rücken zu. Ist er es wirklich? Wenn nicht, wird es gleich ein bißchen peinlich.
"Edwin!" rufe ich, "bist du es?"
Der Mann dreht sich um. Er ist es. Edwin Daum. Auch Mitarbeiter im Ada-Projekt. 1991 schon vom Compiler-Projekt und von der Firma weggegangen, gerade als das Projekt beendigt wurde. Er ist es mit Sicherheit, denn er erkennt mich auch.
Es ist nicht nur das ehemalige Kollegenverhältnis, das mich mit ihm verbindet. Etwa ein Jahr vor seinem Weggang aus der Firma habe ich mit ihm das erste mal das Höllental durchstiegen und so den Zugspitzgipfel erreicht. Diese gelungene Bergwanderung war ja auch letzten Endes der Grund, warum ich Irene immer wieder zu ganz genau derselben Tour zu überreden versuchte, was mir dann am 19. August 1995 endlich geglückt ist - an dem Tag, an dem wir den Zugang zur Welthöhle fanden. Ohne diese Ereigniskette wären wir ja jetzt nicht hier.
"Ja, hallo!" sagt er, überrascht - aber nicht allzusehr überrascht: "Hier also wohnst du!"
"Wieso - wußtest du, daß ich hier irgendwo wohne?"
"Ja!" nickt er.
"Komm rein!" sage ich, "in unserem Frühstücksraum ist es nicht so ein Sauwetter wie hier draußen!"
Drinnen reden wir weiter. Rasch erfahre ich, daß er durchaus nicht zufällig hier ist. Hätte mich auch gewundert - Schottland als Urlaubsland, das hätte ich ihm vielleicht noch zugetraut, aber nicht im Winter.
"Carola hat mich angerufen!" sagt er. Ich habe unsere Landlady überredet, ihm auch einen Orangensaft und einen Kaffee hinzustellen, auf unsere Kosten, selbstverständlich.
"Hat sie?"
"Ja. Sie hat mir alles erzählt."
"Wie kann sie das? Ist doch alles geheim!"
"Ich sollte natürlich auch den Mund halten. Aber ich habe mir dann doch einige Tage Urlaub genommen, weil ich dieses Boot mal sehen wollte. Und ob das alles wahr ist. - Also ist auch dein Buch tatsächlich wahr?"
Natürlich habe ich auch Edwin ein Exemplar der 'Granitbeißerinnen' zugeschickt, als es gerade herauskam. Nur habe ich ihn, im Gegensatz zu Carola, nicht ins Vertrauen gezogen. Damals. Jetzt hat Carola ihn offenbar ins Vertrauen gezogen.
"Ja. Es ist alles wahr. - Ich habe dir damals erzählt, daß mir auf jener Wanderung die Idee zu diesem Buch gekommen war, und daß ich dieses Vorhaben erst einige Jahre später verwirklichen konnte. Das war gelogen. Die ganze Geschichte ist wahr. So, wie ich sie aufgeschrieben habe. - Aber trotzdem war Carola nicht berechtigt - hoffentlich gibt das keine Schwierigkeiten!"
"Sie hat zunächst auch nichts gesagt. Sie hat nur gesagt, daß sie sich beruflich verbessert hat - gehaltlich sogar ganz erheblich. Und da habe ich nachgebohrt. Irgendwann hat sie sich in Widersprüche verwickelt, und dann ist sie mit der ganzen Wahrheit herausgerückt. - Ist sie auch schon hier?"
"Ja, im Habour Lights Motel. Das ist an der Straße nach Inverness. Wo bist du untergekommen?"
"Irgend so ein Guest House mitten im Ort."
"Mit Familie?"
"Nein. Ich wollte mal alleine verreisen."
"Denke ich mir. Bei diesem Wetter den Unternehmungsdurst von drei Kindern zufrieden zu stellen ..."
"Vier."
"Vier? Himmel! Vier Kinder und eine Frau! Wie hälst du das aus?"
"Tja. - Indem ich manchmal alleine vereise!" grinst Edwin.
"Und nie an Scheidung gedacht?"
"Nein. Nie. Schon wegen der Kinder nicht. Aber auch sowieso nicht. - Vielleicht liegt das daran, daß meine Frau mich gelegentlich alleine verreisen läßt!"
Manche Leute sind eben anders als Irene und ich. Uns würden Kinder sehr auf die Nerven gehen. Anderen sind sie primärer Lebensinhalt. Nunja, es gibt so'ne und so'ne, wie es im Liede heißt.
"Mmh. - Also Edwin, die Sache ist die: Wir wissen nicht, wie lange wir noch hier an Land einquartiert sind. Wir wissen auch nicht, wann es losgeht. Das kann fast jederzeit der Fall sein. Und vorher werden wir wahrscheinlich auch noch irgendwie beschäftigt werden. Es kann sein, daß wir uns nicht sehr häufig treffen können - wenn du an gemeinsame Unternehmungen gedacht hast. Wanderungen oder so."
"Jaja," nickt Edwin, "das ist mir völlig klar. Ich wollte nur einen Blick auf das Boot werfen."
"Das liegt am Hafen. Seit etlichen Tagen schon."
"Ich hab's schon gesehen. Gestern Abend."
"Ja? - Daß wir uns da nicht über den Weg gelaufen sind! - Wir waren gestern abend auch da. Am Hafen, meine ich."
"Nur Carola habe ich noch nicht getroffen. Am Hafen nicht, und sonst nirgends."
"Weiß sie, daß du hier bist?"
"Nein. Ich bin im Urlaub. Den verbringe ich nur zufällig hier."
"'Zufällig'!"
"Naja."
Einen Moment schweigen wir. Edwin sieht Irene an:
"Und Sie gehen auch mit?"
"Du kannst 'du' zu Irene sagen. - Nein, sie will nicht. Sie bleibt hier. In Ullapool, die meiste Zeit.
"Dann kann ich Ihnen Gesellschaft leisten, wenn Sie noch länger bleiben!" schlägt Irene vor, "niemand weiß, wie lange diese Messungen dauern!"
"Du kannst auch 'du' zu Edwin sagen. Wir haben doch so viele Jahre in demselben Raum zusammen gearbeitet. Weißt du noch, Edwin? In alten Compiler-Zeiten?"
"Natürlich! - Was für Messungen?"
"Ach, diese Projektzielsetzung ist so unscharf." Ich erzähle Edwin, daß zunächst ja im Loch Ness Untersuchungen gemacht werden sollte, einschließlich der Vorbereitung von Baumaßnahmen auf dem Seegrund, um eventuell zu den Wippsteinhöhlen durchzustoßen, und daß sich dann jede Menge technischer und administrativer Hindernisse in den Weg gestellt haben.
"Das Projekt wäre gescheitert, wenn sie nicht, zufällig, gleichzeitig hier, in dieser Gegend, Grotten gefunden hätten. Große Grotten. Jetzt sollen die vermessen werden, weil sie - vielleicht - etwas mit der Welthöhle zu tun haben könnten."
"Das Boot fährt also gar nicht in die Welthöhle?" fragt Edwin verwundert, "ich dachte ..."
"Du dachtest nicht alleine. Denk doch mal nach! In zehneinhalb Kilometer Tiefe ist die Oberfläche der Meere in der Welthöhle. Also Druck Null. Oder vier Bar, wegen der Atmosphäre darüber, aber das können wir vernachlässigen. Wenn, ich wiederhole, wenn es eine Verbindung von diesem Meer an der Erdoberfläche nach da unten gäbe, dann wäre da ein Druck von über tausend Atmosphären. Bar, um korrekt zu sein. Also, es wäre ein ständiger starker Wasserstrom vorhanden. Der hätte sich irgendwie schon lange bemerkbar gemacht, sowohl in den Meeren der Erdoberfläche als auch in der Welthöhle. Soll ich dir ausrechnen, welch immense Menge Wasser pro Sekunde bei diesem Druckunterschied durch eine lichte Weite schießen würde, durch die dieses U-Boot fahren könnte?"
"Aber dann ist doch die ganze Expedition sinnlos!" sagt Edwin.
"Ist sie auch! Aber, erstens, gibt es in der Verwaltung der EG vielleicht Leute, die sich über die physikalische Tatsachen nicht so im klaren sind. Und zweitens kann man natürlich etwas über diese Grotten in dieser Gegend in Erfahrung bringen. Naja, das ist ja auch nicht uninteressant. Nur, normalerweise, würde man sich nicht mit solchem Aufwand um diese Grotten kümmern. Wenn nicht die Vorstellung dahinterstände, daß man doch irgendwie in die Welthöhle gelangen könnte. - Oder wenigstens etwas über sie in Erfahrung bringen könnte."
Edwin denkt nach. Dann fragt er, warum man so dringend in die Welthöhle möchte, und ich erläutere ihm die möglichen ökonomischen Folgen. Soviel hat Carola ihm also noch nicht erzählt, aber nun ist es egal. Jetzt darf er alles wissen. Er würde sowieso von selbst drauf kommen. So intelligent wie gewisse Bonzen in der EG ist er allemal.
Die Zeit vergeht dabei. Draußen geht ein Mädchen vorbei, das ich nicht kenne, aber schon bevor sie ihre Hand auf die Vorgartentür der Peukerts legt, weiß ich, daß sie genau das tun wird. Sie trägt nämlich den offiziellen Bordoverall der CHARMION.
"Wir kriegen Besuch!" sage ich. Mehr nicht, denn da steht sie schon im Raum.
"Doktor Herwig Homberg?" Ihr Tonfall ist herausfordernd.
"Oh," sagt Edwin, "hast du inzwischen einen ..."
"Nein, habe ich nicht!" sage ich, "die meisten vom wissenschaftlichen Personal an Bord haben einen Doktortitel. Ich aber nicht. Einfach 'Herwig Homberg'." Das letzte sage ich zu dem eingetretenen Mädchen, "Und mit wem haben wir die Ehre?"
"Ich bin Esther Petersen. Allgemeiner technischer Betriebsdienst."
"Aha." Ich hätte es auch auf ihrem Namensschild lesen können. Liegt das am Alter, daß man den Mädchen nicht mehr zuerst auf den Busen, sondern in die Augen sieht? An meiner Wohlerzogenheit bestimmt nicht.
"Herr Wellington ist untröstlich. Aber er legt, trotz der frühen Stunde, Wert darauf, einmal die gesamte Belegschaft an Bord begrüßen zu dürfen."
"Jetzt gleich?"
"Vor einer Stunde."
"Uns hat niemand Bescheid gesagt."
"Ist heute Samstag oder Sonntag?"
"Nein, Miss Petersen."
"Madam. Oder ist sonst ein Feiertag?"
"Nein, Madam Petersen."
"'Esther' genügt. Aber Sie sollten dann doch schon kommen. Wenn schon ein gewöhnlicher Arbeitstag ist."
"Ja. - Esther. - Ich bin untröstlich. Auch ich. Daß wir uns so verspäten konnten."
"Sie haben sich verspätet. Ihre Frau braucht nicht unbedingt mitzukommen. - Wer ist dieser Herr?"
Esther Petersen ist vielleicht 23. Sie ist ein Beispiel dafür, daß Selbstbewußtsein nicht proportional zum Lebensalter sein muß. Wozu sonst es proportional sein könnte weiß ich nicht - ich habe sie ja jetzt eben zum ersten Male gesehen, auch wenn ich mich erinnere, ihren Namen bereits früher auf irgendwelchen Listen gesehen zu haben.
"Dieser Herr ist ein Tourist. Er gehört zu den Leuten, die Nebel und nasse Füße lieben."
"Aha. Gehen wir gleich?" fragt sie. Irene steht auf. Sie will wohl mit. Edwin macht sich auch fertig zum Aufbruch. Nur Minuten später sind wir auf dem Weg zum Hafen.
Edwin geht in die Richtung weiter, in die er gegangen ist, als ich ihn entdeckte. Als ich mich später noch einmal umsehe, habe ich den Eindruck, daß jemand an ihn herangetreten ist und mit ihm spricht, aber in den inzwischen einigen hundert Metern Entfernung kann ich nichts genaues erkennen.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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