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9. Paläontologie und Xonchen
Die nächsten Wochen und Monate wurden rasch zu einer Routine, wie immer, bei jedem noch so spektakulären Projekt. Mir war das nichts Neues. Ich hatte schon öfter bei besonderen Projekten mitgearbeitet.
1982 zum Beispiel habe ich mich dem Ada-Compiler-Projekt angeschlossen. Damals war es durchaus nicht sicher, daß man für diese Programmiersprache einen Compiler würde bauen können. Wir - und viele andere Teams in der ganzen Welt - zeigten, daß es doch möglich war. Gescheitert ist das Projekt später an ganz anderen Dingen, aber zu Anfang war es doch ein bißchen wie die Mitarbeit am Mondprogramm der Amerikaner in den Sechziger Jahren. Es war etwas Besonderes - die Kathedrale unter den Programmiersprachen, wie manche ihrer Verfechter sich ausdrückten. Dagegen war FORTRAN ein Werkstattschuppen, BASIC ein Kinderzimmer, COBOL ein Lohnbüro, und C und PASCAL ein Zweckbau einer Universität. Erst mit C++ ist dann wieder eine wirklich konzeptionell ernstzunehmende Programmiersprache erschienen, an deren Implementierung ich leider nie selbst mitgearbeitet habe.
In der täglichen Arbeit verschwindet das Besondere, und es bleibt die Arbeit. Manchmal auch die Langeweile. Die Erfahrung machten wir auch jetzt wieder.
Wir waren Lehrer und Schüler. Lehrer für Xonchen. Schüler für fast alles andere. Paläontologie zum Beispiel. Tutor für die meiste, Gott sei Dank nicht für die ganze Zeit: Dr. Thomas Reinhardt. Es war nicht direkt angenehm. Besonders zu Anfang ließ er gerade mich immer wieder spüren, wie entsetzlich wenig über das Thema ich doch wußte. Und uns wurde klar, wie entsetzlich langsam man in unserem Alter noch neue Stoffe aufnimmt, wenn das Interesse so stark nicht ist. Weil Reinhardt eben nicht der Mann war, der die Spielregeln als das Wesentlichste auffaßte, sondern die Bauklötze, bestand sein Unterricht aus der Vermittlung einer Menge von Fakten. Ich denke, ein Studium einer so systematischen Wissenschaft wie die Physik oder die Mathematik hätte Reinhardt nicht geschafft. Nicht mit diesen Denkgewohnheiten. Aber natürlich muß es in einer arbeitsteiligen Industriegesellschaft jede Art von Denkgewohnheiten geben.
Schade nur, daß so viele Mitmenschen dazu neigen, ihre eigenen Denkgewohnheiten für allgemeinverbindlich zu halten.
Dann: Die Baupläne der CHARMION. Vorwärts, rückwärts, in allen Ebenen. Als ob wir in die Lage versetzt werden sollten, das Boot auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen. Und das betraf nicht nur die sichtbare Einrichtung, sondern sogar die Software, die allerdings so umfangreich war, daß wir nur über einen kleinen Teil etwas erfuhren. Der Name CHARMION blieb übrigens. Ich konnte nichts dagegen tun. Vielleicht, dachte ist, ist es auch immer noch besser, als wenn sie das Boot OSONT genannt hätten.
Das Vertrautmachen mit der CHARMION wurde dadurch kompliziert, daß sich, zum Einen, die Baupläne immer noch änderten, denn sie wurde ja zu dieser Zeit für zivile Operationen umgerüstet. Nicht nur das. Die militärische CHARMION war auf den Weltmeeren zu Hause, und nur dort. Die zivile CHARMION mußte auch in Süßwasser manöverieren können, und, wenn nötig, in Wasser mit wesentlich höherem Salzgehalt als der Ozean. Auch das erforderte Modifikationen - Ein Gegenstand von 1700 Tonnen Wasserverdrängung hat schließlich in Meerwasser einen um etwa 34 Tonnen größeren Auftrieb als in Süßwasser.
Und zum Anderen waren die Baupläne nicht vollständig. Da waren Dinge, die wir nicht zu sehen bekamen. Zunächst dachte ich an die Dinge, die rein militärisch genutzt werden, und die jetzt ausgebaut wurden, um zivilen Einrichtungen Platz zu machen. Aber das war es nicht - die Hauptmaschinen zum Beispiel, über die bekamen wir überhaupt keine Pläne. Und die wurden definitiv nicht ausgetauscht. Indirekt konnte ich erschließen, daß es sich um einen Reaktor handeln mußte. Ungewöhnlich für ein Schiff mit nur 1700 Tonnen Wasserverdrängung, aber das ist doch kein Grund, so etwas geheim zu halten, oder? Vor allen Dingen, wenn die übrige Einrichtung des Schiffes darauf schließen läßt, daß an Energie kein Mangel sein wird, und das offenbar für unbegrenzte Zeit. Außerdem fand ich bei den Elektrolyseeinrichtungen Geräte, die Schwerwasser aus dem elektrolysierten Wasserstoff gewinnen sollten, und wozu braucht man wohl Deuterium, wenn nicht als Moderator für einen Reaktor?
Damals dachte ich übrigens noch, daß es nur Gründe der technischen Umrüstungen waren, daß wir weder die gesamte Software noch die gesamten Baupläne vollständig kennenlernten. Vielleicht noch Organisationsfehler, und natürlich Zeitmangel - niemand lebt lange genug, um jede Schraube und jede Maschineninstruktion in einem solchen technischen Gerät wie einem U-Boot kennenzulernen. Inzwischen weiß ich, daß uns absichtlich eine Reihe von Dingen vorenthalten wurden. Und keiner von uns hat es gemerkt. Wenigstens nicht, solange wir noch in München waren.
Wir bekamen jetzt schon unser Bordpäckchen - oder wie man die Bordkleidung nennt. Eine Art praktischer Overall in Grün - eine Spur grüner als das Olivgrün, das ich vor einem Vierteljahrhundert bei der Bundeswehr so schätzen gelernt habe - jeder Overall mit Brustschildern und Schulterzeichen bestickt, die den Namen des Schiffes und den Namen des Trägers zeigten. Funktionsbezeichnungen würden später angebracht werden, so erfuhren wir, und weiterhin wurde es uns auch freigestellt, diese Spezialkleidung jetzt schon zu tragen oder auch nicht, solange wir noch in München arbeiteten. Das war auch gut so. Ich trug es nicht, Irene tat es nicht, und Carola auch nicht. Die meisten taten es noch nicht, trotz der vielen praktische Taschen in diesem Overall. Irgendwie wäre man sich in der S-Bahn seltsam vorgekommen, wenn jeder auf meiner Brust lesen kann:
C H A R M I O N Herwig Homberg
Weiße Schrift, auf samtschwarzem Grund, das Ganze auf dem grünen Stoff aufgestickt. Unauffällig auffällig. Was hätte man denn sagen sollen, wenn man gefragt wird? Schließlich hatten wir doch den Mund zu halten. Eigentlich.
Außerdem erfuhren wir, wie wir an Bord unterkommen würden. Es würde natürlich nicht mehr so schlimm sein wie seinerzeit auf den U-Booten im Zweiten Weltkrieg. Also, es würde niemand gezwungen sein, auf Torpedorohren oder unter den E-Maschinen zu schlafen. Es gab Kabinen - ein bißchen geschickter ist der Raum auf der CHARMION schon ausgenutzt worden.
Aber es gab wahrscheinlich keine Einzelkabinen. Zumindestens Platz zum Schlafen sollte an Bord doppelstöckig genutzt werden. Also Doppelkabinen für jeden. Es gab zwar noch ein Denkmodell, das etwa darauf hinauslief, daß Einzelkabinen eingebaut würden, die einen winkelförmigen Querschnitt hatten, so daß die Betten von benachbarten Einzelkabinen sich tatsächlich übereinander befanden, aber nicht zu derselben Kabine gehörten. Das wäre fast so platzsparend wie Doppelkabinen gewesen. Wie ich erfuhr, war auch noch nicht restlos entschieden, in welcher Weise die Umbauten nun erfolgen würden. Vielleicht würde es sogar eine Hybridlösung geben, die aber dann den Nachteil hätte, daß es an Bord, was die Kabinenunterbringung betrifft, eine Zweiklassengesellschaft geben würde. Wir konnten fast nichts anderes tun als abwarten und auf das wegen der Größe der CHARMION technisch Machbare zu hoffen. Ich schrieb ein Memorandum an die Projektleitung in Brüssel, um meine Vorliebe für Einzelkabinen und deren Vorteile anzumelden, aber ich erhielt darauf nicht einmal eine Antwort.
Wenigstens kriegte ich schon am Tage der Einführungsveranstaltung heraus, wie sie Carola geködert hatten. Wir reden während einer Kaffeepause zwischen den Vorträgen länger miteinander.
Ich hätte es mir denken können. Sie fühlte sich in ihrem Beruf festgefahren, genau wie ich. Wer nach zehn Jahren Zugehörigkeit zur Firma nichts geworden ist, so heißt es, der oder die wird auch nichts mehr. Das traf auf sie genauso zu wie auch auf mich. Und wenn man karrieremäßig so festsitzt, dann nützt einem fachliche Kompetenz gar nichts. Wie sowieso Fachkompetenz in unserem Hause nicht gerade das Merkmal ist, das einem das Fortkommen erleichtert. Ich sage immer, man muß in der richtigen Seilschaft drin sein. Gewisse soziale Kontakte pflegen. Die richtigen Leute kennen. Aber doch nicht unbedingt etwas von Informatik verstehen. Wer lange genug im Hause ist, der pflegt mir zuzustimmen - wenn es sich um einen Sachbearbeiter handelt.
Die Carola hätte auf das Fortkommen noch etwas mehr Wert gelegt als ich. Und genau das hat man ihr in Aussicht gestellt. Ein gut bezahlter Job im europäischen Innenministerium. Welchen genau, das weiß sie nicht. Aber wenn dieses Projekt ein Erfolg wird, das weiß sie, dann ist man nicht mehr auf Versprechungen angewiesen. Dann bekommt man überall etwas. - Versprechungen von Vorgesetzten, das weiß sie so gut wie ich, sind der Komperativ des Begriffes 'Lüge'.
Eine indirekte Drohung hat man bei ihr nicht versucht. War wahrscheinlich nicht nötig.
Nicht an diesem Tag, aber doch bald darauf brachte ich dann das Thema auf den Punkt, der mir besonders am Herzen lag: Sollte man denn überhaupt mitmachen?
"Ja wieso denn nicht?" fragte Carola zurück, "Und wieso fragst gerade du das? Du hast das Ganze doch in die Wege geleitet!"
Sie kennt meine Einstellung zum ungehemmten Pronatalismus. Sie versteht ihn vielleicht sogar noch eher als die Irene, sieht aber selbst kein Problem darin. Wahrscheinlich glaubt sie, daß gesellschaftliche Lernprozesse das Ruder weltweit noch rechtzeitig herumreißen werden, bevor es soweit kommt, daß der ganze Planet eine einzige Müllkippe ist, auf der 20 Milliarden Menschen zu leben versuchen.
"Natürlich habe ich das," sage ich, "aber du weißt genau, daß ich das nicht ganz freiwillig getan habe. So aufmerksame Leser habe ich mir nicht gewünscht!"
"Wenn das hier vorbei ist, was meinst du, wieviele Bücher du dann verkaufen wirst!"
"Dieses Argument habe ich schon gehört! Aber wie wird es dann den Granitbeißerinnen gehen?"
"Wenn wir in einer übervölkerten und verschmutzten Umwelt leben, warum sollten sie ein Recht auf etwas Besseres haben?"
Ich bin einen Moment sprachlos. "Glaubst du das wirklich?"
"Sonst müßte man, zum Beispiel, die beiden Amerika wieder den Indianern zurückgeben. Genaugenommen."
"Genaugenommen müßte man das tun, ja. Habe ich nie bestritten. Nur wird das nicht mehr gehen. Schon deshalb nicht, weil man die 70 Millionen, die seit Columbus umkamen, kaum wieder zum Leben erwecken kann. Aber die Kolonisierung der Welthöhle kann man vielleicht noch aufhalten."
"Und so die Menschenfresserei unter Naturschutz stellen!"
Mit Carola kann man gut streiten, weil, ganz gleich, welchen Standpunkt man vertritt, sie nimmt immer den Standpunkt der Opposition ein. Manchmal ist das dann gar nicht ihr ureigenster Standpunkt. Bei dem vorliegenden Problem geht sie aber offenbar davon aus, daß sie sich eben entschieden hat, mitzumachen, und damit darf die Sache als Ganzes nicht mehr in Frage gestellt werden, um so mehr, da sie weiß, daß eigentlich ich beim Infragestellen der allererste bin.
Außerdem hat sie inzwischen die 'Bibel' ein zweitesmal gelesen. Die 'Bibel', das ist im Projektsprachgebrauch mein Buch. Da kann sie fast alles belegen, was sie denkt, und das Gegenteil auch. Wenn ich noch einmal ein Buch schreibe, dann werde ich es etwas mehr auf formelle Widerspruchsfreiheit überprüfen. Oder ganz auf persönliche Meinungen verzichten. Oder es ihr nicht zu lesen geben.
Das Sabotieren des Projektes kommt für sie jedenfalls nicht in Frage. Da steht viel Geld dahinter, das viele Menschen erarbeitet haben. Geld ist Lebenskaft von Menschen, sagt sie. Diese Lebenskraft hat ein Recht auf Resultate. Auch, wenn es zum Nachteil der Granitbeißerinnen ist, frage ich. Das muß ja nicht sein, sagt sie. Wird es aber, sage ich. Wie kann das sein, sagt sie - natürlich, wenn die Welthöhle flächendeckend 'zivilisiert' worden ist, dann gibt es dort keine Menschenfresserei mehr. Keine Vollstreckungskreuze. Das müßte doch in meinem Sinne sein, oder? Keine Vollstreckungskreuze?
Ich gebe auf. Ich muß meine Bedenken präziser formulieren. Alles, was ich ökologisch sagen könnte, wird auf die Reduzierung der Lebensräume von ein paar Sauriern um ein paar Prozent umgedeutet werden, und dagegen dürfe ich ja nichts haben. So ähnlich wird die Argumentation laufen. Und alle möglichen Parallelen zur Eroberung der beiden Amerika in den letzten fünf Jahrhunderten bleiben Möglichkeiten unter vielen. Und ebenso alle möglichen Parallelen zum Aus-dem-Ruder-Laufen unserer eigenen Ökosphäre, das wir gerade erleben. Bis dies alles eingetreten und sich manifestiert geworden ist. Bis es zu spät sein wird.
Dabei braucht man doch eigentlich gar keine Phantasie, um dies alles einzusehen, sondern nur offene Augen.
Das Gespräch nimmt danach eine unverbindliche, weniger grundsätzliche Wendung. Ich erfahre noch, daß jemand Carola erzählt hat, daß man jemanden aufgetrieben hat, der diese Kerzen-Illuminierung, die ich vor fast dreißig Jahren in der Jettenhöhle im Harz veranstaltet habe, selbst gesehen hat. Wahrscheinlich hat derjenige Leser direkt den Verlag angeschrieben, und ich habe aus irgend einem Grunde nichts davon erfahren. Carola meint, daß auch solche Dinge die Beweiskraft meines Romanes erhöht haben. Das halte ich aber für völlig falsch, denn bei einem fiktiven Roman könnte ich ja richtig autobiographische Dinge untergemischt haben. So fiktiv kann ein Roman ja gar nicht sein, als daß nicht elementare, autobiographische Dinge drin sind: Das Beherrschen der betreffenden Sprache, Alltagssituationen. Carola zuckt die Schultern. Diesmal weiß sie kein Gegenargument. Die Einzelheiten des Schriftstellerhandwerkes interessieren sie auch nicht so besonders, und sie ist im Moment auch gar nicht an einer so richtig kontroversen Diskussion interessiert.
Sie ist so ein bißchen in der Neue-Horizonte-tun-sich-auf-Euphorie befangen. Ich kann es ihr nicht einmal verdenken - das ist unvermeidlich, wenn man im Begriff ist, etwas ganz anderes zu tun als das ganze bisherige Leben. Sie wird schon noch merken, daß es auch hinter neuen Horizonten Fußpilz gibt. Wie wir alle es merken werden.
Die Irene macht in der Hauptsache Xonchen-Unterricht. Es wird ihr schon bald Routine, da sie eine weitergehende Teilnahme am Projekt nicht wünscht. Sie weiß noch nicht einmal, ob sie während unserer Mission in Ullapool wohnen wird oder hier. Naja, sie wird ja auch ein paarmal hin- und herreisen können, so alternativ ist die Entscheidung also gar nicht. - Außer ihrem Xonchen-Unterricht bleibt sie immer, genau wie ich, als Experte für die Welthöhle in Rufweite. Wenn immer jemand eine Frage hat, die aus dem Buch heraus nicht beantwortet werden kann, dann wird einer von uns direkt befragt werden.
Im Übrigen lernte ich im Laufe der Zeit die meisten weiteren Projektmitglieder kennen. In der ganzen Zeit in München war aber noch nicht restlos entschieden worden, wer nun mitfahren würde und wer nicht.
Dafür wurden wir über die weiteren geologischen Untersuchungen am Loch Broom auf dem Laufenden gehalten. Diese sahen vielversprechend aus: Die Einwohner von Ullapool lebten auf Höhlen und wußten es noch gar nicht! - Ich meine, auf bescheidenen Höhlen nahe der Erdoberfläche. Auf der Welthöhle lebt ja ganz Mitteleuropa, und niemand weiß davon. Noch nicht.
Diese Höhlen, die bei Ullapool und die Welthöhle, waren für unseren Lehrer für Geologie und Geophysik zweifellos am interessantesten. Doktor Gerald Amurdarjew war Geologe und Geophysiker. Er stand noch ganz am Anfang seiner Karriere und war erst 33 Jahre alt. Wir erfuhren, daß er eine Habilitation in Göttingen unterbrochen hatte, weil er sich, im Gegensatz zu Reinhardt, diesem Unternehmen mit fliegenden Fahnen angeschlossen hatte.
Im Gegensatz zu dem, was sein Nachname suggerierte, sah Amurdarjew wie ein normaler Mitteleuropäer aus, Typ nicht mehr ganz junger, aber sympathischer, offener und vertrauenerweckender Jugendlicher. Er sah so ähnlich aus wie Neil Armstrong zur Zeit seiner Mondlandung. Von seinem privatem Umfeld erfuhren wir zunächst kaum etwas. Er kam jedenfalls nicht aus Russland, und er konnte auch kein Russisch.
Natürlich war man an ihn zuerst herangetreten. Und das kam so: Er hatte, ohne andere Absichten als der Wunsch nach bloßer Unterhaltung, mein Buch in einer Bahnhofsbuchhandlung gekauft. Ein Zufall - er hätte auch ein anderes aus dem Regal nehmen können. Da waren ein paar Dienstreisen nach Mailand, und da fährt der ICE ganz schön lange. Er wollte also nur leichte Unterhaltung.
Mit der leichten Unterhaltung war es nichts. Es ging ihm so, wie ich vermutet hatte, daß es einem Geologen als Leser gehen würde: Erst Unglauben. Skepsis. Nachsichtiges Lächeln über die Autorin. Stellenweise schallendes Gelächter. Vielleicht auch stellenweise Verärgerung.
Und dann ließ es ihn nicht mehr los: Was wäre, wenn? Ginge es nicht doch? Und wie? Man müßte es näher durchdenken.
Amurdarjew war durchaus mit den numerischen Simulationsmethoden seiner Wissenschaft vertraut. Er kannte die verschiedenen Modelle der Konglomeration planetarer Körper und alle gängigen Vorstellungen über die Strömungsvorgänge im Erdmantel und deren Auswirkungen auf die Kontinente und den Meeresboden. Es war gerade die Zeit, wo in der Geologie die prähistorischen Magma-Plumes diskutiert wurden, jene heißen Magmaströme, die sich vom Erdkern ablösen und nach oben driften und dann in einem begrenzten Gebiet für eine gewisse Zeit einen solch heftigen Vulkanismus auslösen, daß dieser als Ursache für prähistorische Massenextinctionen in Frage kam. Auch an diesen Theorien hatte er gearbeitet.
Und er hatte sich immer noch eine gesunde Portion Neugier bewahrt, die einem im modernen, universitären Wissenschaftsbetrieb ja normalerweise rasch abhanden kommt, weil man ständig damit beschäftigt ist, den nächsten Vertrag an Land zu ziehen und besetzbare Positionen auszuspähen - an deutschen Universitäten hat man für die echte wissenschaftliche Neugier ja nun wirklich keine Zeit.
Er hatte auch einen eigenen, schnellen Rechner. Es war für ihn keine große Tat, ein paar vereinfachende Annahmen zu machen und eine einfache, parametrisierbare Simulation zu programmieren. Natürlich sieht ein solches numerisches Modell etwas anders aus, wenn man auf etwas Bestimmtes hinarbeitet. Dann kann es durchaus schon passieren, daß so ein Modell in dieser Form noch von niemandem durchgerechnet worden ist. Und daß Dinge rauskommen, die bisher bei numerischen geologischen Experimenten noch nicht beobachtet wurden.
Amurdarjew fand die Bildung von Welthöhlen. Sie traten bei einer bestimmten Kombination von Parametern auf: Wassergehalt der Litosphäre, bestimmte chemische Zusammensetzung des Gesteins, bestimmte Menge der Energieerzeugung im Erdkörper durch radioaktiven Zerfall und so weiter. Auch die Magma-Plumes spielten eine Rolle. Zwar sahen die Dinge, die er auf der graphischen Bildschirmdarstellung dieser Simulationen beobachtete, noch etwas fremdartig aus. So gelang es ihm zum Beispiel nicht, die Bildung dieser mächtigen Säulen aus gewachsenem Fels zu erklären, die wir überall in der Welthöhle beobachtet haben. Aber die Möglichkeit der Bildung von langgestreckten Höhlen mit Volumina von Tausenden von Kubikkilometern wurde erhärtet.
Der Mechanismus, der bei diesem Modell die Welthöhlen bildete, mußte natürlich noch nicht genau derselbe Mechanismus sein, der in der geologischen Wirklichkeit am Werke war. Es handelte sich in der Simulation im Wesentlichen um gewaltige Gasvulkane, die in prähistorischer Zeit gebildet worden waren und die in einigen Fällen nicht die Erdoberfläche durchbrochen hatten.
An so ungefähr diesen Mechanismus hatte ich ja auch schon gedacht. Aber Amurdarjew bremste uns: Die für dieses Problem notwendige Rechenleistung hatte sein Rechner nicht. Er hatte in sehr großen Integrationsschritten rechnen müssen. Genaugenommen könnte das, was er herausgekriegt hatte, auch der purer Blödsinn sein. Könnte. Mußte nicht.
Wenn ein Wissenschaftler so etwas findet, dann gibt es immer die naheliegende nächste Aktion: Veröffentlichen. Aber wer veröffentlicht so etwas weit hergeholtes? Andererseits - wenn an dieser Welthöhle etwas dran war, wenn es sie also wirklich gäbe, wie die Autorin an mehreren Stellen suggerierte, dann wäre er schon gerne der erste, die die geologische Realität dieser Welthöhle in der Fachpresse diskutierte. Nur würde das nicht möglich sein - kein ernsthaftes wissenschaftliches Blatt würde so etwas abdrucken. Er hatte ja keine Fakten in der Hand, und etwas aus einem Fantasy-Roman zu analysieren ist ja reichlich unseriös.
Ausgenommen in der Aprilausgabe. Er verkaufte es an ein renomiertes, geologisches Journal - ich weiß nicht welches - als durchdachten Aprilscherz. Die Redaktion nahm es mit Handkuß.
Jemand irgendwo im Innenministerium der EG laß durch Zufall diesen Artikel - und schon war Amurdarjew in diesem Projekt. So schnell geht das.
Mit Gerald Amurdarjew verstand ich mich eigentlich ganz gut. Er war offen für Neues. Findet man auch unter Wissenschaftlern nicht allzu häufig. Natürlich war sein Hauptinteressengebiet die Geologie. Aber er redete mit uns nicht so, daß man das Gefühl hatte, man müsse sich ständig verteidigen. Und es wäre ihm gleichgültig gewesen, wenn ich nicht den Unterschied zwischen Basalten und Sedimengesteinen gekannt hätte - wo notwendig, hätte er mir eben das Nötige erklärt. Er war kein Pabst der Wissenschaft. Ein himmelweiter Unterschied zwischen ihm und Reinhardt.
Dann war da noch Doktor Mary Morton, eine Irin, erwähnenswert. Auch sie würde definitiv Mitglied der Expedition sein. Hauptaufgabe natürlich medizinische Betreuung des Teams. Darüber hinaus Mitarbeit an den biologischen Untersuchungen, die in der Welthöhle anfallen würden.
Als ich das erste Mal ihren Namen erfuhr, erinnerte ich mich an eine Mary Morton, die ich 1983 auf einer Radtour durch Irland kennengelernt hatte. Auch diese war, nach ihren eigenen Aussagen, Ärztin gewesen. Sie war damals 25 Jahre alt. Alter, Nationalität und Beruf stimmten also überein.
Aber diese Mary Morton war eine andere. Aussehen und Wohnort passten nicht. Diese kam aus Cork, jene aber wohnte seinerzeit in Dublin und hatte die Absicht gehabt, nach Sligo zu ziehen.
Diese Mary Morton meinte, ohne weiteres feststellen zu können, wo jene, die ich damals kennengelernt hatte, abgeblieben sei. Da gibt es ein Register aller zugelassenen Ärzte in Irland, vermute ich. Aber diese Mary Morton brachte in Erfahrung, daß es eine andere Ärztin des gleichen Namens nicht gab. Jedenfalls nicht in Irland. - Ich legte diese Information erst einmal zu den Akten.
Unsere Dr. Morton war blond, geschieden und sie hatte harte Linien im Gesicht. Sie muß mal hübsch gewesen sein, und vielleicht hat sie mal ein Alkoholproblem gehabt. Für so etwas habe ich einen Blick. Diese Phase muß sie aber überwunden haben. Ihre Haltung dem Projekt gegenüber war indifferent. Keine Begeisterung, aber auch keine Ablehnung. Sie lehrte uns die kleine Notfallchiurgie, also erste Hilfe, Verbände anlegen, Wunden sanieren und schließen. Was man eben so braucht.
Auch sie hatte mein Buch lesen müssen, und das war Anlaß genug, sich mit ihr darüber zu unterhalten, was passiert wäre, wenn Osont mich damals, in der Welthöhle, tatsächlich gezwungen hätte, bar aller chiurgischen Kenntnisse eine Appendektomie zu unternehmen. Die Chancen wären sogar für einen ausgebildeten Arzt unter den beschriebenen Bedingungen schlecht gewesen, meinte sie, besonders, da der betreffende Mann - Obanque hieß er, glaube ich - später ja ohnehin gestorben ist, und zwar unter Bedingungen, die ein ganz anderes zugrunde liegendes medizinisches Problem als Appendizitis vermuten lassen.
Ob sie es schaffen würde, fragte ich. Sie meinte ja. Vorausgesetzt natürlich, sie hätte ein paar leidlich sterile Schneidwerkzeuge, heißes Wasser in Reichweite, und einen Patienten, der tatsächlich Appendizitis hat. Außerdem müßte sichergestellt werden, daß die Gaffer, die in dieser Situation rundherum das Geschehen verfolgt hätten, ihren Nasendreck und wer weiß was sonst nicht gerade in die Wunde fallen lassen würden, und daß das Schiff leidlich ruhig liegen würde. Ohne Komplikationen würde sie den Patienten wahrscheinlich durchbringen.
Dann sagt sie aber auch, daß man, unter den beschriebenen klimatischen Bedingungen, dem Patienten mehr zu trinken hätte geben müssen, insbesondere, da eine Operation ja nicht erfolgte. Aber ich solle mir keine grauen Haare darüber wachsen lassen, sagt sie - kein Arzt hätte das Privileg, nach einigen Berufsjahren immer noch das Bewußtsein haben zu dürfen, noch nie Fehler gemacht zu haben. Es gibt Berufe, sagt sie, die das gute Gewissen nicht eingebaut haben. Ärzte haben es jedenfalls nicht. Und Welthöhlen-Entdecker wohl auch nicht.
Mit der letzten Bemerkung hat sie zwischen uns eine Brücke gebaut, die vielleicht noch lange hält.
Von den weiteren Projektmitarbeitern, die sich der Expedition anschließen würden, fielen mir einige zunächst wenig auf. Da war zum Beispiel eine Natalie Yay, die etwa so um die 25 alt sein mußte - viel jünger kann man mit einem Universitätsabschluß in Biologie eigentlich nicht sein. Sie sah unheimlich gut aus - jedenfalls auf den ersten Blick. Ungemein üppige, weibliche Formen, volles, langes, brünettes, mit einigen blonden Strähnen durchsetztes Haar, ein mädchenhaftes und undifferenziertes und manchmal offenes Gesicht. Die Art von Frauen, die man nicht beschreiben kann, ohne die Hände zu benutzen. Deren bloßer Anblick einem den Saft in die Lenden treibt. Sie hätte auch für den PLAYBOY posieren können.
Hätte sie es doch getan. Ihr Aussehen war nämlich das einzige, was bemerkenswert war. Ich hörte nie eine originelle Bemerkung von ihr. Immer waren es nur irgendwelche, aus der Situation heraus verständliche Floskeln. Oder war sie nur gehemmt, was man auf den ersten Blick nicht gleich erkennen konnte? Wenn man ihr zuhörte, käme man nicht auf die Idee, daß sie mal studiert haben könnte. Im Xonchenunterricht war sie das Schlußlicht, was aber nicht viel besagte, weil die durchschnittlichen Lernleistungen gut waren - Die Projektmitarbeiter hatten einen durchschnittlich hohen Standard, und das ließ die Yay leistungsmäßig eben nicht besonders aussehen - objektiv war sie im Mittelfeld. Aber bei uns wurde es hinter dem Mittelfeld eben leer.
Ich verstand nicht, wer sie für die Expedition ausgewählt hatte und warum. Aber in diesem Punkte waren die letzten Entscheidungen ja noch nicht gefallen. Vieleicht gab es eine Warteliste mit Lückenspringern, und vielleicht gehörte sie dazu. Ich wußte es nicht. Nach den ersten paar Versuchen vermied ich jeden Kontakt mir ihr, und sie suchte keinen mit uns. Mit keinem von uns. - Ja, das war doch am bemerkenswertesten: Sie hatte keine Neugier. Die meisten anderen Projektmitarbeiter wollten wenigstens einmal mit uns, also mit Irene und mir, gesprochen haben, mit den Menschen, die tatsächlich selbst in der Welthöhle gewesen und von dort lebendig zurückgekehrt sind. Natalie Yay wollte das nicht.
Sie schien Britin zu sein. Aber sogar die Aussicht, mein Englisch zu trainieren, brachte mich nicht dazu, ihre Nähe zu suchen. Außerdem ist so etwas kompliziert, wenn die Irene in der Nähe ist: "Die gefällt dir wohl!" zischte sie einmal, als ich meine Augen länger als ein paar Sekunden auf Natalie verweilen ließ. Ich zischte zurück und sah dann gehorsam woanders hin. - Man hat ja so sein photographisches Gedächtnis, für manche Dinge.
Natalie's Aussehen war nichts für den Ästhetiker. Es war die Attraktion der bloßen Weiblichkeit, die, pur genossen, auf Dauer ebensowenig schmeckt wie purer Alkohol. Sie pflegte sich sehr geschickt zu kleiden, so daß ihre Formen noch unterstrichen wurden. Zurschaustellung von dem, was sie eben hatte. Ich hatte jedoch den Verdacht, daß ihre Üppigkeit schlampig aussehen würde, wenn sie nackt war - ihre Nacktheit war nicht für die Unbefangenheit im Freien, für den Strand gemacht, sondern für das Bett.
Man hätte sie einmal nackt sehen müssen - dem sportmedizinisch geschulten Blick fällt dann gleich eine ganze Menge auf. So ist es zum Beispiel ein Unterschied, ob eine Frau ihre weiblichen Formen mehr aus Muskulatur an den richtigen Stellen oder aus Fett an den richtigen Stellen rekrutiert. Insbesondere wird es zehn Jahre später ein Unterschied sein - die Muskeln werden dann immer noch an den richtigen Stellen sitzen, das Fett aber nicht. Diesen Unterschied kann man bei einer bekleideten Frau aber nicht feststellen - oder vielleicht nur sehr rudimentär: In der Art, wie sie sich bewegt, zum Beispiel. Manchmal sieht man zwanzigjährige, die trotz guten Aussehens bereits in Ansätzen den Watschelgang einer alten Oma haben.
Meiner Meinung nach sind mehr als die Hälfte aller Frauen, die sich für PLAYBOY oder PENTHOUSE ablichten lassen, dieser Gruppe zuzurechnen. Allerdings kann man das nicht nachprüfen, da beide Zeitschriften keine Vergleichsaufnahmen herausgeben, die zehn Jahre später aufgenommen wurden. Es wäre sehr instruktiv - aber weder PLAYBOY noch PENTHOUSE sind Zeitschriften für Sportmedizin oder Geriatrie.
Für Männer treffen diese Betrachtungen wohl genauso zu - aber bei Männern sehe ich selten so genau hin. Dazu kommt, daß die physische Erscheinung von Männern im Extremfall die sportmedizinische Bewertung durch Augenschein leichter in die Irre führen kann - Berge von Muskeln zum Beispiel müssen durchaus nicht auf protzende Gesundheit hinweisen, weil ein Mann solche Muskelmassen mit viel weniger Aufwand entwickeln kann als eine Frau.
Bei Frauen habe ich noch eine andere Methode gefunden, die eine Aussage über Fitness geben kann: Man nimmt das Bild einer leicht oder gar nicht bekleideten Frau und stellt es einfach auf den Kopf. Es ist wichtig, daß diese Frau auf dem Bild steht und nicht liegt oder sitzt, damit ihr Körper dem vollen Einfluß der Schwerkraft unterliegt. Wenn man sich dieses Bild dann so falsch herum ansieht, sieht man mit einem Blick, ob ihre Körperform ausgewogen ist, oder ob Hecklastigkeit deutlich wird und überhaupt alle weiblichen Rundungen dem Erdmittelpunkt zustreben. Schon weiß man wieder etwas über die körperliche Verfassung dieser Frau. Das fällt einem bei der normalen, aufrechten Betrachtungsweise nämlich gar nicht so auf.
Das Verfahren geht natürlich nur mit Photos. Von der Yay hatte ich kein Bild, daß diese Bewertung erlaubte. Das wenige, was man von ihr sah, erlaubte keine sichere Einschätzung ihres Fitnesszustandes. Blieben eigentlich nur meine Vorurteile - ich bin leicht geneigt, Menschen, die mehr auf den Schein als auf das Sein Wert legen, eine Vernachlässigung des eigenen Körpers zu unterstellen. Ein eigentlich zwingendes Vorurteil: Eine Frau, die möchte, daß ihr Busen wohlgeformt aussieht, kauft sich einen geeigneten BH. Eine Frau, die möchte, daß ihr Busen wohlgeformt ist, macht Liegestütze und Bankdrücken. Mit breitem Griff.
Wie die Yay wohl in der Bordkluft aussehen würde? Würde sie so etwas überhaupt je tragen? Das waren im Moment natürlich müßige Spekulationen.
Und bei alle dem diese Uninteressiertheit und diese gewisse Gleichgültigkeit. So, als ob sie sich zum Beispiel nur deshalb aufreizend kleidet und Makeup anlegt, weil 'man' das eben so tut. Sie hatte wohl gar nicht die Absicht, jemanden 'anzumachen'. Ihre bloß vermutete, aber, jedenfalls von mir, nie beobachtete Erotik war wie die fehlende Erotik einer Granitbeißerin. Aber da hörte der Vergleich auch schon auf. Muskeln, Gewandtheit und Kraft würde man bei Natalie ja nicht finden. Wenn sie nackt laufen würde, würde ihr ihr eigenes Fleisch ins Gesicht schlagen. - Wenn sie überhaupt in der Lage war, zu laufen.
Obwohl ich Carola's Neigung, über andere Menschen zu schwatzen, gut kenne, habe ich damals nicht mit ihr über die Yay geredet. Ich habe nicht versucht, rauszukriegen, ob ihre Vorurteile den meinen entsprechen, oder ob Carola mich wegen meiner Vorurteile über die Yay rügen würde.
Aber das mit den Vorurteilen ist so eine Sache. Manche bestätigen sich immer wieder. Langjähriges S-Bahn-Training in München und Umgebung bestätigen zum Beispiel immer wieder dieselbe Beobachtung: Wenn die S-Bahn in einen dicht bevölkerten Bahnsteig einfährt, dann halten sich die gut aussehenden Frauen immer in der Nähe des Einganges auf. Sie haben also eine möglichst geringe Strecke zur Bahnsteigkante zurückgelegt. Sie haben nicht überlegt, welche Abteile vielleicht weniger voll sein könnten - da gibt es ja in ein und demselben S-Bahnzug deutliche Unterschiede. Es ist, als ob gutaussehende Frauen immer erwarten, daß die besten Abteile der S-Bahn gerade vor ihren Füßen halten. Als ob man die kleinen Vorteile im Leben ohne Anstrengung erreichen kann, bloß, weil man eine gut aussehende Frau ist.
Mit diesen Formulierungen hätte ich mit Carola wunderbar einen Streit anfangen können. Auch, wenn ich diese Überlegungen am Beispiel von Natalie Yay ausgeführt hätte. Aber ich habe mit Carola eben nicht über sie gesprochen, und mein Vorurteil, daß die Yay zu der Gruppe von Frauen gehören würde, die sich auf einem Bahnsteig überhaupt nicht aktiv um ein leeres Abteil bemühen, für mich behalten. Streitvermeidung schont Nerven.
Das war also Natalie. Ein traumhaftes Mädchen - für feuchte Träume. Andere Träume kann ich mir mit ihr nicht vorstellen. Ein entsetzlicher Gedanke: Was macht man mit ihr, wenn man mit dem Bumsen fertig ist?
Man kann auch durch Lautstärke auffallen. Dr. Günther Cohausz, zum Beispiel. Wenige Jahre älter als ich, rothaarig, aber Westfale und nicht Ire, Chemiker, unverheiratet. Neigte zu Grundsatzdiskussionen. Neigte nicht dazu, wieder damit aufzuhören. Hat deshalb immer mal wieder Schwierigkeiten im Beruf. Freundlich. Nicht formel freundlich, sondern richtig wohlmeinend freundlich. Kameradschaftlich. Meint es gut mit allen. All das natürlich wurde ausgesetzt, wenn man mal kontroverse Standpunkte durchdiskutieren mußte. Athletisch, aber das Alter setzte seiner mehr ehemaligen Sportlichkeit bereits zu. Seine Wampe war unübersehbar.
Er hatte bunte Punkte im Gesicht. Keine Sommersprossen - er erwähnte mal, daß ihm während seiner Studienzeit in einem Chemiepraktikum etwas in der Hand explodiert war. Was es war, hat er nie erzählt, und auch nicht, warum die Hand nichts abgekriegt hat. Die bunten Punkte waren das Andenken an diesen Vorfall.
Dieser Vorfall hatte jedoch nicht sein berufliches Verhältnis zu Explosivstoffen trüben können. Tätigkeit in der pyrotechnischen Industrie, dann Bundesamt für Wehrtechnik in Koblenz. Später Wechsel zu der entsprechenden EG-Behörde. Und so kam auch er zum Projekt.
Gabi Gohlmann. 42 und geschieden. Laborantin und DV-Assistentin. Sie ist auch auf Umwegen, die ich nicht verstanden habe, zum Projekt gekommen. Ihre umfassende Ausbildung beschränkte sich immer auf den Assistentinnen-Level. Auch wenn man zugleich Chemie- und Physiklaborantin und EDV-Assistentin und Statistikerin ist, eine Kombination, nach der man auf dem Arbeitsmarkt lange suchen muß, so kommt man doch damit gehaltlich in keiner Firma weiter. So, wie ich es verstand, war ihr in der Scheidung das Haus, das sie mit ihrem Mann in Höhenkirchen erworben hatten, zugesprochen worden, was allerdings mit finanziellen Altlasten verbunden war - es war ja noch nicht abbezahlt. Wer in und um München lebt, weiß, was das bedeutet. Wenn man in der Situation ist, greift man zu, wenn einem ein gut bezahlter Job über den Weg läuft.
Gabi war klein und zierlich. Sie hatte mal erwähnt, daß sie manchmal Schwierigkeiten hat, ihr Gewicht von 45 Kilo zu halten - wenn sie nicht aufpaßte, dann nahm sie ab. Mit dieser Art von Problemen steht man natürlich ziemlich alleine da. Ich mochte sie, aber das kann ein rudimetärer Vater-Instinkt sein. Wenn es so etwas gibt. Und wenn man bei sechs Jahren Altersunterschied von so etwas reden kann.
Stephen Spaliter. 30, Biologe und Zahnmediziner. Brite. Irgendwie farblos. Frisch von der Uni weg. Der einzige Kahlköpfige im Projekt, trotz seiner jungen Jahre.
Mario Wondrachek. 34. Der Name läßt auf entweder italienischen oder polnischen Pass schließen. Aussehen tendiert nach italienisch. Alles falsch. Auch Brite. Mathematiker, Spezialgebiet Spieletheorie. Mir war rätselhaft, wie er zum Projekt gekommen ist - Spiele interesieren ihn wirklich. Die Welthöhle nicht.
Wenigstens hat er keinen Doktortitel. Das bedeutet bei mir immer ein Vertrauensvorschuß, da gerade der Doktortitel viel häufiger als das Diplom mit unredlichen Mitteln erworben wird: Vielleicht hat man schon einen Beruf, und es fehlt nur noch der Titel zum gesellschaftlichen Ansehen, das man so dringend nötig zu haben glaubt. Dann läßt man eben eine Doktorarbeit schreiben. Und wenn man in einer etwas gehobenen Stellung in einem Konzern arbeitet, etwa bei dem, der bis vor kurzem auch noch mein Arbeitgeber war, dann ist es sogar möglich, daß man die eigene Doktorarbeit von jemandem schreiben läßt und auf diese Weise nicht nur keine Zeit und keinen Intellekt investieren muß, sondern vielleicht auch kein eigenes Geld. Ein kleiner Forschungsetat für eine kleine Universität wirkt bei der Erzeugung von Doktortiteln manchmal Wunder.
Eugen Serpinski, 28, Biologe. Sein Hobby sieht man ihm an: Boddybuilding. Ein bißchen selbstverliebt, aber er soll sich hervoragend in Paläontologie auskennen und dort auch seine Diplomarbeit geschrieben haben. Es hatte etwas mit der Rekonstruktion von Muskeln bei fossilen Skelettfragmenten zu tun. Da haben sich Hobby und Berufung mal wieder ungefähr getroffen, dachte ich gleich, und wenn man mit ihm sprach - wie die meisten von uns hielt jeder auch einmal Vorträge über seine Arbeitsgebiete, wonach die Zuhörer Gelegenheit zur Diskussion hatten - wenn man mit ihm sprach, wurde man, sowie das Thema auf die Rekonstruktion von Muskeln kam, von seiner Begeisterung nahezu angesteckt. Ich habe Carola mal vorgeschlagen, daß wir einmal Eugen einen seltsam geformten Stein bringen sollten, mit der Behauptung, daß das ein Fossil sei, bewiesen durch einen Doktor so und so. Mal sehen, wo Eugen die Muskeln hinrekonstruieren würde!
Und dann war da noch Dr. Ulrich Solzbach. Deutscher, 44, abgebrochenes Physikstudium, danach Einstieg in die Medizin. Der einzige Bartträger im Team außer mir selber.
Erst mit der Zeit bekamen wir heraus, wieso er einer der schweigsamsten war. Vor einigen Jahren war seine ganze Familie bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Danach hat er seine glänzende Karriere in einer Klinik in Freiburg abgebrochen und ist eine Weile aus den Bahn geworfen worden. Später Anstellung in einem Institut in Genf, das von der EG betrieben wurde. Theoretische medizinische Forschung. Oder irgend so etwas.
Der praktischen medizinischen Arbeit ist er abhold. Das wird also schwerpunktmäßig die Aufgabe von Dr. Mary Morton bleiben. Aber natürlich wird jeder mit medizinischen Grundkenntnissen im Notfall mit Hand anlegen. Dr. Solzbach würde mehr in Richtung Paläontologie forschen, und von Meteorologie verstand er auch etwas. Das war ein Überbleibsel aus der Zeit, als seine Familie noch lebte. Da pflegte er das Drachenflughobby. Wenn man das macht, muß man etwas über Meteorologie wissen, sonst lebt man nicht lange.
Aber dieses Drachenfliegen hatte auch etwas mit dem Unfall seiner Familie zu tun. Wir erfuhren nur ungefähr, daß sich dieser schreckliche Unfall auf einer Wochenendfahrt ereignet hatte, die er, gegen den erklärten Mehrheitswillen seiner Familie, arrangiert hatte. Seine Kinder wollten schwimmen, und dazu braucht man nicht in die Berge zu fahren. Er wollte Drachenfliegen. Auf der Hinfahrt ist es dann passiert. Er selber hat keinen Kratzer abbekommen.
Danach hat Solzbach nie wieder einen Flugdrachen angefaßt. Wir erfuhren, daß er Orgel spielen konnte, eine Fertigkeit, für die er während der glücklicheren Jahre, wo seine Familie noch lebte, kaum Zeit gefunden hatte. Nun war es wieder seine Hauptbeschäftigung, wenn er nichts anderes zu tun hatte. Vielleicht seine Waffe gegen die Erinnerung. Niemand, der eines Tages auf einer Landstraße leicht benommen wieder zu Bewußtsein kommt und um sich herum die zerfleischten Reste der eigenen Familie wiederfindet - der ganzen Familie - wird je wieder ein normales Leben führen können.
In der ganzen Zeit in München haben wir nur wenige persönliche Worte mit Dr. Solzbach wechseln können, aber ich glaube, herausgefunden zu haben, warum er sich der Welthöhlenexpedition anschließen wollte: Wem der Tod bereits so zugesetzt hat wie ihm, der muß einen Sinn im Tod finden. Und wer nicht in einen metaphysischen Glauben flüchten kann, der findet den Sinn nur noch darin, in der vergleichenden Evolution zu beobachten, wie der Tod im Laufe der Äonen ganze Arten verändern kann und so die Evolution antreibt. Der Tod des Individuums, insbesondere der frühe Tod, ist eines der zahllosen Testexperimente der Evolution, um die Frage nach dem Sein immer wieder neu zu beantworten, und die weniger guten Antworten immer wieder beiseite zu räumen. Bis eines Tages wir Menschen da waren, und uns für die Ultima Ratio aller Antworten der Evolution hielten. Und den Autoverkehr erfanden.
Vielleicht ist Alfred Seltsam derjenige, der die Spielregeln der Evolution am besten kennt. Aber Ulrich Solzbach ist derjenige, der diese Kenntnis persönlich am dringensten braucht.
Copyright © Josella Simone Playton
2000-09-15 14:00:00
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