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13. Directive q78q99q

Und schon bin ich am Terminal nebenan. "Geht schneller so!" sage ich, "Hast du's Root-Paßwort schon geändert?"

"Nein." sagt Carola und liest konzentriert weiter.

"Was ist denn jetzt los?" fragt Irene. Wir können nicht antworten. Schon bin ich auch im System drin.

Das Bild ist unklar. Es geht um Vorhaben der EG in der Dritten Welt. Um etwas, was als 'demographisch korrigierende Maßnahmen' beschrieben wird. Und womit die Welthöhlenexpedition etwas zu tun hat. Sicherung der wirtschaftlichen Stellung der EG. Bewahrung der natürlichen Resourcen der Dritten Welt. Eindämmung der Flüchtlingsströme. Zurückdrängen des Einflußes der großen Fremdreligionen - ganz besonders der fundamentalistischen Strömungen des Islams. Als ob der Katholizismus in Laufe der Geschichte nicht eine ähnliche Virulenz bewiesen hätte, denke ich.

Aber 'Virulenz' - das Wort taucht auch auf. Nicht im Zusammenhang mit historischen Betrachtungen, sondern mit etwas, was jemand in der Welthöhle tun soll.

"Merkst du was?" sage ich zu Carola, "Der hat alles mit demselben Paßwort verschlüsselt. Von Cryptologie hat der keine Ahnung!"

"Jaja." sagt Carola, "habe ich schon längst gemerkt."

Da ist sie endlich. Ein Befehl, oder eine Anweisung. Es nennt sich Directive q78q99q. Die Anweisung, sich in der Welthöhle besonders um das Aufspüren von Krankheitskeimen zu kümmern. Bakterien und Viren - selbst von gesunden Menschen und Tieren. Die Genetiker der EG, in bestimmten, streng geheimen Labors, brauchen neues genetisches Material. Neue DNS-Sequenzen. Die sollen wir mitbringen. Oder besser derjenige, an den sich diese Direktive wendet.

Und wir lesen auch: Der Auftrag ist unter allen denkbaren Umständen geheim zu halten. Das Leben der Expeditionsmitglieder ist sekundär. Sogar die anderen Zielsetzungen der Expedition - die Rohstoffe der Welthöhle, die wissenschaftlichen Erkenntnisse - alles kann der Adressat dieser Anweisungen aufs Spiel setzen, um diesen Auftrag zu erfüllen. Die Beschaffung provirulenten genetischen Materials aus der Welthöhle. Um jeden Preis. Steht sogar wörtlich da.

"Sie bereiten einen genetischen Krieg vor!" sagt Carola. Sie spricht es aus, in demselben Moment, in dem sich in meinem Kopf dieser Gedanke und dieser Begriff zu formen beginnt. "Einen genetischen Krieg gegen die Dritte Welt. Die Ultima Ratio der Waffen gegen die Bevölkerungsexplosion."

Wenn Carola das so schnell erkennt, dann ist es richtig. Sie hat kein Faible für Schauermärchen. Sie interpretiert das, was sie sieht, so, weil eine andere Interpretation kaum noch möglich ist. Die Dokumente sprechen eine klare Sprache.

"Ich glaube, du hast recht." sage ich. "Und ich glaube, der genetische Krieg ist schon im Gang."

"Und wenn das hier stimmt," fährt Carola fort, "dann sind wir jetzt in Lebensgefahr. Wir wissen zuviel."

"Ein genetischer Krieg?" fragt Irene beunruhigt, "Was ist das?"

"Ein biologischer Krieg mit genetisch manipulierten Krankheitskeimen."

"Und wer will so etwas machen?"

"Sie wollen nicht nur, sie sind schon dabei. Sieh diese Schreiben hier - unser Unbekannter muß Biologe sein, oder Mediziner - und er arbeitet bereits für diese Dinge."

"Aber wie kann man sich dafür hergeben?"

"Alles eine Frage des Geldes. Fünf Jahre ein schlechtes Gewissen, und dann ein Ruhestand in Wohlstand. Da findest du viele."

Irene schüttelt den Kopf: "Ihr müßt euch irren. Sowas macht die EG nicht. Da gibt es Staaten in der Dritten Welt, die sowas machen. Aber nicht diese EG. Nicht die Länder Europas."

"Ich kann es mir auch kaum vorstellen," sagt Carola, "aber hier steht es! - Es läßt sich nicht anders auslegen!"

Sie hat recht. So etwas kann man sich doch nicht vorstellen. Nicht in Europa, mit seinen demokratisch legitimierten Regierungen und mit seiner ziemlich demokratisch legitimierten Gesamtadministration.

"Paßt auf," sage ich schnell, "vielleicht haben wir nicht sehr viel Zeit. Diese Dateien können gelöscht werden. Wenn das wahr ist, was wir jetzt befürchten, brauchen wir diese Beweismittel noch. Wir müssen sie sicherstellen. Hat Dauphin nicht vorhin gesagt, wir können uns für den persönlichen Gebrauch diese Speicherchips, diese 36-64-er, aus dem Schrank dort nehmen?"

"Das hat er." sagt Carola. "Außerdem hast du dir doch eben schon einen eingesteckt, oder? - Aber wir sollten diese Dateien so schnell wie möglich und so früh wie möglich lesen, solange wir hier noch reichlich ungestört sind. Später ist vielleicht zuviel Aktion, und hier laufen dann zuviel Leute rum."

"Unsinn. Man kann immer ein extra Fenster für Spiele aufmachen, warum soll man nicht in einem Fenster ein verbotenes Dokument lesen? Wir müssen das Zeug sicherstellen, das ist wichtig!"

"Ich glaube nicht, daß du dann mitfahren solltest, wenn das alles wahr ist!" sagt Irene zu mir.

"Ach nein? Und mit welcher Begründung?"

"Früher hat Herwig sich immer um die armen Bewohner der Welthöhle Sorgen gemacht, um die Folgen der Kolonisation." sagt Carola zu Irene, "Jetzt kann er sich um uns Sorgen machen. Und um die Bewohner der Dritten Welt."

"Das müssen wir doch jetzt nicht ausdiskutieren! Carola, kannst du mit diesen Speicherchips umgehen? - Dieser VICOMP hat automatisch draufgeschrieben, aber den habe ich ja auch als Kamera benutzt."

"Nein. Kann ich nicht. Ich hatte sie ja auch noch nie in der Hand."

"Dann werden wir das jetzt lernen. Irene, komm her, das mußt du auch können!"

Wir müssen einen kurzen Moment herumexperimentieren, aber das Chip-Laufwerk kann den Speicherschip mit seinem viertel Terabyte Speichervermögen nur auf eine einzige Weise annehmen, genau, wie die Aufnahmeschlitze des VICOMPs. Da gibt es einige rechteckige Löcher von 5 mal 15 Millimeter Durchmesser, in die man den Chip reinsteckt. Kaum ist er zu einem Drittel drin, wird er einem aus der Hand gezogen und ist augenblicklich verschwunden.

Dann stellen wir fest, daß der Rechner mit diesem Chip nichts anzufangen weiß.

Unten, aus der Messe, hören wir Schritte. Vielleicht Aldingborg. Oder Dauphin. Wer immer es ist, er kommt aber nicht rauf.

"Wahrscheinlich muß man es erst formatieren. Dateisystem drauf einrichten oder so etwas." vermutet Carola flüsternd. Sie tippt ein:


        $man format

Und es gibt tatsächlich einen Manualeintrag über die Formatierung dieser Speicherchips.

Das Formatierungsprogramm würde allerdings den gesamten Speicherplatz überprüfen, und das würde Stunden dauern. Aber, so lesen wir, man kann ein Dateisystem mit reduzierter Größe einrichten. Das geht dann schneller. Den Rest kann man später immer noch formatieren. Das Formatierungsprogramm vermerkt auf dem Chip, welche Speicherbereiche noch nicht geprüft wurden.

"In unseren Kabinen wären wir unbeobachtet, und einen Terminalanschluß mit Laufwerk haben wir da auch." sagt Carola. Ich halte den Mund, weil ich weiß, daß sie genausogut wie ich weiß, daß eine Teamarbeit in den Kabinen nicht möglich ist. Dazu sind sie zu klein.

"Habe ich das richtig verstanden, daß man nachweisen kann, daß ihr diese Dateien heute gelesen habt?" fragt Irene besorgt.

"Ja. Gelesen oder kopiert. Aber ob wir das erfolgreich dechiffriert haben, das kann man nicht erkennen. Unser großer Unbekannter kann das jedenfalls nicht. - Wir wissen ja ohnehin schon, daß er nicht besonders viel von Cryptologie versteht."

Was mir viel mehr Sorgen macht, sage ich nicht: Jetzt richten wir auf diesem Chip ein Dateisystem ein, kopieren diese verschlüsselten Dateien drauf, und dann finden wir nicht raus, wie man den Rechner überzeugt, daß er uns diese Chips zurückgeben soll.

"Macht schnell." drängelt Irene.

"Wieviele Kopien?" fragt Carola.

"Für jeden eine." schlage ich vor, "Falls einer der 36-64-er verloren geht."

"Gut. Ich habe zwei weitere Shells aufgemacht. Steckt eure Dinger da bei mir rein!"

Pikante Wortwahl, aber jetzt ist nicht die Zeit, darauf hinzuweisen. Carola's Terminal kann, wie jedes Terminal hier, gleichzeitig auf acht solchen 36-64-er Chips arbeiten.

Aus der Messe kommen schon wieder Geräusche. Ich gehe ein paar Schritt in die Richtung der Niedergänge und lehne mich an einem der Mittelpfeiler. Immer noch kommt niemand hoch.

"Fertig!" sagt Carola und nimmt die drei Chips aus den Laufwerken heraus.

"Wie hast du das denn gemacht? - Ich meine, daß er die Chips wieder herausrückt?"

"'unmount', natürlich!"

"Ach ja, natürlich. Hätte ich mir denken können!"

"Gehen wir jetzt endlich?" fragt Irene.

"Ja, jetzt gehen wir. Wie schaltet man die Bildschirme aus?"

"Weiß ich noch nicht. Tun sie vielleicht von selber. Ich melde mich ja gerade ab. Mußt du auch noch tun!"

Als wir wenig später wieder den Niedergang zur Treppe herabsteigen, kommt zufällig gerade Aldingborg in die Messe. "Haben Sie alles gefunden, was sie gesucht haben? Tolles System, was! - Ich sage Ihnen, man braucht Wochen, bis man weiß, welche Möglichkeiten man hier hat! Monate!"

"Jaja," sage ich, "aber müd sind wir. Jetzt gehen wir heim!"

Die ganze Zeit, während wir aus der vorderen Hauptluke heraussteigen, über das Boot und die Gangway zu der Treppe am Kai hinüberturnen und dann durch den nachtdunklen Hafen nach Hause gehen, überlege ich, welche Spuren wir auf dem System hinterlassen haben. Auf jeden Fall die Dateizugriffsattribute.

"Ich hätte ein 'touch' auf alles im Verzeichnis '/etc' machen sollen!" sage ich, als Carola plötzlich stehen bleibt.

"Fällt dir reichlich spät ein! - Ich muß hier rüber!"

"Wo wohnst du denn?"

"Im 'Habour Lights Motel', da hinten!"

"Ah. Im Habour Lights! Das kenne ich! Da bin ich vor 20 Jahren abgestiegen! Da hatten die gerade aufgemacht. Ich glaube, das hat damals 10 Pfund für eine Nacht gekostet!"

"Dafür würdest du heute gerade mal ein paar Worte mit der Rezeption wechseln dürfen!"

"Das denke ich mir! - Also, bis morgen!"

Als Carola in dem dunklen Zwielicht des Hafens verschwunden ist, fragt Irene: "Was ist 'ein touch machen'?"

"Das 'touch' ist ein Systemprogramm, mit dem man die Dateiattribute so verändern kann, als sei die Datei gerade geschrieben und gelesen worden. Sie wird aber dabei sonst nicht verändert. - Wenn wir das eben gemacht hätten, dann wäre es nicht mehr möglich gewesen, herauszukriegen, daß wir eben diese Dateien kopiert haben, weil nämlich alle Dateien so aussähen, als seien sie gerade eben manipuliert worden."

"Das hätte doch viel zu lange gedauert! Das waren doch Tausende von Dateien!"

"Zehntausende sogar. Oder noch mehr - ich weiß ja nicht, wieviele Dateiverzeichnisse wir gar nicht zu Gesicht bekommen haben. Aber da gibt's in jedem UNIX ein paar Abkürzungen. Das wäre eine Sache von wenigen Sekunden gewesen."

Irene denkt eine Weile nach.

"Da hättet ihr wirklich dran denken können!" sagt sie schließlich.

Auf dem Nachhauseweg durch das verschlafene Ullapool sehe ich mich häufiger als notwendig um. Nicht, daß ich damit rechne, daß uns jemand folgt. Warum sollte uns jemand folgen? Niemand kann ein Grund dazu haben. In diesem treibenden Schneeregen schon gar nicht.

Aber daß wir niemanden sehen, sagt überhaupt nichts - sogar die Leute, die auf das Boot und diesen Abschnitt des Kais aufpassen sollen, halten sich sehr geschickt verborgen.

Irgendwo, über den Bergen im Nordosten, liegt das Geräusch schwerer Motoren. Es ist nur ganz schwach zu hören, schwellt an und ab. Bewegung der Geräuschquelle oder Beugungsphänomen? Sind es LKW? Panzer? Helicopter? Ich weiß nicht. Aber es ärgert mich. Schottlands Berge sollten nicht in Motorenlärm getaucht werden.

Es klingt irgendwie drohend.


Copyright © Josella Simone Playton 2000-09-15 14:00:00



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